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Schreien

    Eine besondere Form das menschlichen Kommunikation ist der Schrei, der Menschen warnen und aufrütteln soll. In einer Studie hat man herausgefunden, dass Schreie ganz besondere akustische Eigenschaften besitzen, denn sie sind laut, hoch und schrill, doch das allein reicht nicht aus, sondern sie besitzen darüber hinaus noch eine einzigartige Modulation, die sie von anderen Lauten unterscheidet. Dieses Merkmal kann man als Rauigkeit bezeichnen, wobei Laute dann rau klingen, wenn sich ihre Amplitude oder ihre Frequenz so rasch ändert, dass das Gehör diese Veränderungen nicht mehr auflösen kann. Während normale Sprache eine Modulationsfrequenz von etwa 4 bis 5 Hertz hat, weist Rauigkeit Frequenzwechsel zwischen 30 und 150 Hertz auf, d. h., die zeitlichen Veränderungen sind wesentlich schneller und beunruhigen dadurch jene Menschen, die sie vernehmen.

    Menschen empfinden Schreie und Alarmgeräusche dabei umso beängstigender, je deutlicher ihre akustische Rauigkeit ist, und zwar mit der Folge, dass solche alarmierende Laute und Klänge das Angstzentrum des Gehirns erregen. Die Einzigartigkeit des Schreis gestattet es Menschen, aus einem Schrei ohne jedes Nachdenken wichtige, womöglich lebensentscheidende Informationen herauszuhören. Es wird angenommen, dass markante Vokalisierungen, insbesondere aggressive Stimmen, durch ein automatisches Bedrohungserkennungssystem bei Menschen erhöhte Aufmerksamkeit erregen. Burra et al. (2018) haben gezeigt, dass die Aufmerksamkeitsverarbeitung bedrohlicher Stimmsignale in zwei verschiedenen Phasen der auditorischen Verarbeitung optimiert wird. Das Gehirn bemerkt eine wütende Stimme schneller als eine fröhliche oder neutrale Intonation und schenkt ihr auch länger Aufmerksamkeit, indem potenziell gefährliche Laute im Gehirn länger als positiv konnotierte analysiert werden. Mittels EEG konnte man diese Verzögerungen deutlich beobachten, d. h., offenbar will das Gehirn diese Laute länger untersuchen, um eine mögliche Gefahr zu beurteilen und adäquat zu reagieren. Weil die Aufmerksamkeit auf dem bedrohlichen Laut länger verbleibt, verzögert sich dadurch aber die motorische Reaktion. Diese erweiterte Aufmerksamkeit war übrigens nur bei weiblichen und nicht bei männlichen Probanden nachweisbar.

    Frühholz et al. (2021) haben verschiedene psychoakustische, perzeptive Entscheidungs- und Neuroimaging-Experimente beim Menschen durchgeführt, um die Existenz von mindestens sechs psychoakustisch unterscheidbaren Typen von Schrei-Rufen sowohl alarmierender als auch nicht-alarmierender Natur zu demonstrieren. In diesen Experimenten wurde Teilnehmer gebeten, positive und negative Schreie auszustoßen, wie sie in verschiedene Situationen hervorgerufen werden können, wobei eine zweite Gruppe von Probanden die emotionale Natur der Schrei-Rufe bewerten und sie in entsprechenden Kategorien klassifizieren sollte. Während sie diese Schreie hörten, wurde ihre Hirnaktivität hinsichtlich Wahrnehmung und Erkennung sowie Verarbeitung und Zuordnung der Laute mit funktioneller Magnetresonanztomografie gemessen, wobei die Hirnareale im vorderen Großhirn, in der Hörrinde und im limbischen System bei erfreuten bzw. nicht alarmierenden Schrei-Rufen viel aktiver und stärker vernetzt waren als bei Alarm-Rufen. Man unterschied dabei sechs emotional unterschiedliche Schrei-Typen, die Schmerz, Wut, Angst, Vergnügen, Traurigkeit und Freude signalisieren. Es zeigte sich, dass die ZuhörerInnen auf nicht-alarmierende und positive Schreie rascher, genauer und hinsichtlich ihrer Hirnaktivität empfindlicher reagierten, als wenn es um Alarmschreie gibt, d. h., die neuronale Verarbeitung von Alarmschreien im Vergleich zu Nicht-Alarmschreien während einer impliziten Verarbeitungsaufgabe löste nur minimale neuronale Signale und Konnektivität bei den Wahrnehmenden aus, entgegen der früheren Annahme eines Bedrohungsverarbeitungsbias des neuronalen Systems von Primaten. Diese Befunde zeigen auch, dass Schrei-Rufe in ihrer signalisierenden und kommunikativen Natur beim Menschen vielfältiger sind als bisher angenommen, und im Gegensatz zu einem häufig beobachteten Bedrohungsverarbeitungs-Bias in Wahrnehmungsdiskriminierungen und neuronalen Prozessen zeigte sich, dass insbesondere Nicht-Alarm-Schreie und positive Schreie eine höhere Effizienz in beschleunigten Diskriminierungen und der impliziten neuronalen Verarbeitung verschiedener Schrei-Typen beim Menschen zu haben scheinen. Offenbarh schreit nur der Mensch, um auch positive Emotionen wie große Freude und Vergnügen zu signalisieren, d. h., im Vergleich zu Alarmrufen sind die positiven Schreie in der Evolution mit der Zeit immer wichtiger geworden, was seine Ursache in den kommunikativen Anforderungen der zunehmend komplexeren sozialen Beziehungen des Menschen haben dürfte.

    Arnal et al. (2015) haben untersucht, warum der menschliche Schrei eine alarmierende Wirkung hat, und zwar ist das seinen einzigartigen Schwankungen in der Lautstärke zuzuschreiben. Je schneller die Lautstärke einer Stimme variiert, umso stärker reagiert die Amygdala, das Angstzentrum des Menschen. Schreie haben im menschlichen Gehirn somit eine akustische Nische, wodurch ein Schrei letztlich seine Wirkung erfüllt. Im Gegensatz zum normalen Sprechen versetzen Schreie Menschen in Alarmbereitschaft und auch viele Säugetiere kommunizieren effizient über Schreie. Schreie zeigen Frequenzen zwischen 30 und 150 Hertz, wo weder Sprache noch Gesang verortet sind. Das gesprochene Wort liegt im Bereich langsamerer Frequenzen, bei etwa 5 Hertz, während die schnellen Frequenzen von Schreien raue Laute produzieren, die vom Menschen als störend oder aggressiv machend wahrgenommen werden. Testpersonen ordnen Töne im Versuch umso unangenehmer und schrecklicher ein, je rauer sie sind. Während normale Töne in erster Linie im Hörzentrum verarbeitet werden, aktivieren die Schreilaute bevorzugt die Amygdala, also das Angstzentrum im Gehirn, das eine wichtige Rolle bei der schnellen Bewertung von Gefahrensituationen spielt, damit der Mensch rasch auf bestimmte Reize reagieren kann.

    Bei vielen Arten signalisieren Schrei-Rufe die affektive Bedeutung von Ereignissen für andere, wobei angenommen wird, dass Schrei-Rufe im Grunde alarmierender und furchteinflößender Natur sind, um potenzielle Bedrohungen zu signalisieren, mit sofortiger, unwillkürlicher und genauer Erkennung durch die Wahrnehmenden. Schreie sind beim Menschen aber auch Ausdruck von Freude oder Begeisterung. Daher sind Schrei-Rufe in ihrer affektiven Signalisierungsnatur vermutlich vielfältiger als nur auf die ängstliche Alarmierung einer Bedrohung beschränkt. Bisher ging man davon aus, dass das kognitive System von Primaten und Menschen speziell darauf abgestimmt ist, Signale von Gefahr und Bedrohung zu erkennen, doch im Gegensatz zu Primaten und anderen Tierarten scheint sich die Schrei-Kommunikation des Menschen im Verlauf der Evolution weiter diversifiziert zu haben.

    In der Wissenschaft erkennen Forschende zunehmend, wie vielfältig und strukturiert Schreie sein können und wie wichtig sie für das menschliche Leben sind. Kleine Babys schreien vor allem, wenn sie weinen, wobei es eine Vielfalt von Klicksen, Knatschen, melodischen Intervallen, von Singsang, von rauschigen Elementen gibt und es faszinierend ist zu sehen, wie Kinder diese Elemente kombinieren, wann sie sie äußern, wie sie sie äußern, ob das von der Stimmung abhängig ist, von der Umgebungssprache, vom Gesundheitszustand. Das frühkindliche Schreien unterscheidet sich von der Sprache der Erwachsenen gravierend, wobei Babys über das frühe Schreien direkt in die Sprache hineinwachsen, und zwar in ihrem Rhythmus und in die Art und Weise, wie sie Laute abwechselnd betonen oder nicht und ganze Melodiebögen erzeugen.

    Untersuchungen zeigen, dass Babys schon wenige Tage oder Wochen nach der Geburt in der Melodie der Sprache ihrer Umgebung weinen, wobei Kinder schon im Mutterleib eine Art Lauttraining durchgemacht haben, sodass Babys eigentlich vor der Geburt sich diese Dinge merken und nach der Geburt relativ schnell beginnen, diese Erinnerungsmuster, diese Gedächtnisspuren von den im Mutterleib gehörten melodischen Rhythmen in den eigenen Lauten einzubauen. Das kann so weit gehen, dass Babys Dialekteigenheiten übernehmen.

    Alle Babys auf der Welt beginnen mit dem Weinen melodische Übungen zu machen und diese melodischen Übungen, die scheinen sie auch in sehr systematischer Art und Weise zu machen, indem die Bögen zunächst sehr einfach sind und dann kombiniert werden miteinander zu Doppelbögen, zu Dreifach-, Vierfachbögen bis hin zu Fünffachbögen und auch selten einmal Sechs- und Siebenfachbögen innerhalb eines Lautes, also einer Expression. Die Kinder fügen dann zunehmend auch Intervalle und Pausen ein und probieren alle Laute aus, die sich mit Mund, Nase und Kehlkopf erzeugen lassen, wobei dieses universelle Repertoire dann an die Muttersprache angepasst wird, die sie ständig hören. Ab dem dritten Lebensmonat gehen sie verstärkt zu Lauten über, die keine Schreilaute mehr sind, denn dann tauchen auch die ersten Konsonanten auf, wobei sie in dieser Übergangsphase aber immer noch von dem profitieren, was sie im Schreien gelernt haben. Manche haben dann einen richtigen Drang, diese Laute zu äußern, und wenn sie diese leisen Töne nicht hinbekommen, zeigen sie im Gesicht eine Mimik, die sie sonst beim Schreien machen. Man denkt, in jedem Moment weint das Baby los, sie steigern sich sozusagen in diesen Zustand zurück und versuchen dann auf diese Weise im Nichtschreisystem diese Melodiebögen zu entwickeln.

    Ein intensiver Dialog mit der Bezugsperson zeigt auch, wie Bindungen zwischen Baby und Bezugspersonen auch über Laute hergestellt werden, wobei solche frühen Bindungen die persönliche Entwicklung eines Menschen entscheidend mitprägen. Schreien ist demnach eines von unterschiedlichen Bindungsverhaltensweisen, das die Funktion hat, Nähe herzustellen. Ältere Kinder, die in ihrer motorischen Entwicklung weiter sind, können die Nähe zu ihrer Bezugsperson selber herstellen, also zur Mutter hinkrabbeln oder hinlaufen, wenn sie Nähe wollen, doch ein kleinerer Säugling, der sich noch nicht fortbewegen kann, der hat damit eigentlich als einzige Möglichkeit der Mutter oder dem Vater mitzuteilen, dass es Nähe herstellen will.

    Mit der Zeit können Bezugspersonen aus den Schreien eines Kindes genau heraushören, welchern Bedarf in diesem Moment vorliegt, also welche Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Alle Eltern wissen, dass der Dialog mit dem schreienden Kind scheitern kann, wobei sich das reduzieren lässt, wenn die Eltern feinfühlig auf die Signale ihres Kindes reagieren, denn erkennen sie dessen Bedürfnisse in der Regel rasch und reagieren darauf, wirkt sich das auch langfristig positiv aus. Damit bekommt ein Kind Bindungssicherheit und damit, so die Vorstellung der Bindungstheorie, kann es sich später dann in der Umwelt zurechtfinden und auf der Basis dieser sicheren Bindung auch die Umwelt erkunden und Autonomie entwickeln. Reagieren die Eltern dagegen oft zu spät oder falsch auf das Schreien, kann das Kind bindungsunsicher werden, denn es entwickelt dann weniger Mut, mit anderen Menschen zu kommunizieren und die Umwelt zu erkunden. Das kann auch dazu führen, dass jemand als Erwachsener aggressiver ist, sich nicht so gut im Griff hat und öfter herumbrüllt, sodass vermutlich der Umgang mit dem kindlichen Schreidrang auch eine Schule für das ist, was man als Selbstregulation bezeichnet. Mit neun Monaten sind Kinder schon in der Lage, ihre Emotionen im Prinzip selbst zu regulieren, zeigen relativ wenig negative Emotionen und ihre emotionale Verfassung ist auch nicht mehr so abhängig vom Verhalten der Bezugspersonen, denn sie haben im Prinzip gelernt, solche Situationen zu bewältigen.

    Im Lauf der Jahre wird das Schreien der Kinder normgerechter, also angepasst an das, was die Gesellschaft erwartet, dass man lernt, seinen Ärger oder seine Wut nur in einer akzeptablen Weise auszudrücken. Dabei spielen neben der Familie auch die Peergroup und die Schule eine wichtige Rolle: Was wird akzeptiert, was stößt auf Widerstand? Die Kinder und Jugendlichen werden sich ihres Schreiens darüber zunehmend bewusst und können dieses so kontrollieren, dass es möglichst wenig anstößig ist. Die Art und Weise, wie Menschen schreien, zeigt also, inwieweit sie zu einer sozial integrierten Persönlichkeiten geworden sind.

    Man weiß aus der Entwicklungspsychopathologie, dass aggressives, antisoziales Verhalten oft von Emotionsregulationsproblemen, die schon sehr früh in der Kindheit beobachtet wurden, herrühren können. Der Umgang mit dem frühkindlichen Schreien legt zwar nicht unmittelbar fest, ob jemand auch als Erwachsener aggressiv ist und oft unkontrolliert herumbrüllt. Ein Ausbruch von Ärger kann durchaus auch etwas Befreiendes haben, sodass man auf keinen Fall Menschen, die auch einmal in Konflikten schreien für pathologisch erklären muss.


    Übrigens ahmen Weckerhersteller die akustischen Eigenarten eines menschlichen Schreies mit ihren Alarmtönen sehr gut nach. Alarmtöne von Weckern weisen eine ähnliche akustische Struktur auf, wobei die Hersteller vermutlich damit die menschliche Stimme nachahmen wollen. Die Frequenz von normaler Sprache liegt zwischen vier und fünf Hertz, die von Schreien oder geschrienen Sätzen aber zwischen 30 und 150 Hertz, sodass sie auf diese Weise aus anderen Rufen herausstechen und vom Gehirn sofort als alarmierend wahrgenommen werden.


    Texte im Internet gehorchen übrigens anderen Regeln als gedruckte Texte, denn wenn man im Web in GROSSBUCHSTABEN schreibt, dann bedeutet dies, dass man schreit und das wird in der Regel als unhöflich eingestuft. Daher sollte man also in Kommentaren, in Foren, bei Tweets, bei Postings auf Twitter oder Facebook etc. auf die Verwendung von Großbuchstaben verzichten. Möchten man einmal ein einzelnes Wort betonen, kann man es zwar groß schreiben, man kann nach dem betreffenden Wort aber auch ein Rufzeichen in Klammer (!) setzen oder man schreibt das Wort einfach g e s p e r r t. In manchen kommunikativen Medien werden Postings von Usern und Userinnen, die vorwiegend in Blockbuchstaben schreiben, als Spam eingestuft .


    Literatur

    Arnal, Luc H., Flinker, Adeen, Kleinschmidt, Andreas, Giraud, Anne-Lise & Poeppel, David (2015). Human Screams Occupy a Privileged Niche in the Communication Soundscape. Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2015.06.043. Burra, Nicolas, Kerzel, Dirk, Munoz Tord, David, Grandjean, Didier, Ceravolo, Leonardo (2018). Early spatial attention deployment toward and away from aggressive voices. Social Cognitive and Affective Neuroscience, doi: 10.1093/scan/nsy100.
    Frühholz, S., Dietziker, J., Staib, M. & Trost, W. (2021). Neurocognitive processing efficiency for discriminating human non-alarm rather than alarm scream calls. PLoS Biology, 19, doi:10.1371/journal.pbio.3000751. Burra, Nicolas, Kerzel, Dirk, Munoz Tord, David, Grandjean, Didier & Ceravolo, Leonardo (2018). Early spatial attention deployment toward and away from aggressive voices. Social Cognitive and Affective Neuroscience, doi: 10.1093/scan/nsy100.
    Stangl, W. (2020, 24. März). Wenn Menschen schreien, geht es nicht nur um Gefahr. was stangl bemerkt …
    https:// bemerkt.stangl-taller.at/wenn-menschen-schreien-geht-es-nicht-nur-um-gefahr
    Stangl, W. (2020, 24. März). Sprache, Emotion und Persönlichkeit. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/Kommunikation-Sprache.shtml
    https://www.swr.de/swr2/wissen/schreien-eine-verkannte-faehigkeit-swr2-wissen-2022-02-24-102.pdf (22-02-24)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Netiquette (14-12-12)


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