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Minderwertigkeitskomplex

    Minderwertigkeitskomplex oder auch Minderwertigkeitsgefühl bezeichnet ein seelisches Empfinden, das ein Gefühl der eigenen Unvollkommenheit ausdrückt, wobei dieser Begriff, der bis dahin nur in der Kunst- und Literaturtheorie gebräuchlich war, von Alfred Adler für die Psychologie entdeckt und als zentralen Begriff der Individualpsychologie eingeführt wurde.

    Mit Minderwertigkeitsgefühlen belastete Menschen leiden unter einem negativen Selbstbild, d. h., ihre Leistungen und Erfolge scheinen ihnen nie genug zu sein, denn sie stellen oft unerfüllbare Ansprüche an sich selbst. Betroffene neigen daher zum Perfektionismus, fühlen sich dabei minderwertig und reagieren depressiv, wenn ihre Handlungen nicht ihren hohen Anforderungen genügen. Wer an Minderwertigkeitskomplexen leidet, zieht sich häufig in sich selbst zurück, um die Konfrontation mit Anderen zu vermeiden, wobei ein Mangel an sozialen Kontakten und die daraus resultierende Einsamkeit den Minderwertigkeitskomplex weiter verstärken.

    Das Minderwertigkeitsgefühl gehört nach Adler zur Grundsituation jedes Menschen und lehnte die Möglichkeit der individuellen Vererbung ab und anerkannte bloß die Umwelteinflüsse als prägende Kräfte. Er stellte fest, dass es gewisse Menschen mit geschädigten oder geschwächten Organen (Organminderwertigkeit) ausgerechnet auf den durch die Schädigung betroffenen Gebieten zu überdurchschnittlichen Leistungen bringen können. Ein Musterbeispiel war für ihn der griechische Redner Demosthenes, der von Natur aus eine schwache Stimme hatte und erst noch an einem für eine Rednerlaufbahn höchst hinderlichen Tic litt. Bekanntlich konditionierte er sich den Tic weg, indem er ein Schwert mit der Spitze nach unten an die Decke über seine nackte Schulter hängte, so dass er jedesmal gestochen wurde, wenn seine Schulter unnötigerweise nach oben zuckte. Und um seine Stimme zu stärken, stellte er sich an die Meeresküste und schrie seine Reden gegen die tosende Brandung.
    In gewissem Sinne ist jeder Mensch bei der Geburt als minderwertig zu bezeichnen, da ihm der noch unreife Organismus die Äusserungen der spezifisch menschlichen Verhaltensweisen noch nicht gestattet (Mängelwesen). Adler ist davon überzeugt, dass das Kleinkind diese „objektive Minderwertigkeit“ fühlt, da es sich unvermeidlich mit den älteren Kindern und Erwachsenen vergleicht. Es entsteht aus dem Erleben des kleinen Kindes, im Vergleich zu seiner Umgebung, der Erwachsenenwelt, hilflos, schwach und abhängig zu sein. Bestimmte Erfahrungen in der frühen Kindheit können dieses Gefühl, das zu negativer Selbstbewertung führt, zu einem Minderwertigkeitskomplex verstärken, der dann den Grundstock zu neurotischen Entwicklungen legt. Andererseits bezeichnet Adler das Minderwertigkeitsgefühl auch als treibende Kraft: Wer sich vollkommen fühlt, ist nicht motiviert zu lernen. Das Minderwertigkeitsgefühl steht in einem Spannungsverhältnis zum Streben nach Überlegenheit bzw. der Überwindung von Mangellagen. Adler führt sogar allen Fortschritt in der Kultur und Zivilisation auf die menschliche Ausgangsposition der Minderwertigkeit zurück, denn so wie der Säugling in seinen Bewegungen das Gefühl seiner Unzulänglichkeit verrät, das unausgesetzte Streben nach Vervollkommnung und nach Lösung der Lebensanforderungen, so ist die geschichtliche Bewegung der Menschheit als die Geschichte des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Lösungsversuche anzusehen.

    Alfred Adlers Interesse richtete sich daher weniger auf den Sexualtrieb oder die Kindheitsanalyse, sondern mehr auf den Selbstwert von Menschen und das soziale Miteinander. Er war überzeugt, dass die Beschäftigung mit dem eigenen Leid nicht glücklich machen kann, d. h., man muss etwa Neurotiker von sich selbst ablenken und ermutigen, sich über die Mitmenschen Gedanken zu machen. Denn wer anderen hilft und sich bemüht gemeinsame Ziele kooperativ zu erreichen, wird glücklicher werden, als wer nur den eigenen Vorteil sucht. Das Minderwertigkeitsgefühl im Sinne Adlers bedarf daher der Kompensation durch das Hinwenden zur Gemeinschaft.

    Alfred Adler war überzeugt, dass die Kindheitsjahre nicht der Hauptbestandteil in der Psychotherapie sein sollten, sondern viel mehr die Gegenwart. Der Mensch ist ein ganzheitliches Individuum und das meiste ist ihm bewusst oder vorbewusst, doch für manche Erinnerungen und Gefühle fehlen ihm einfach Worte und Bilder, diese einzuordnen, weil sie als Kind erlebt und nicht verstanden worden waren. Adler arbeitete daher oft mit Metaphern und Geschichten, die von der Dynamik her der Problematik des Klienten ähnelten, um ihnen kleine Anstöße zu geben, damit sie leichter um ihre eigene Problematik einen Bedeutungsrahmen bauen konnten. In der Therapie geht es daher immer darum, dort zu ermutigen, wo die Menschen keinen positiven Selbstwert besitzen, welchen Erfahrungen sie immer eher aus dem Weg gegangen sind. Menschen versuchen dabei alle Situationen zu vermeiden, in denen sie sich minderwertig fühlen, wobei das zumeist Situationen sind, die sie abwerten bzw. in denen sie sich nicht erfahren und sicher fühlen. Um das Minderwertigkeitsgefühl nicht erleben zu müssen, überspielen es manche Menschen, verhalten sich stereotyp, um ihre vermeintliche Minderwertigkeit zu verbergen. Nach Adler ist es daher wichtig, Minderwertigkeitsgefühle zuzulassen und zu erkennen, wo man mehr Erprobung und Ermutigung benötigt.

    Literatur

    Stangl, W. (2019). Individualpsychologie Alfred Adler (1870-1937). [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPSYCHOLOGIE/PSYCHOLOGEN/Adler.shtml (2019-07-25).
    http://www.bruehlmeier.info/adler.htm (17-11-21)
    https://kontrast.at/alfred-adler-minderwertigkeitskomplex-psychologie/ (19-07-24)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Minderwertigkeitskomplex (03-12-11)

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