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Erinnern

    Erinnerung ist die Vorzimmerdame der Verzweiflung.
    Christian Schachinger
    Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo es ihm gefällt.
    Cees Nooteboom
    Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört weh zu thun, bleibt im Gedächtnis.
    Friedrich Nietzsche

    Erinnerungen formen sich in unterschiedlichen Hirnregionen, denn Menschen werden jeden Tag mit einer großen Menge an Informationen konfrontiert. Kurzzeit- und Langzeiterinnerungen sowie deklarative (bewusst Wahrgenommenes) und prozedurale Erinnerungen (unbewusst Wahrgenommenes) bilden sich dabei unterschiedlich, indem sich Erinnerungen nicht an einem bestimmten Ort im Gehirn formen, sondern zahlreiche Gehirnareale sind für die verschiedensten Erinnerungen zuständig.

    Bekanntlich bleiben emotionale Erlebnisse besonders lang und detailreich im Gedächtnis haften, während unbedeutende Erlebnisse, die Monate oder Jahre zurückliegen, entweder vergessen werden oder lediglich als unscharfe Erinnerungen überleben. Eotionale Erlebnissen wie einer Hochzeit, einer nicht bestandene Prüfung oder ein Unfall graben sich tief ins Gedächtnis ein und werden selbst nach langer Zeit lebendig und genau erinnert. Atucha et al. (2017) haben nachgewiesen, dass bei diesem Phänomen Noradrenalin eine zentrale Rolle spielt, der bei Emotionen im Gehirn ausgeschüttet wird. In einem Tierexperiment bei Ratten konnte gezeigt werden, dass wenn die Konzentration von Noradrenalin im Gehirn während eine Gedächtnisabspeicherung hoch ist, sich die Tiere vier Wochen danach stärker und genauer an das Erlebte erinnern, als wenn das Niveau dieses Botenstoffs niedrig ist. Solche Erinnerungen sind nach wie vor vom Hippocampus abhängig, also jener Struktur im Gehirn, die für das Abspeichern und Erinnern von detaillierter Information unabdingbar ist. Diese Noradrenalin-Effekte gehen übrigens auch mit epigenetischen Veränderungen in gedächtnisrelevanten Genen im Hippocampus einher.

    Demnach ist daher die Amygdala für emotionale Reaktionen wie Angst oder Freude, das Striatum für erlernte Fähigkeiten, der Hippocampus für das Entstehen, Speichern und Abrufen von deklarativen Erinnerungen und der Temporallappen ist verantwortlich für die Bildung und den Abruf von Erinnerungen. Dabei werden Erinnerungen nicht in einer einzigen Zelle sondern immer in Neuronengruppen bzw. Zellverbänden, gespeichert, wobei diese sich mit den Sinnen verknüpfen. Je öfter die an einer Erinnerung beteiligten Neuronen aktiviert werden, desto stärker und nachhaltiger wird diese Erinnerung.

    In der Psychologie geht man heute davon aus, dass das Erinnern an Vergangenes ein aktiver Prozess ist, in dem nicht einfach nur die gespeicherten Informationen abgerufen, sondern auch bestehende Lücken durch logisch kohärente Informationen gefüllt werden, dass also jede Erinnerung etwas Neues darstellt, das nur teilweise mit den objektiven Fakten des ursprünglichen Ereignisses zu tun hat. Somit ist die Erinnerung stets ein Produkt der aktiven Reproduktion, ein Gedankenkonstrukt, in dem Tatsachen auch verzerrt werden können, wobei man allen Menschen zugestehen muss, dass dies nicht bewusst, also mit Absicht geschieht.

    Bei der Untersuchung von Erinnerungen wird oft die Experimentalanordnung des Stille-Post-Spiels verwendet, bei dem eine kleine Geschichte oder auch nur ein Wort durch mehrere Stationen von Mund zu Ohr geschickt wird. Es zeigte sich, dass Geschichten durch fortgesetzte Nacherzählung gleichsam rundgeschliffen, vereinfacht, von unverständlichen Elementen gereinigt und in vorhandene kulturelle Muster eingepasst werden. Dabei haben Emotionen eine zentrale Bedeutung von für das Erzählen von Erinnerungen, denn zumeist sind nämlich die Emotionen – heitere oder traurige, Peinlichkeit oder Rührung – das stabile Element bei der Weitergabe einer Geschichte, während sich ihre inhaltliche Ausgestaltung verändert. Emotionen werden dabei zu einem Art Anker, an dem die Geschichten festgemacht werden können.

    Erinnern bezeichnet somit das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen eines Menschen. Die mentale Wiederbelebung früherer Erlebnisse und Erfahrungen kann dabei aktiv und bewusst aber auch ganz spontan erfolgen, etwa wenn ein Gefühl, ein Gedanke oder eine Wahrnehmung durch Assoziation an ein früheres Erlebnis erinnert wird.

    Erinnerungen sind meist multimedial, d. h., sie enthalten bildhafte Elemente, Szenen, Geräusche und Klangfarben, oft auch Gerüche und vor allem Emotionen. Das Abrufen einer Erinnerung ist aus der Perspektive des Gehirns ein aktiver Prozess, d. h., es erfolgt jedes Mal ein erneuter Speicherprozess, sodass Erinnerungen sich stets in einem instabilen Zustand befinden und dass sie bei jedem Abruf neu geschrieben und umgeformt werden. Menschen erinnern sich daher nie an die Originalversion der Erinnerung, sondern immer nur an deren letzte Überarbeitung durch das Gehirn.

    Untersuchungen zeigen übrigens, dass Reiseerlebnisse und Reiseerinnerungen einen herausragenden Platz im Gedächtnis einnehmen. Das kommt daher, dass Menschen im Alltag viele Informationen um sich herum ausblenden, doch auf Reisen ist das Gedächtnis von den täglichen Sorgen befreit und man nimmt das Fremde, das Neue, mit all seinen Details in sich auf. Zusätzlich ist man auf Reisen oft in besonders guter Laune, sodass die positiven Emotionen die Erinnerungen an solche Momente noch stärker im Gedächtnis verankern. Hinzu kommt, dass sich Reisen als multisensorisches Mosaik einprägen, also gleichzeitig verschiedene Sinne angesprochen werden. Auch bringt das nachträgliche Teilen von Reiseerlebnissen mit anderen – man erzählt ja vielen Menschen, wie es einem Urlaub ergangen ist – Erinnerungen noch stärker an die Oberfläche.

    Auch wenn im Gehirn alles ständig in Bewegung ist, kann man dennoch klare Gedanken fassen, was durch das Löschen bestimmter Gedächtnisinhalte erfolgt. Nur dadurch kann man prinzipielle, d. h., kategorische Erinnerungen aufbauen, denn wenn man etwa an seine Mutter denkt, an die erste Liebe oder auch an seine erste Wohnung, dann bildet man prinzipielle Erinnerungen in Form von Kategorien. Man speichert nicht die zahlreichen Variationen im Gesicht der Mutter ab, auch nicht das Licht, das jeden Tag anders in das Wohnzimmer fällt, oder den Stuhl, der nie genau am gleichen Platz steht, all das wird nicht in der Erinnerung bleiben, sondern eine prinzipielle Erinnerung an diese Sachverhalte wird permanent neu geschrieben. Ohne solche Kategorien zu bilden, würden Menschen in einer Flut von Déjà-vus stehen, würden ständig den Stuhl im Wohnzimmer sehen und sich jedes Mal sagen, dass man diesen Stuhl doch schon einmal gesehen hat.

    Anmerkung: Aus diesem Grund funktioniert auch Phänomene wie Gaslighting, False Memories und Rückführungen, denn für den Betroffenen sind diese Erinnerungen absolut real und wahr.

    Siehe dazu im Detail Das Vergessen.


    Schimpansen und Bonobos erinnern sich an alte Freunde

    Schimpansen und ihre Schwesterart, die Bonobos, sind soziale Tiere, die dem Menschen in vielerlei Hinsicht ähneln: Schimpansen erinnern sich noch nach Jahren oder Jahrzehnten an Artgenossen, vor allem an solche, zu denen sie eine gute Beziehung hatten. Auch bei Delfinen und Raben konnte schon vor Jahren gezeigt werden, dass sie alte Freunde und Feinde wiedererkennen. Neuere Experimente mit Schimpansen und Bonobos in drei verschiedenen Zoos deuten darauf hin, dass Menschenaffen sich über Jahrzehnte an bestimmte Artgenossen erinnern können, also über einen großen Teil ihres 40- bis 60-jährigen Lebens. Die Erinnerung an Artgenossen war wahrscheinlich eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Kultur, denn viele langfristige Beziehungen, wie zum Beispiel der Handel zwischen verschiedenen Gruppen, wären ohne diese Fähigkeit undenkbar. Die Studie legt außerdem nahe, dass Menschenaffen – ähnlich wie wir Menschen – vielleicht sogar Artgenossen vermissen, von denen sie getrennt wurden.


    Erwähnenswert ist auch der Begriff des kollektiven Gedächtnisses unter dem jene biologischen, mentalen, soziokulturellen und materiellen Faktoren verstanden werden, deren Zusammenwirken Formen eines Gedächtnisses hervorbringt, die für die Mehrheit einer Gruppe von Menschen nicht intentional und nicht bewusst sind. Die wirkungsmächtigsten Objekte des impliziten kollektiven Gedächtnisses sind schematisierte Erinnerungen wie Bildformeln, Erzählungen, Stereotype, Weltmodelle, Wertvorstellungen oder bestimmte Verhaltensweisen, die oft affektiv aufgeladen und als Teil des kollektiven Gedächtnisses von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Medien in ihrer ganzen Bandbreite spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle, denn solche impliziten kollektiven Erinnerungen werden durch primäre Medien wie Gestik und Mimik, durch Mündlichkeit und Schriftlichkeit, durch analoge und digitale Medien vermittelt.


    Neuronale Grundlagen des Erinnerns

    Um Erinnerungen zu bilden, muss das Gehirn Verbindungen zwischen sensorischen „Bottom-up“-Signalen aus der Umgebung und intern generierten „Top-Down“-Signalen herstellen, die Informationen über vergangene Erfahrungen und aktuelle Ziele vermitteln. In den vergangenen Jahren gelang es, eine Reihe von Top-Down-Projektionssysteme zu identifizieren, die alle eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie signalisieren durch synaptische Erregung, dem Standardformat zum Senden von Informationen zwischen cortikalen Regionen, und sie zeigen auch ein gemeinsames Regime für die Gedächtniscodierung, wobei ein Reiz mit erlernter Relevanz in diesen Systemen eine stärkere Antwort hervorruft, was darauf hindeutet, dass diese positive Potenzierung ein Teil des Puzzles darstellt, das die Gedächtnisspur ist. Im Gegensatz zu diesen Systemen sind langreichweitige Hemmungswege im Cortex viel schwächer und weniger zahlreich, aber es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass sie dennoch überraschend robuste Auswirkungen auf die Funktion und das Verhalten von Netzwerken haben können. Um herausfinden, ob solche Eingänge im Neocortex vorhanden sind und wenn ja, ob und wie sie auf einzigartige Weise zum Gedächtnis beitragen könnten, untersuchte man einen überwiegend hemmenden subthalamischen Kern, die Zona Incerta. Bisherige Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Zona Incerta hemmende Projektionen sendet, die selektiv Regionen des Neocortex innervieren, die bekanntermaßen für das Lernen wichtig sind. Bei der Beobachtung der Aktivität einzelner Zona-Incerta-Synapsen im Neocortex vor, während und nach einem Lernparadigma, zeigte sich, dass etwa die Hälfte der Synapsen beim Lernen stärkere positive Antworten entwickelte, während die andere Hälfte genau das Gegenteil tat. Es kam zu einer vollständigen Umverteilung der Hemmung innerhalb des Systems aufgrund des Lernens, was darauf hineutet, dass Zona-Incerta-Synapsen frühere Erfahrungen auf einzigartige, bidirektionale Weise kodieren. Das wurde besonders deutlich, als man das Ausmaß der Plastizität mit der Stärke des erworbenen Gedächtnisses verglich, dennn man fand eine positive Korrelation, die zeigt, dass Zona-Incerta-Projektionen die erlernte Relevanz sensorischer Reize kodieren. Eins Abschalten dieser Projektionen während der Lernphase beeinträchtigt die spätere Gedächtnisspur, d. h., diese Projektionen bidirektionaler Plastizität sind für das Lernen notwendig. Man fand auch heraus, dass diese hemmenden Projektionen vorzugsweise funktionelle Verbindungen mit anderen, lokal-hemmenden Neuronen im Neocortex bilden, wodurch im Endeffekt ein langreichweitiger enthemmender Kreislauf entsteht. Diese Konnektivität impliziert, dass eine Aktivierung der Zona Incerta zu einer Nettoerregung neocortikaler Schaltkreise führen sollte (Schroeder, et al., 2022).

    Erinnern ist immer auch Ergänzen

    Erinnerungen sind dafür da, sich in der Welt zurechtzufinden. Wir brauchen diese Erinnerungen nicht, wie etwas wirklich war, sondern müssen diese auch im positiven Sinne verändern, also überschreiben können.
    Hannah Monyer, Neurobiologin

    Da das menschliche Gedächtnis erfahrungsgemäß nicht in der Lage ist, sich an alle Details einer vergangenen Erfahrung zu erinnern, füllt es solche Lücken mit wahrscheinlichen Informationen auf. Um nun zu überprüfen, wie das Gehirn solche Gedächtnisinhalte beim Erinnern ergänzt, haben Staresina et al. (2019) Versuchspersonen in acht Versuchsdurchgängen jeweils zehn Landschaftsbilder gezeigt, wobei in jeder Aufnahme ein Detailfoto mit einem von zwei Objekten eingefügt war, etwa eine Himbeere oder ein Skorpion. Die Probanden – Epilepsiepatienten, denen Elektroden ins Gehirn eingepflanzt worden waren – durften jedes der zusammengesetzten Fotos drei Sekunden lang betrachten. Nach einer Pause erhielten sie in einem zweiten Durchgang nur die Landschaften zu sehen und sollten dann angeben, ob dort ursprünglich zusätzlich die Himbeere oder der Skorpion aufgetaucht waren. In der Erinnerungsphase feuerten zunächst die Nervenzellen im Hippocampus, was auch bei einer Kontrollaufgabe der Fall war, bei der die Probanden sich nur einfache Landschaftsaufnahmen einprägen mussten. Bei der Aufgabe, in der die Bilder eine zusätzliche Information enthalten hatten, dauerte die Aktivität des Hippocampus jedoch deutlich länger, wobei während dieser Verlängerung zusätzlich Neuronen im entorhinalen Cortex zu feuern begannen. Dieses Aktivitätsmuster im Cortex ähnelte stark der Erregung, die man dort in der Lernphase gemessen hatte, also bei der Betrachtung des zusammengesetzten Bildes. Diese Ähnlichkeit ging so weit, dass eine Analysesoftware aus der Aktivität des entorhinalen Cortex ablesen konnte, ob sich der jeweilige Teilnehmer gerade an einen Skorpion oder eine Himbeere erinnerte. Dabei handelt es sich um eine Re-Instanziierung, d. h., die Erinnerung versetzt die Nervenzellen in einen ähnlichen Zustand, wie sie ihn beim Betrachten des Fotos hatten. Vermutlich ist der Hippocampus für diese Re-Instanziierung verantwortlich, wobei die hippocampalen Nervenzellen, die in der Verlängerung aktiv werden, mit ihrem Erregungsmuster dem Gedächtnis möglicherweise mitteilen, wo genau der fehlende Teil der Erinnerung abgelegt ist.

    In einem Versuch wurden Studierende in das Zimmer eines Professoren geschickt, in dem ein fast leeres Bücherregal stand. Ein paar Stunden später sollten sie den Raum beschreiben. Die meisten sagten: Da stand ein volles Bücherregal. Denn das erwartet man eben: Professor gleich volles Bücherregal. Das Gehirn speichert den Raum nicht exakt so ab, wie er ist, sondern wie er aufgrund vieler zuvor gemachter Erfahrungen sein müsste. Das ist aus der Sicht des Gehirns wesentlich effizienter.

    Identität und Erinnerungskultur

    Die narrative Psychologie geht davon aus, dass Menschen ihrem Leben Sinn und Bedeutung verleihen, indem sie Erlebnisse in Form von Geschichten und Erzählungen tradieren. Einzelne Lebensereignisse werden dabei nicht wie von selbst miteinander verbunden betrachtet, sondern Verbindungen und Plausibilität werden erst im Prozess des Erzählens vom Subjekt selber geschaffen. Zahlreiche Erinnerungen prägen Menschen und ihr Leben, wobei von diesen Erinnerungen eine Vielzahl ihrer Aktivitäten im Alltag geleitet werden. Erinnerungen sind dabei in der Regel zunächst etwas sehr Persönliches, etwas, das jede/r mit sich und in sich herumträgt, etwas, das sowohl mit ihr/ihm als Individuum als auch mit der Gemeinschaft geteilt wird, sodass Erinnerungen einen wesentlichen Teil der sozialen Identität ausmachen. Erinnerungen sind aber nicht nur an Einzelne sondern auch an Gemeinschaften, Gruppen oder Institutionen geknüpft, und werden manchmal auch Ausdruck einer nationalern Homogenisierung, denn zahlreiche Erinnerungen werden zum Gründungsmythos von Staaten und Nationen. Solche Erinnerungen bestimmten häufig den öffentlichen Diskurs, was zu einer ambivalenten Entwicklung in einer Gemeinschaft führen kann. Durch die Pflege von Erinnerungen mittels Erzählungen, Bildern, Ritualen, Denkmäler oder Institutionen eintsteht eine kollektive Erinnerungskultur. Der Begriff der Erinnerungskultur bezeichnet dabei sowohl den individuellen als auch kollektiven Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Geschichte. Auch in Familien als der kleinsten Form einer Gemeinschaft gibt es oft wesentliche Narrative, die tradiert werden und zur Identitätsstifung beitragen. Bei solchen Narrativen in Familien handelt es sich in der Regel nicht um die großen Erzählungen und Ereignisse, sondern um einzelne Ereignisse und persönliche Erlebnisse, aus denen ein gemeinsames Gedächtnis geformt und tradiert wird. Durch solche Narrative wird aber oft ein Bezug zwischen biographiebezogenem Erinnern und öffentlicher Erinnerungskultur hergestellt. Darüber hinaus wirken individuelle und kollektive Erinnerungen kleiner Gruppen auf die Stimmung der Gesellschaft, wobei Individuen dann unterschiedlichen Erinnerungsmilieus angehören können, die durch Familien, Vereine, kulturelle oder religiöse Gemeinschaften oder durch die Massenmedien geschaffen werden. Oft verursachen Erinnerungen Spannungen zwischen dem Individuum und der Familie einerseits und den offiziellen gesellschaftlichen Erinnerungen andererseits, denn nicht selten unterscheiden sich individuelle und kollektive Erinnerungen, etwa in Form von Generationenkonflikten.

    Es gibt nach der These des Soziologen Maurice Halbwachs gar keine rein individuelle Erinnerung, denn er ging davon aus, dass jeder Mensch nicht nur für sich, sondern auch für andere erinnert. Er sprach vom sozialen Rahmen des Erinnerns und bezog sich dabei auf verinnerlichte Normen und Tabus im Austausch von Erinnerungen, denn nicht alle Erinnerungen sind in jeder sozialen Gruppe in gleicher Weise erwünscht und anerkannt, d. h., manches behält man deshalb lieber für sich als es mit anseren zu teilen. Was also auf sozialer Ebene nicht kommuniziert werden kann, wird verdrängt beziehungsweise vergessen, d. h., jeder soziale Rahmen schließt etwas ein und anderes aus. Das bedeutet aber auch, dass es kein Erinnern ohne Vergessen geben kann.


    Nach dem Tod in Erinnerung zu bleiben, ist seit alters her vielen Menschen ein großes Anliegen, sodass in vielen Kulturen die damnatio memoriae, also das absichtliche Auslöschen aus dem kollektiven Gedächtnis, als eine der schwersten denkbaren Strafen galt. An wen erinnert sich aber eine Gesellschaft nach dem Tod eines Menschen? Obwohl Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen seit der Antike über diese Frage spekulieren, fehlt immer noch ein detailliertes Verständnis der Prozesse, die ablaufen, wenn eine öffentliche Person stirbt und sich ihr Medienbild verfestigt und in das kollektive Gedächtnis eindringt. West et al. (2021) nutzten einen umfassenden 5-Jahres-Datensatz von Online-Nachrichten und Beiträgen in sozialen Medien mit Millionen von Dokumenten. Indem sie die Erwähnung tausender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Jahr nach ihrem Tod verfolgten. Es ergaben sich dabei vier Muster des postmortalen Gedächtnisses sowohl auf den Nachrichtenportalen als auch auf Twitter: Ein Aufblitzen, ein Schweigen, ein Rückgang sowie ein Anstieg in der Zahl der Nennungen der verstorbenen Person, wobei der Anstieg der Medienaufmerksamkeit vor dem Tod bei populären Menschen, die früh eines unnatürlichen Todes starben, am größten war. Bei etwa einem Viertel der verstorbenen Persönlichkeiten herrschte Schweigen, oftmals erhielten sie nicht einmal einen Nachruf, bei einem Achtel steigt die Zahl der Nennungen zwar kurz an, pendelt sich danach aber auf einem tieferen Niveau als vor dem Tod ein, meist bei Sportlern und Politikern. Nur bei einem Achtel der Menschen übertraf die Zahl der Nennungen nach deren Tod die Zahl der Nennungen zu Lebzeiten, was insbesondere bei Künstlern der Fall war, deren kulturelles Erbe ihren Tod überdauerte. Dies stand dabei im Gegensatz zu Führungspersönlichkeiten und Sportlern, die in erster Linie für ihr Schaffen zu Lebzeiten berühmt sind.


    Sequenzwiederholung der neuronalen Aktivität beim Erinnern von Gelerntem

    Tierstudien hatten schon gezeigt, dass bei der Gedächtnisabfrage und -konsolidierung die Sequenzwiederholung der neuronalen Aktivität zugrunde liegen könnte, doch gab es bisher keinen direkten Beweis dafür, dass die Wiederholung von Sequenzen der Neuronen-Aktivität für diese Prozesse im menschlichen Gehirn genau so abläuft. Vaz et al. (2020) zeichneten Einzelspikes, lokale Feldpotenziale und intrakranielle Elektroenzephalographie-Signale im Gehirn auf, während Probanden (sechs Epilepsie-Patienten, die vorübergehend ein Hirnimplantat hatten) eine Gedächtnisaufgabe ausführen mussten. Während der Lernphase folgten die Aktivitäten der Nervenzellen einem bestimmten Muster, wobei Zellen in einer zeitlichen Abfolge nacheinander aktiv waren. Die gleichen Aktivitätsmuster wurden auch bei der Abfrage der gelernten Wörter beobachtet, denn während die Probanden nachdachten, wurden die Muster denen der Lernphase immer ähnlicher, bis ihnen das passende Wort einfiel, wobei in jenen Durchgängen, in denen die Probanden das richtige Wort nicht fanden, diese Angleichung der Muster ausblieb. Offenbar nutzt das Gehirn individuelle Abfolgen neuronaler Aktivitäten, um Erinnerungen abzuspeichern und vergangene Ereignisse wieder abzurufen.

    Fredes et al. (2020) haben die Bildung von Erinnerungen untersucht, indem sie den Signalweg im Hippocampus im Gehirn kontrollierten und zeigten, wie dieser die Bildung von Erinnerungen beim Erleben neuer Umgebungen steuert. Der Hippocampus ist bekanntlich jener zentraler Bereich im Gehirn, der eine zentrale Rolle bei der Übertragung von Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis spielt. Dabei konzentrierte man sich in dieser Untersuchung auf die Verbindung zwischen den Moos-Zellen, die Signale von Sinneseindrücken über die Umwelt empfangen, und den Granule-Zellen, an die diese Informationen weitergeleitet werden. Man verwendete für diese Studie vier verschiedene Ansätze. Als erstes untersuchte man die komplexen Strukturen, mit denen Moos-Zellen und die Granule-Zellen verbunden sind, unter dem Mikroskop. Dann maß man mithilfe gentechnisch veränderter Neurone von Live-Aufnahmen die Neuronenaktivität im Hippocampus von Mäusen, die man in eine neue Umgebung gesetzt hatte. Dabei beobachtete man, dass die Aktivität der Moos-Zellen, die die Signale an die Granule-Zellen sendeten, zunächst hoch war und dann immer niedriger wurde. Als die Mäuse nach einigen Tagen in eine andere neue Umgebung gebracht wurden, stieg die Aktivität wieder an, was zeigt, dass diese Neuronen spezifisch für die Verarbeitung neuer Umwelteinflüsse relevant sind. In einem dritten Ansatz folgte man den Signal-Spuren in Nervenzellen, wobei die Aktivität in den untersuchten Neuronen die Expression eines bestimmten Gens auslöst, was bedeutet, dass dort ein bestimmtes Protein produziert wird. Je mehr Aktivität vorhanden war, desto mehr von diesem Protein fand man danach. In den Granule-Zellen entdeckte man  dabei große Mengen des Proteins, die mit der Aktivität der Moos-Zellen korrelierten. Schließlich führte man Verhaltensstudien durch, um die Auswirkungen dieses Pfades im Hippocampus auf die Gedächtnisbildung zu untersuchen. Man kombinierte einen kleinen elektrischen Schock als negativen Reiz mit einer für das Tier neuen Umgebung, wobei die Mäuse schnell lernten, die neue Umgebung mit unangenehmen Gefühlen zu assoziieren, und sie reagierten darauf, indem sie wie festgefroren stillstanden. Diese negative Reaktion war später auch dann messbar, wenn gar kein Schock vorhanden war. Nach dieser Konditionierung verabreichte man den Mäusen Medikamente, um die Aktivität der Moos-Zellen zu hemmen. Als man dann die negative Konditionierung mit den elektrischen Reizen in der neuen Umgebung durchführte, erinnerten sich die Mäuse danach nicht an den Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und dem unangenehmen Gefühl. Falls man die Tiere sich zuerst an die neue Umgebung gewöhnen ließ und erst dann konditionierten, kam es auch zu keinerAktivierung der Moos-Zellen und somit auch zu keinen Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und den Schocks im Gedächtnis der Tiere. Als die Moos-Zellen hingegen künstlich mit Medikamenten aktiviert wurden, konnten sich diese Assoziation auch dann noch bilden, wenn die Tiere bereits an die neue Umgebung gewöhnt waren. Dies zeigt deutlich, wie die Moos-Zellen im Hippocampus auf neuen Input reagieren und bei Mäusen die Bildung neuer Langzeiterinnerungen auslösen. Ob diese Ergebnisse auf das menschliche Gehirn übertragbar sind, ist noch eine offene Frage. Diese Grundlagenforschung könnte aber dazu beitragen könnte, degenerative Hirnerkrankungen zu bekämpfen, die die Gedächtnisbildung beeinträchtigen.


    Literarisches:
    Erinnern, die Schwester des Vergessens


    Literatur

    Atucha, Erika, Vukojevic, Vanja, Fornari, Raquel V., Ronzoni, Giacomo, Demougin, Philippe, Peter, Fabian, Atsak, Piray, Coolen, Marcel W., Papassotiropoulos, Andreas, McGaugh, James L., de Quervain, Dominique J.-F. & Roozendaal, Benno (2017). Noradrenergic activation of the basolateral amygdala maintains hippocampus-dependent accuracy of remote memory. Proceedings of the National Academy of Sciences,114, 9176-9181.
    Felipe Fredes, Maria Alejandra Silva, Peter Koppensteiner, Kenta Kobayashi, Maximilian Joesch, Ryuichi Shigemoto (2020). Broadband Mie-driven random quasi-phase-matching. Current Biology, doi:10.1016/j.cub.2020.09.074.
    Schroeder, A., Pardi, M.B., Keijser, J., Dalmay, T., Groisman, A. I., Schuman, E. M., Sprekeler, H., Letzkus, J. J. (2022). Inhibitory top-down projections from zona incerta mediate neocortical memory. Neuron, doi;10.1016/j.neuron.2022.12.010.
    Staresina, Bernhard P., Reber, Thomas P., Niediek, Johannes, Boström, Jan, Elger, Christian E. & Mormann, Florian (2019). Recollection in the human hippocampal-entorhinal cell circuitry. Nature Communications, doi:10.1038/s41467-019-09558-3.
    Vaz, Alex P., Wittig, John H., Inati, Sara K. & Zaghloul, Kareem A. (2020). Replay of cortical spiking sequences during human memory retrieval. Science, 367, 1131-1134.
    West, Robert, Leskovec, Jure & Potts, Christopher (2021). Postmortem memory of public figures in news and social media. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118, doi:10.1073/pnas.2106152118.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Damnatio_memoriae (18-11-21)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerung_(Psychologie) (14-09-12)
    https://notiert.stangl-taller.at/zeitgeistig/welche-menschen-nach-ihrem-tod-in-erinnerung-bleiben/ (18-11-21)
    https://science.orf.at/stories/3222714/ (23-12-19)


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    Ein Gedanke zu „Erinnern“

    1. Martin Korte

      Bei jedem Erzählen werden Erinnerungen neu abgespeichert, d. h., die Zuverlässigkeit der Erinnerung ist tatsächlich ungewiss. Man erinnert die Dinge nicht immer nur, wie man etwa einen Film abspulen würde, vielmehr erinnert man die Dinge so, wie man sie das letzte Mal erzählt hat, denn immer, wenn man neu erzählt, wird wieder neu abgespeichert. Manchmal haben Menschen Dinge auch aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen, d. h., eine Oma sieht eine Situation anders als die Mutter oder ein Freund. Die Dinge werden dann in ihrem Kontext unterschiedlich abgespeichert, sodass keiner recht oder unrecht hat. Häufig muss man aber sagen: Wenn man sich etwas länger darüber unterhält, kann man sich darauf einigen, wie es wohl wahrscheinlich abgelaufen ist, weil Menschen genügend Eckpunkte einer Lebenssituation abgespeichert haben, um sie gemeinsam rekonstruieren zu können.
      Korte, Martin (2023). Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
      WWW: https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/wie-zuverlaessig-sind-erinnerungen-100.html (23-05-24)

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