Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses, unter dem Anschauungen zu geschichtlichen Vorgängen und Fakten manchmal zusammengefasst werden, ist kein psychologischer Begriff, denn dazu ist er viel zu unscharf gefasst. Zwar ist allgemein anerkannt, dass die Vergangenheit von Menschen deren Gegenwart prägt, aber die retrospektive Deutung geschieht stets vor dem Hintergrund aktuellen Wissens. Persönliches Erleben ist somit immer subjektiv geprägt, sodass bei der Verwendung des Begriffs eines kollektiven Gedächtnisses stets nach dem jeweiligen Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und zeitgeschichtlich geprägtem Umfeld zu fragen ist, wobei im Einzelfall stets beides zusammenwirkt und die Vorstellung von der Vergangenheit prägt. Das gilt in besonderem Maß auch für diejenigen, die einen Zeitabschnitt nicht selbst erlebt haben. Allerdings weiß man aus der Psychologie, dass eine Identifikation mit Ereignissen Menschen in ähnlicher Weise prägen kann wie das unmittelbar Erlebte, wobei Menschen zwar zur gleichen Zeit Ähnliches erfahren haben, aber doch ganz verschieden erlebt haben können.
Als implizite kollektive Erinnerungen werden jene biologischen, mentalen, sozio-kulturellen und materialen Faktoren bezeichnet, aus deren Zusammenwirken Formen des Erinnerns hervorgehen, die für die Mehrheit einer Gruppe von Menschen nicht intentional und nicht bewusst sind. Bei den wirkungsvollsten Gegenständen impliziter kollektiver Erinnerung handelt es sich um schematisierte Erinnerungen wie etwa Bildformeln, Narrative, Stereotypen, Weltmodelle, Wertvorstellungen oder bestimmte Verhaltensweisen, die oft affektiv aufgeladen und unbewusst als Teil des kollektiven Gedächtnisses von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Medien in ihrer gesamten Bandbreite spielen dabei eine wichtige Rolle, denn solche impliziten kollektiven Erinnerungen werden durch Primärmedien wie Gestik und Mimik, durch Oralität und Schriftlichkeit, durch Analogmedien und digitale Medien vermittelt.
Das kollektive Gedächtnis ist ein insofern ein wichtiges Phänomen, um soziales Verhalten zu verstehen, denn es verdeutlicht, wie sich etwa Mitglieder einer sozialen Gruppe gemeinsam an ein Ereignis ihrer Vergangenheit erinnern. Heute spielen vor allem die Medien eine zentrale Rolle in der Formung des kollektiven Gedächtnisses, wobei der Wandel zu Onlinemedien und vor allem sozialen Medien diesen Mechanismus verändern dürfte, denn heutzutage erhält man oft Neuigkeiten durch Facebook-Freunde oder über Twitter.
Der Begriff kollektives Gedächtnis aus philosophischer und soziologischer Sicht bezeichnet hingegen ganz allgemein die gemeinsame Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen, d. h., so wie jedes Individuum situativ zu einem individuellen Gedächtnis fähig ist, besitzt eine Gruppe von Menschen eine gemeinsames Gedächtnis. Dieses kollektive Gedächtnis bildet die Basis für gruppenspezifisches Verhalten zwischen ihren Angehörigen, da es dem Einzelnen ermöglicht, Gemeinsamkeiten vorzustellen. Das kollektive Gedächtnis nimmt mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit Bezug auf die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Verhältnisse, wirkt individuell auf eine Gruppe von Menschen und tradiert gemeinsames Wissen. Beim kollektiven Gedächtnis kann man zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis unterscheiden, wobei das kommunikative Gedächtnis mündlich weitergegebene Erfahrungen und Traditionen über einen Zeitraum von etwa drei Generationen nach dem Zeitpunkt des Geschehens liefert, also an Menschen gebunden ist, weil es von der Weitererzählung lebt. Im Gegensatz dazu steht das kulturelle Gedächtnis, welches nicht an Personen gebunden ist, denn hierbei werden Erinnerungen niedergeschrieben und für die Nachwelt etwa in Bibliotheken konserviert, auch über die dritte Generation nach dem Ereignis hinaus.
Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs zurück, der die These aufstellte, dass es eigentlich eine persönliche Erinnerung im strengen Sinn gar nicht gibt, denn das Umfeld beeinflusst alle Gedächtnisinhalte, d. h., sie sind stets sozial gerahmt. Tatsächlich werden neben dem selbst Erlebten viele unserer Erinnerungen durch Erzählungen anderen mitgeformt, etwa von Eltern, wie man sich an seine eigene Kindheit erinnert, persönliche Erfahrungen werden mit Geschichten von Freunden oder sogar mit Szenen aus Spielfilmen vermengt. Der soziale Rahmen der Erinnerungen bezieht sich einerseits auf die Menschen im Umfeld, die den Menschen helfen, ihre Gedächtnisinhalte abzurufen und diese dabei gelegentlich auch mitgestalten, und andererseits auf die Rahmenbedingungen der sozialen Umwelt, die Menschen als Orientierung dienen, um das Material vergangener Erfahrungen zu einem sinnvollen und stimmigen Ganzen zu verarbeiten. Für Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis ein Repertoire an Erzählungen über die Vergangenheit, das eine soziale Gruppe teilt, etwa eine Familie, eine Religionsgemeinschaft oder eine bestimmte soziale Schicht. Dabei gilt es zu beachten, dass das soziale Gedächtnis die Vergangenheit weder vollständig noch korrekt abbildet, sondern jene Phänomene in den Mittelpunkt rückt, die für das aktuelle Selbstbild einer Gruppe relevant erscheinen.
Literatur
Halbwachs, M. (1939). La mémoire collective. Paris: Presses Universitaires de France.
Halbwachs, M. (1967). Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektives_Ged%C3%A4chtnis (14-12-12)