Hyperthymesia

Hyperthymesia – in der Forschung auch als „Highly Superior Autobiographical Memory“ (HSAM) bezeichnet – bezeichnet die außergewöhnliche Fähigkeit einiger Menschen, persönlich Erlebtes schnell, detailreich und über Jahrzehnte hinweg präzise zu erinnern. Betroffene können häufig auf ein beliebiges Datum eine Fülle an szenischen Details, Gefühlen und Begleitumständen abrufen, ohne dabei bewusst Mnemotechniken einzusetzen. Diese Form des Erinnerns ist selektiv autobiografisch, d. h., sie betrifft vor allem das eigene Leben und wird typischerweise durch Datumsreize angestoßen, und unterscheidet sich damit deutlich von den Leistungen von Gedächtniskünstlern, die Listen oder Fakten mithilfe trainierter Strategien wie der Loci-Methode speichern. Wissenschaftlich bekannt wurde das Phänomen durch den „AJ“-Fallbericht von Parker, Cahill und McGaugh (2006). Seither sind einige wenige Dutzend verlässliche Fälle beschrieben worden, wobei aktuelle Übersichtsarbeiten die Seltenheit, die außergewöhnliche Datumsbindung und die potentiellen Implikationen für Medizin und Rechtspsychologie betonen.

So gibt es etwa den Fall einer 17-Jährigen, die ihre Erinnerungen in einem Gedächtnispalast organisiert und so eine emotionale Überwältigung vermeidet. Die Frau sortiert autobiografische Episoden in einem mentalen Raum in thematische Bereiche und nutzt Räume zur Emotionsregulation. Bemerkenswert ist zudem ein familiärer Bezug zur Synästhesie, was bedeutet, dass HSAM nicht nur durch Quantität der Erinnerungen, sondern auch durch subjektiv erlebte Strukturierung und Kontrolle geprägt sein kann – ein Hinweis, der für therapeutische Ansätze bei Gedächtnisproblemen interessant ist, ohne dass HSAM selbst eine trainierbare „Supertechnik“ wäre.

Was die neuronalen Grundlagen angeht, zeichnet sich ein differenziertes Bild ab. Frühere Einzelstudien berichteten teils strukturelle Besonderheiten (etwa Abweichungen in Temporallappenarealen oder dem Nucleus caudatus), doch die Befunde sind heterogen; eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit kommt zu dem Schluss, dass konsistente makroanatomische Unterschiede HSAM nicht charakterisieren. Stattdessen finden sich häufiger funktionelle Auffälligkeiten: eine Überaktivierung des üblichen autobiografischen Netzwerks (u. a. Precuneus/visuelle Areale) bei Erinnerung und Hinweise auf veränderte Ruhefunktions-Konnektivität des Hippocampus. Gerade diese funktionellen Muster passen zu der klinischen Beobachtung eines „automatischen“, stark szenisch-sensorischen Abrufs. Ergänzend legt eine neue fMRT-Studie mit einem „Directed Forgetting“-Paradigma nahe, dass HSAM-Personen beim aktiven Vergessen zusätzliche neuronale Ressourcen rekrutieren – also nicht nicht vergessen können, sondern Vergessen aufwändiger regulieren. Zusammengenommen stützt das die Annahme einer möglichen Überaktivierung von Netzwerken, relativiert aber die Idee eines einfachen strukturellen Sonderbaus.

Kognitiv zeigt HSAM ein spezifisches Profil: Allgemeine Intelligenz, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit oder exekutive Funktionen liegen meist im Normbereich; der Unterschied liegt im autobiografischen Bereich und insbesondere in der Stabilität über lange Zeiträume. In einer parametrischen Untersuchung erinnern HSAM-Personen nach Wochen, Monaten und Jahren mehr internale Episodendetails als Kontrollen, während sich bei ganz frischen Erlebnissen keine Vorteile zeigen – was gegen eine generelle Schnellkodierung und eher für Besonderheiten der Konsolidierung und des zeitlich verankerten Abrufs spricht. Eine gezielte Schulung zur Erzeugung von HSAM ist bislang nicht belegt; Trainingsgewinne klassischer Mnemotechniken übertragen sich nicht auf die spontane, datumsindizierte Lebensrückschau, die HSAM kennzeichnet.

Wichtig ist auch zu beachten, was HSAM nicht leistet: Es ist keine Immunität gegen Irrtümer. In kontrollierten Experimenten bilden HSAM-Probanden in bestimmten Paradigmen (z. B. Deese-Roediger-McDermott-Listen) ähnlich häufig „False Memories“ wie andere – ein starkes Argument dafür, dass auch außergewöhnliche autobiografische Genauigkeit auf denselben konstruktiven Mechanismen beruht wie normales Erinnern. Zugleich zeigen Teilstichproben leichte Zusammenhänge mit zwanghaften Tendenzen (z. B. auf der Layton Obsessional Inventory), die mit der Konsistenz des Abrufs korrelieren – was als Hinweis auf wiederholte, ritualisierte Rekonstruktion gedeutet wurde, ohne eine klinische Störung zu implizieren.

Offene Fragen betreffen die Entwicklung über die Lebensspanne, die Rolle von Synästhesie-nahen Kodierstilen und die Beeinflussbarkeit durch Training. Der aktuelle Forschungsstand tendiert zu der Annahme, dass HSAM die normale Alterskurve autobiografischen Erinnerns teilweise abflacht, also weniger altersbedingten Abbau zeigt, und dass sensorisch-visuelle Vorstellungsnetze beim mentalen Zeitreisen besonders stark beteiligt sind. Systematische Antworten zur Genetik, zu neurochemischen Markern oder zu generalisierbaren Interventionen stehen aber noch aus.

Literatur

Parker, E. S., Cahill, L., & McGaugh, J. L. (2006). A case of unusual autobiographical remembering. Neurocase, 12(1), 35–49.
LePort, A., Mattfeld, A. T., Dickinson-Anson, H., Fallon, J., Stark, C. E. L., Kruggel, F., Cahill, L., & McGaugh, J. L. (2012). Behavioral and neuroanatomical investigation of Highly Superior Autobiographical Memory (HSAM). Neurobiology of Learning and Memory, 98(1), 78–92.
LePort, A. K. R., Stark, S. M., & Stark, C. E. L. (2017). A cognitive assessment of Highly Superior Autobiographical Memory. Memory, 25(10), 1297–1309.
Mazza, V., et al. (2025). Altered brain activity during active forgetting in highly superior autobiographical memory. iScience, 26(8), 111234.
Patihis, L., Frenda, S. J., & Loftus, E. F. (2013). False memories in highly superior autobiographical memory individuals. Proceedings of the National Academy of Sciences, 110(52), 20947–20952.
Palombo, D. J., Alain, C., Söderlund, H., Khuu, W., & Levine, B. (2015). Hasher & Zacks revisited: Quantity and quality of autobiographical memories in HSAM. Frontiers in Psychology, 6, 2017.
Talbot, J., Convertino, G., De Marco, M., Venneri, A., & Mazzoni, G. (2025). Highly Superior Autobiographical Memory (HSAM): A systematic review. Neuropsychology Review, 35, 54–76.


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