Der Locus coeruleus – auch blauer Kern – ist eine kleine Region im Hirnstamm des Menschen, der als Hauptquelle des Neurotransmitters Noradrenalin einen großen Einfluss darauf hat, ob das Gedächtnis auch im Alter noch gut funktioniert. Dieser Kern besitzt eine schwarze Pigmentierung, die an der Hirnoberfläche bläulich durchschimmert, ist aber nur etwa 15 Millimeter groß und über ein weitverzweigtes Netz von Nervenfasern mit nahezu dem gesamten Gehirn verbunden. Als Neuromodulator reguliert Noradrenalin die Kommunikation zwischen Nervenzellen und trägt damit wesentlich zur Kontrolle von Stress, Gefühlen und Aufmerksamkeit bei. Zudem haben Tierstudien gezeigt, dass Noradrenalin auf zellulärer Ebene Umbauvorgänge unterstützt, die die langfristige Speicherung neuer Erinnerungen, Fähigkeiten und Kenntnisse ermöglichen. Man vermutet deshalb, dass erfolgreiche Lern- und Gedächtnisprozesse auf einem gut funktionierenden Locus coeruleus beruhen. Mit fortschreitendem Alter zeigt der Locus coeruleus zunehmend Verfallserscheinungen, die wahrscheinlich auf die Ansammlung von Giftstoffen aus dem Blutkreislauf sowie aus der Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umgibt, zurückzuführen sind. Neuere Forschungsergebnisse weisen zudem darauf hin, dass krankhafte Veränderungen im Zuge der Alzheimer-Demenz zuerst im Locus coeruleus auftreten könnten und von dort aus Hirnregionen erreichen, die für das Gedächtnis zuständig sind, bevor sie schließlich in späteren Krankheitsstadien große Teile des restlichen Gehirns erfassen.
Aufgrund der geringen Größe und der Lage tief im Hirnstamm war es bislang nahezu unmöglich, den Locus coeruleus am lebenden Menschen zu untersuchen, wobei nun dank neuer Methoden der MRT-Bildgebung sowie weiterentwickelter Analyseverfahren diese Gehirnregion nun nichtinvasiv sichtbar gemacht werden kann. Mit neuen Verfahren haben Dahl et al. (2019) den Locus coeruleus von jüngeren Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 33 Jahren und älteren Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 72 Jahren näher untersucht. Im Rahmen der Berliner Altersstudie II (BASE-II) wurde auch eine Reihe neuropsychologischer Gedächtnistests bearbeitet. Wie erwartet lösten die jüngeren Probanden und Probandinnen die Aufgaben im Mittel besser als die älteren, wobei aber auffällig war, dass diejenigen älteren Probanden und Probandinnen, deren Locus coeruleus denen der jüngeren Probanden und Probandinnen ähnelte, höhere Gedächtnisleistungen zeigten als ältere Probanden und Probandinnen, deren Locus coeruleus deutliche Anzeichen alterungsbedingter Veränderungen aufwies.
Es ist eine aber eine noch weitgehend unerforschte Frage, wie ist der menschlichen Gehirn gelingt, innerhalb kürzester Zeit von einem Zustand der Unachtsamkeit in einen fokussierter Aufmerksamkeit umzuschalten. Während Phasen der Unachtsamkeit ist das Gehirn von rhythmischen Fluktuationen neuronaler Aktivität geprägt, wobei in Momenten der Unachtsamkeit langsame rhythmische Aktivitätsmuster mit einer Frequenz von rund 10 Hertz (Alpha-Oszillationen) die aktive Verarbeitung von eingehenden Sinnesinformationen hemmen. Diese Alpha-Oszillationen können dabei als eine Art Filter verstanden werden, der die Empfindlichkeit des Gehirns für externe Informationen reguliert. Durch Zusammenführung der Ergebnisse verschiedener Studien konnte man jüngst beschreiben, wie Noradrenalin und der Thalamus bei der Kontrolle von Alpha-Oszillationen zusammenarbeiten könnten. Man nimmt nun an, dass das Noradrenalin des blauen Kerns die Alpha-Generatoren im Thalamus blockiert und dadurch die Empfindlichkeit des Gehirns für relevante Informationen reguliert. Wenn also eine Situation ein plötzliches Umschalten der Aufmerksamkeit erfordert, kann ein schneller Anstieg von Noradrenalin helfen, sich neu zu fokussieren und rasch zu reagieren.
Auch haben alterungsbedingte Beeinträchtigungen der Struktur und Funktion des Locus coeruleus weitreichende Folgen für Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Bei Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz sind im Locus coeruleus neuropathologische Veränderungen bereits sichtbar, bevor die ersten Verhaltensänderungen auftreten. Diese Periode könnte ein Zeitfenster darstellen, in dem die Krankheitsentwicklung noch beeinflusst werden kann.
Auch bei der Entwicklung körperlicher Abhängigkeiten spielt der Locus caeruleus eine Rolle, denn Opiate und auch Alkohol dämpfen seine Aktivität, wobei es im akuten Opiat-Entzug zu einer Überaktivität kommt und die Symptomatik ähnlich der einer Stressreaktion ist.
Aufmerksamkeitssteuerung durch den Locus coeruleus
In einer Studie von Grimm et al. (2014) konnte diese Region im Gehirn als jene identifiziert werden, welche die Steuerung der Aufmerksamkeit übernimmt. Dabei wurde unterschieden zwischen der Fokussierung auf eine einzelne Aufgabe und der Ausrichtung auf die gesamte Umgebung. Die Ergebnisse von Studien, welche die Optogenetik, Photometrie, Elektrophysiologie und funktionelle Magnetresonanztomographie bei Mäusen zum Gegenstand hatten, legen nahe, dass tonische und burstartige Muster der Locus coeruleus-Aktivität im Gehirn spezifische Hirnreaktionen auslösen, deren Ausprägung durch die unterschiedliche Dynamik der Noradrenalin-Freisetzung bestimmt wird. Eine moderate tonische Aktivierung führt zur Aktivierung von Regionen, die mit assoziativer Verarbeitung assoziiert sind, während eine burstartige Stimulation das Gehirn auf sensorische Verarbeitung ausrichtet. Die identifizierten Aktivierungsmuster gehen lokal mit einer erhöhten astrozytären und hemmenden Aktivität einher und verändern die topologische Konfiguration des Gehirns im Einklang mit der hierarchischen Organisation der Großhirnrinde. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass das System eine nuancierte Regulierung globaler Schaltkreisoperationen erreicht. Die Frequenz und Stärke der Aktivierung der Neuronen im Locus coeruleus scheint die Menge an freigesetztem Noradrenalin im Gehirn zu regulieren. Dies deutet darauf hin, dass die Hirnregion eine Art Schaltstelle zwischen verschiedenen Zuständen der Aufmerksamkeit darstellt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Beherrschung des Locus coeruleus ein entscheidender Faktor für die Leistung von Spitzensportlern ist.
Literatur
Dahl, M. J., Mather, M., Düzel, S., Bodammer, N. C., Lindenberger, U., Kühn, S., & Werkle-Bergner, M. (2019). Rostral locus coeruleus integrity is associated with better memory performance in older adults. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-019-0715-2.
Grimm, Christina, Duss, Sian N., Privitera, Mattia, Munn, Brandon R., Karalis, Nikolaos, Frässle, Stefan, Wilhelm, Maria, Patriarchi, Tommaso, Razansky, Daniel, Wenderoth, Nicole, Shine, James M., Bohacek, Johannes & Zerbi, Valerio (2024). Tonic and burst-like locus coeruleus stimulation distinctly shift network activity across the cortical hierarchy. Nature Neuroscience, doi:10.1038/s41593-024-01755-8.
Stangl, W. (2024, 17. September). Locus coeruleus. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5399/locus-coeruleus.
https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/auswirkungen-auf-lernen-und-gedaechtnis (19-09-20)
https://de.wikipedia.org/wiki/Locus_caeruleus (19-09-20)
https://www.mpg.de/18107370/0106-bild-wie-ein-blauer-kern-im-gehirn-unsere-aufmerksamkeit-lenkt-149835-x (22-01-08)