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Hospitalismus

    Hospitalismus beschreibt jene psychischen und körperlichen Schäden und Defizite, die Kinder entwickeln, wenn sie über längere Zeit in Kliniken oder Heimen untergebracht sind, wo sie zwar körperlich versorgt werden, aber kaum persönliche Zuwendung erfahren und wo ihnen vor allem die Beziehung zu einer konstanten Bezugsperson fehlt. Früher wurde bei der Heimunterbringung von Kindern oder bei längeren Krankenhausaufenthalten auf die psychischen Bedürfnisse von Kindern kaum geachtet, wobei wechselndes Pfegepersonal die Regel, das auf Grund der Arbeitsstruktur nicht in der Lage war, eine persönliche Beziehung zu den untergebrachten Kindern aufzubauen. Je jünger ein Kind ist und je länger es unter solchen deprivierten Umständen leben muss, desto schwerer und unkorrigierbarer sind auch die Symptome des Hospitalismus. Man spricht daher auch von einer Deprivationsstörung.

    Unter Hospitalismus versteht man daher in der Psychologie ganz allgemein die Mängel und Leiden sowie körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen, die durch die Unterbringung eines Individuums in einer Institution wie einem Krankenhaus oder einem Heim aus der damit verbunden Kontaktarmut entstehen. Auch eine lieblose Betreuung durch überforderte oder bindungsunfähige Eltern kann zum Hospitalismus-Syndrom führen. Die typische Reaktion, die Kinder entwickeln, die unter solchen Bedingungen aufwachsen, nennt man auch anaklitische Depression, d. h., betroffene Kinder bleiben in fast allen Entwicklungsbereichen, vor allem aber in ihrer Intelligenzentwicklung, in ihrer sprachlichen Entwicklung und in der motorischen Entwicklung weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Häufig entwickeln sie soziale Defizite wie autistische Symptome, d. h., sie nehmen nach einer bestimmten Zeit keinen Kontakt mit anderen Menschen mehr auf und ziehen sich mehr oder weniger vollständig zurück. Charakteristisch sind monotone, immer wieder durchgeführte Bewegungen, etwa Schaukebewegungen, die man häufig auch bei Zootieren beobachten kann. Ähnliche Hopsitalisierungs-Symptome wie Heimkinder entwickeln aber auch Kinder, die zwar in einer Familie aufwachsen, die dort aber kaum Ansprache oder Zuwendung erfahren.

    Das Phänomen des psychischen Hospitalismus wurde von René Spitz geprägt, der Heimkinder,  in den großen Findelhäusern beobachtete und die Auswirkungen einer psychischer Verwahrlosung bzw. des Fehlens mütterlichen Zuwendung erstmals dokumentierte. Er beobachtete vor allem Säuglinge, die nach dem dritten Lebensmonat von der Mutter getrennt worden waren, und in der Folge unter einwandfreien Ernährungsbedingungen und guter physischer Pflege betreut wurden. Da jedoch jeder Betreuungsperson bis zu fünfzehn Kinder anvertraut worden waren, konnten die Kinder nur sehr wenig individuelle Zuwendung und körperlichen Kontakt erhalten, den sie für eine normale Entwicklung benötigt hätten. Spitz schloss daraus, dass die Kinder zwar die allernötigsten Überlebensbedürfnisse erfüllt bekamen, aber auf jegliche emotionale Zuwendung verzichten mussten, wodurch soziale, sensorische und emotionale Defizite bei den  Kindern entstanden. Vor allem zeigte sich bei den Kindern eine verlangsamte Motorik, eine passive Grundstimmung bis hin zur Apathie, Regressionen in frühere Entwicklungsstadien, eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten, aber auch Störungen der Wahrnehmung und beim Lernen. Besonders erhellend war für ihn die Beobachtung, dass einige Kinder, die eine persönliche Bezugsperson in Form einer psychisch behinderten Frau gefunden hatten, sich in fast allen Bereichen wesentlich besser entwickelten als Kinder, die keine solche Bezugsperson haben, sodass vor allem die emotionale Zuwendung und die Aufmerkamkeit für die positive Entwicklung dieser Kinder durch diese Frau ausschlaggebend war.

    Die Psychologie geht heute auch davon aus, dass schwere soziale Defizite im Erwachsenenalter, also zum Beispiel fehlende Empathiefähigkeit häufig auf Hospitalisierungserfahrungen in den ersten Lebensjahren zurückzuführen sind. Besonders dramatisch sind Hospitalisierungssymptome bei Kindern, die auch auf einer anderen Ebene beeinträchtigt sind, z. B. weil sie körperlich krank sind oder eine angeborene oder erworbene Behinderung haben.

    Die schwerste Form des Hospitalismus wird als Kaspar-Hauser-Syndrom, nach einem Kind, das viele Jahre lang in einem dunklen Verlies bei Wasser und Brot eingesperrt verbracht hatte. Kaspar Hauser war verstört und kaum fähig zu sprechen. In einem solchen extremen Fall führen vollständiger Reizentzug und Misshandlungen zu einer erheblichen Einschränkung der körperlichen und geistigen Entwicklung sowie zu extremer Ängstlichkeit.

    Studien an rumänischen Kindern (Fox et al., 2011), die von Geburt an in Kinderheimen in Bukarest lebten, haben jüngst nachgewiesen, dass Kinder, die ihre ersten Lebensmonate und -jahre im Heim verbringen, eine dünnere Gehirnrinde besitzen und auch einige elektrische Signale im Gehirn dauerhaft geschwächt sind. Alle Heimkinder und auch die, die später bei Pflegeeltern lebten, besaßen weniger graue Materie als normal aufgewachsene Kinder. Die Studie zeigt aber auch, dass das Gehirn einige Defizite wieder wettmachen kann, denn kamen die Heimkinder bereits als Zweijährige oder früher zu Pflegeeltern, holten einige Hirnbereiche ihr Wachstum nach. Das zeigt, dass das Gehirn zumindest in einigen Aspekten plastisch genug ist, um selbst nach schweren Entbehrungen Defizite wieder auszugleichen. Wie lange die Kinder in einem Heim gelebt haben, ist dabei ein entscheidender Faktor für deren künftige psychische Gesundheit, wie Sonuga-Barkeet al. (2017) an rumänischen Adoptivkindern nachwiesen. Kinder, die weniger als sechs Monate im Heim verbracht hatten, waren dabei psychisch ähnlich gesund wie eine Vergleichsgruppe. Kinder, die mehr als sechs Monate in einer Einrichtung gelebt hatten, zeigten hingegen soziale, emotionale und kognitive Probleme, etwa autistische Züge, der soziale Umgang mit anderen fiel ihnen schwer, und sie waren unaufmerksam oder überaktiv. Im Durchschnitt erreichten sie ein schlechteres Bildungsniveau und waren später häufiger arbeitslos. Man konnte in der Studie jedoch nicht feststellen, ob es ein Zeitfenster in der Entwicklung gibt, in dem Kinder besonders sensibel auf Vernachlässigung reagieren, denn die Kinder kamen mit unterschiedlichem Alter ins Heim und lebten dort für unterschiedlich lange Zeit.

    Mackes et al. (2020) untersuchten die Auswirkungen einer besonders schweren, aber zeitlich begrenzten Form von institutioneller Deprivation auf die Gehirnstruktur von Erwachsenen, die diese in frühen Jahren als Kinder erfahren haben, die aber anschließend in Pflegefamilien adoptiert wurden. Es zeigte sich dabei, dass je länger der Zeitraum war, den sie als Kind in einem Kinderheim (im Alter von vier, sechs, elf und fünfzehn Jahren) unter großer Vernachlässigung verbracht hatten, desto geringer war ihre Gehirngröße als Erwachsene (im Alter zwischen 23 und 28 Jahren). Diese Daten zeigen, dass extrem ungünstige Lebensbedingungen in der frühen Kindheit durch Mangel an Fürsorge und Mangel an Stimulation sich langfristig auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Neben psychologischen Auffälligkeiten konnten dabei auch Veränderungen im Wachstum des Gehirns beobachtet werden, die zum Teil eine verminderte Intelligenz und die auch ADHS-Symptome bei den spät adoptierten Kindern erklären. Durchschnittlich waren die Gehirne der Kinder etwa 8,6 Prozent kleiner als die einer Kontrollgruppe, wobei besonders der Zeitraum, den die Kinder in den Heimen verbracht hatten, dafür ausschlaggebend war. Nur bei den früh adoptierten Kindern zeigten sich kaum langfristige Folgen, denn diese Gruppe konnte alle Defizite aufholen.

    John Bowlby und Mary Ainsworth, die sich mit der Bedeutung sozialer Beziehungen und sozialer Bindung für die Entwicklung von Menschen auseinandergesetzt haben, haben auf der Grundlage vieler Experimente und Feldbeobachtungen eine komplexe Bindungstheorie entwickelt.


    Das Bucharest Early Intervention Project

    ist eine Langzeitstudie, die in den 1990er Jahren in Rumänien begann und sich auf Kinder konzentrierte, die in staatlichen Waisenhäusern unter oft vernachlässigenden Bedingungen aufwuchsen. Die Studie wurde durchgeführt, um die langfristigen Auswirkungen von Vernachlässigung und mangelnder emotionaler Unterstützung auf die Entwicklung von Kindern erneut zu untersuchen und insbesondere zu verstehen, wie frühe Interventionen die Entwicklung von Kindern beeinflussen können, die in ihren ersten Lebensjahren einen Mangel an emotionaler Bindung und Anregung erfahren haben. Die Studie verglich Kinder, die in Waisenhäusern aufwuchsen, mit Kindern, die in Familien adoptiert wurden, und untersuchte die Auswirkungen gezielter Interventionen auf die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten der Kinder.
    Das „Bucharest Early Intervention Project“ bestätigte im Großen und Ganzen die Bedeutung frühkindlicher Förderung, wobei die Kinder im Alter von 2, 3, 4, 8, 12 und 16 Jahren untersucht wurden. Die Ergebnisse der Studie zeigten erneut, dass eine frühe Heimunterbringung sowohl zu tiefgreifenden Intelligenzdefiziten als auch zu sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten führen kann. Kinder, die in Heimen aufwuchsen, zeigten beispielsweise Defizite im Bindungsverhalten, in der Sprachfähigkeit und neigten eher zu psychiatrischen Auffälligkeiten. Die Kinder, die in Pflegefamilien aufwuchsen, entwickelten sich dagegen besser und unterschieden sich auch in ihrer Intelligenz: Obwohl alle Kinder einen eher niedrigen Intelligenzquotienten aufwiesen, schnitten die Kinder, die vor dem Alter von zwei Jahren in eine Pflegefamilie kamen, in IQ-Tests im Jugendalter besser ab.

    Der Unterschied in der Denkfähigkeit der Kinder lässt sich vermutlich auf die Pflegesituation im Kleinkindalter zurückführen, d.h. es könnte eine sensible Phase für die Ausprägung der Denkfähigkeit geben, d.h. ein Zeitfenster, in dem das Gehirn besonders sensibel auf Erfahrungen reagiert. Vermutlich gibt es verschiedene sensible Phasen in der Hirnentwicklung, denn nicht alle Hirnregionen reifen gleich schnell, aber wahrscheinlich schließt sich nach den ersten beiden Lebensjahren ein Zeitfenster für die Entwicklung der Intelligenz, denn je früher ein Kind in eine Pflegefamilie kam, desto besser entwickelte es sich. Offenbar ist es in dieser Phase besonders wichtig, Kontakt zur Umwelt und zu Menschen zu haben, ausreichend Interaktion und Feedback zu erfahren, um die lernfähigen und lernwilligen Teile des Gehirns bestmöglich zu unterstützen.

    Literatur

    Fox, Nathan A., Almas, A.N. Degnan, K.A., Nelson, C.A., & Zeanah, C.H. (2011). The effects of severe psychosocial deprivation and foster care intervention on cognitive development at 8 years of age: Findings from the Bucharest Early Intervention Project. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 52, 919–928.
    Mackes, Nuria K., Golm, Dennis, Sarkar, Sagari, Kumsta, Robert, Rutter, Michael, Fairchild, Graeme, Mehta, Mitul A. & Sonuga-Barke, Edmund J. S. (2020). Early childhood deprivation is associated with alterations in adult brain structure despite subsequent environmental enrichment. Proceedings of the National Academy of Sciences, 117, 641-649.
    Sonuga-Barke, Edmund J. S., Kennedy, Mark, Kumsta, Robert, Knights, Nicky, Golm, Dennis, Rutter, Michael, Maughan, Barbara, Schlotz, Wolff & Kreppner, Jana (2017). Child-to-adult neurodevelopmental and mental health trajectories after early life deprivation: the young adult follow-up of the longitudinal English and Romanian Adoptees study. The Lancet, doi:10.1016/S0140-6736(17)30045-4.

    Stangl, W. (2023, 19. Dezember). Das Bucharest Early Intervention Project. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4827/das-bucharest-early-intervention-project

     


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    Ein Gedanke zu „Hospitalismus“

    1. Es ist erstaunlich, das trotz der Untersuchungen von René Spitz so viele Mütter, und sogar Pädagoginnen, ihre Kinder nicht selbst betreuen, sondern sich ein Kindermädchen leisten, um möglichst schnell wieder in den Beruf zu gehen. Es gibt Mütter, die ihr Kind schon mit 8 Monaten in eine Kita geben. Wofür zahlt denn unser Staat das Kindergeld? Die arabischen Mütter gehen mit ihren Kindern liebevoller um. Während die deutschen Mütter Geld verdienen, trinken sie gemeinsam Kaffee und lassen die Kinder um sich herum spielen und dabei sein. Außerdem haben sie mehr Gemeinschaftsgefühl als unsere deutschen Mütter; sie leben als Großfamilie mit Oma und Opa im Haus oder in der Nähe. Für mein Empfinden werden unsere deutschen Kinder am Anfang ihres Lebens emotional benachteiligt – nicht durch den Staat, sondern durch ihre berufstätigen Mütter, die im Schutz der Ehe leben und sich doch nicht zumindest ein paar Jahre voll und ganz für ihre Kinder entscheiden.

      Hallo Lucia T.,
      ich denke, man kann die Heimsituation, wie sie René Spitz vorfand, nicht mit der von Kindermädchen oder einer Kitabetreuung vergleichen. Es ist im Grunde nicht so entscheidend, dass die Zuwendung durch die Mutter erfolgt, sondern dass sie überhaupt erfolgt, wobei das durchaus der Vater oder ein Geschwisterkind sein kann. Auch kommt es nicht allein auf den zeitlichen Umfang der Zuwendung an, sondern auf die Intensität, die auch bei einer berufstätigen Mutter gegeben sein kann. Im Übrigen kann es durchaus zum Problem werden, wenn man berufstätigen Müttern ein schlechtes Gewissen vermittelt, dass sie sich zuwenig um ihre Kinder kümmern. Letztlich kommt es immer auf die Qualität der Zuwendung an, die bei einem Kindermädchen oft wohl intensiver ist als es einer den Haushalt stemmenden Mutter, bzw. auch in eine Kita, in der nicht selten Kinder eine Art Geschwistersituation erleben, die mangels eigener Geschwister nicht gegeben ist. Auch diese soziale Komponente kann in diesem Fall durchaus günstiger für die Entwicklung eines Kindes sein.
      W. S.

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