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Soziales Gedächtnis

    Der Begriff soziales Gedächtnis – social memory – beschreibt soziale Bezugnahmen auf Vergangenes, zu dem neben Routinen, Praktiken oder bedeutsamen Objekten die unterschiedlichen Formen des Erinnerns, aber auch das Unterbleiben solcher Bezugnahmen im Sinne eines Vergessens in Gemeinschaften und Gesellschaften gehören. Soziales Gedächtnis ist ein Metabegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien. Die Bedeutungsspanne des Begriffes soziales Gedächtnis ist dabei ebenso groß wie die des kollektiven Gedächtnisses. Soziale Gedächtnisse und damit verbundene Prozesse des Erinnerns und Vergessens sind konstitutiv für gesellschaftliche Ordnungen.

    Das soziale Gedächtnis bezieht sich auf die Art und Weise, wie kollektive Erinnerungen innerhalb einer Gesellschaft gebildet, bewahrt und weitergegeben werden. Es umfasst nicht nur die individuelle Erinnerung, sondern auch die Art und Weise, wie gesellschaftliche Gruppen, Institutionen und Nationen bestimmte Ereignisse, Geschichten und Erfahrungen in einem gemeinsamen Gedächtnis verankern. Soziale Gedächtnisprozesse spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie kulturelle Identitäten gebildet werden und wie gesellschaftliche Normen und Werte über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das soziale Gedächtnis ist oft nicht statisch, sondern unterliegt einem ständigen Wandel, da es durch kulturelle, politische und soziale Einflüsse neu interpretiert und verändert wird. Es kann in verschiedenen Formen existieren, etwa in Erzählungen, Ritualen, Denkmälern oder durch Medien. Dabei wird oft selektiv entschieden, welche Erinnerungen und Narrative in das kollektive Gedächtnis aufgenommen werden und welche ausgelassen oder vergessen werden, was zu Prozessen der Inklusion und Exklusion führt. Wissenschaftler wie Maurice Halbwachs (1925) betonten die Bedeutung des sozialen Kontextes für die Bildung des Gedächtnisses, indem sie darauf hinwiesen, dass individuelle Erinnerungen immer in einem sozialen Rahmen eingebettet sind. Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs hat entscheidend zur Ausarbeitung des kollektiven Gedächtnisses beigetragen und vorangestellt, was seit den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder im Mittelpunkt, besonders der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, steht: Die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis, dessen zentrale Gesichtspunkte und die Vorraussetzungen zur Ausbildung eines solchen Erinnerungsvermögens. Halbwachs hat seine Theorie des La memoire collective (1950) im Zuge der medialen Neuerungen und Krisen der 1920er und 1930er Jahre begründet.

    Das soziale Gedächtnis hat aber nicht nur eine historische Bedeutung, sondern auch politische Implikationen, da es beeinflussen kann, wie Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit umgehen, welche Ereignisse als wichtig betrachtet werden und wie aktuelle politische und soziale Diskurse strukturiert werden. So spielt etwa das soziale Gedächtnis in der Erinnerung an den Holocaust oder an Kriegsereignisse eine zentrale Rolle, indem es darüber entscheidet, wie diese Erfahrungen in der Gegenwart weiterhin wahrgenommen und verarbeitet werden (Halbwachs, 1992). Halbwachs wurde übrigens 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.

    Das soziale Gedächtnis von Primaten

    Forschungen haben gezeigt, dass soziale Interaktionen für Primaten, einschließlich Menschenaffen, eine fundamentale Rolle spielen. Von frühester Kindheit an konzentrieren sich sowohl Menschen als auch Affen auf soziale Reize wie Gesichter und Gesten. Frühere Studien hatten darauf hingewiesen, dass Menschenaffen ein soziales Gedächtnis besitzen könnten – die Fähigkeit, sich besser an Objekte zu erinnern, wenn diese in einem sozialen Kontext präsentiert werden. Menschenaffen besitzen, ebenso wie Menschen, also vermutlich ein soziales Gedächtnis, das es ihnen ermöglicht, sich besser an Objekte zu erinnern, wenn diese in einem sozialen Kontext präsentiert werden. Diese Fähigkeit ist entscheidend, um in sozialen Gruppen zu interagieren, Wissen weiterzugeben und von den Handlungen anderer zu lernen. Eine neue Studie von Padberg et al. (2025) hat das soziale Gedächtnis von Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans untersucht und interessante Ergebnisse zutage gefördert, insbesondere in Bezug auf den Unterschied zwischen Erwachsenen und Jungtieren in Bezug auf ihre Gedächtnisleistungen. Die Tiere, deren Alter zwischen drei Monaten und 47 Jahren variierte, wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe sah ein Video, in dem eine menschliche Hand einen Turm baute, während der anderen Gruppe ein Video gezeigt wurde, in dem ein mechanischer Greifarm denselben Turm baute. Zwei Tage später wurde den Tieren der bereits bekannte Turm neben einem neuen, unbekannten Turm gezeigt. Ein längeres Betrachten des neuen Turms wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass sich die Tiere an den vertrauten Turm erinnerten. Die Ergebnisse zeigten, dass erwachsene Menschenaffen den Turm besser erinnerten, wenn sie sahen, wie er von einer menschlichen Hand statt von einem mechanischen Arm gebaut wurde. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass die Affen den Handlungen eines sozialen Wesens mehr Aufmerksamkeit schenkten als denen einer Maschine. Im Gegensatz dazu konnte diese Fähigkeit bei jüngeren Tieren nicht nachgewiesen werden. Dies lässt darauf schließen, dass das soziale Gedächtnis bei Menschenaffen, ähnlich wie bei Menschen, erst später im Leben voll entwickelt wird. Man führt diese Unterschiede auf mehrere Faktoren zurück, wie etwa die Art der Objekte, die Komplexität der Aufgaben oder die Dauer der Videos, die den Affen gezeigt wurden. In der Untersuchung wurde auch der Zusammenhang zwischen sozialer Aufmerksamkeit und Herzfrequenz berücksichtigt: Die Affen zeigten eine reduzierte Herzfrequenz, wenn sie das soziale Modell (die menschliche Hand) betrachteten, und eine beschleunigte Herzfrequenz beim Betrachten des mechanischen Modells. Diese Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass das soziale Gedächtnis von Menschenaffen durch erhöhte Aufmerksamkeit auf soziale Reize verbessert wird. Menschenaffen besitzen demnach über ein soziales Gedächtnis, das in vielerlei Hinsicht mit dem der Menschen vergleichbar ist. Allerdings während das soziale Gedächtnis von Menschen bereits in jungen Jahren gut ausgeprägt ist, benötigen Menschenaffen mehr Zeit, um diese Fähigkeit zu entwickeln.
    Literatur

    Halbwachs, M. (1992). Das soziale Gedächtnis: Vom kollektiven Gedächtnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    Padberg, M., Hanus, D., Thiele, M., Wang, D., Howard, L. H., Grosse Wiesmann, C., Maurits, L., Eckert, J. & Haun, D. B. M. (2025). Social attention increases object memory in adult but not younger great apes. Animal Behaviour, 221, doi:10.1016/j.anbehav.2025.123081
    Stangl, W. (2025, 22. Februar). Das soziale Gedächtnis von Primaten. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/5644/das-soziale-gedaechtnis-von-primaten.
    https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/soziales-gedaechtnis
    https://de.wikipedia.org/wiki/Soziales_Ged%C3%A4chtnis


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