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Moral Licensing

    Moralisten sind Menschen, die sich dort kratzen, wo es andere juckt.
    Samuel Beckett

    Moral Licensing bzw. moralische Lizenzierung beschreibt das psychologische Phänomen, dass es bei Menschen ein Art moralisches Konto gibt, auf das diese einzahlen, wenn sie gute Taten vollbringen, und wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt etwas Schlechtes machen müssen, ziehen sie mental einen bestimmten Betrag von diesem moralischen Konto ab, sodass sie sich auf diese Weise von einem möglichen Schuldgefühl freikaufen können. Erst wenn der Kontostand unter null fällt, kehrt das Schuldgefühl wieder zurück. Beim Moral Licensing handelt es sich um eine unbewusste Ausgleichsmaßnahme, die letztlich auch in einer Art moralischem Freibrief münden kann.

    Moral Licensing stützt sich etwa auch auf die Beobachtung, dass Menschen, die in einem Lebensbereich Gutes tun, in anderen Bereichen weniger strenge Maßstäbe an sich anlegen, indem bei jeder Handlung unbewusst abgewogen wird, ob diese Handlung eher gut oder eher schlecht ist. Wann immer ein Mensch Gutes tut, also etwa beim Biobauern einkauft statt im billigeren Supermarkt, verbucht er diesen kleinen Beitrag zur Rettung der Umwelt als Einzahlung auf sein moralisches Konto, sodass er bei späteren Handlungen leichter ein Auge zudrücken kann.

    Moral licensing und Religiosität

    Während allgemein angenommen wird. dass Religion die moralischen Urteile und das prosoziale Verhalten von Menschen fördert, ist das Verhältnis zwischen Religiosität und Moral jedoch umstritten. Religion als eine weit verbreitete Facette der Kultur sollte nach allgemeiner Meinung die Entwicklung und den Ausdruck von Prosozialität positiv beeinflussen. Prosoziales Verhalten findet sich bekanntlich in allen Gesellschaften, entsteht früh in der Ontogenese und ist durch Wechselwirkungen zwischen Genen und Kultur geprägt.

    Bisher nahm man auch an, dass religiöse Werte die Erziehung lenkend unterstützen und Kindern beibringen, gütig und großzügig zu sein. Eine neuere Studie (Decety et al. (2015) zeigte aber, dass Kinder aus religiösen Familien weniger gerne teilen und Fehler anderer wesentlich kritischer einschätzen als Kinder aus nicht gläubigen Familien. Über eintausend Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren aus sechs unterschiedlichen Ländern (Kanada, China, Jordanien, Türkei, USA und Südafrika) erhielten in einem Versuch Sticker geschenkt, wobei die Experimentatoren sagten, dass nicht alle Kinder solche bekommen könnten, da die Zeit nicht dafür ausreiche. Wenn sie wollten, könnten sie den anderen Kindern, die sonst leer ausgingen, einige von ihren eigenen Aufklebern weitergeben. Es zeigte sich in dieser konkreten Situation, dass Kinder aus christlichen und muslimischen Haushalten deutlich weniger gern teilten als Kinder aus nicht gläubigen Haushalten. Je stärker dabei die Religiosität der Eltern war, desto mehr behielten sie die Aufkleber für sich, wobei bei älteren der Effekt deutlicher ausgeprägt war. Keine Rolle spielte übrigens die Art der Religion, denn christlich und muslimisch erzogene Kinder waren gleich großzügig oder geizig.

    In einem weiteren Experiment ging es um geringe Fehlverhalten von Anderen und wie ein solches zu bestrafen wäre. Auch dabei waren religiös erzogene Kinder strenger und traten für deutlich härtere Strafen ein als Kinder aus nicht gläubigen Familien. Dieses Verhalten stand dabei im Gegensatz zur Einschätzung ihrer religiösen Eltern, denn diese hielten ihre Kinder für ganz besonders emphatisch, wobei besonders Christen ihren Kindern einen hohen Gerechtigkeitssinn unterstellten.

    Die Ergebnisse früherer Studien, die Gläubigen besonders hohe moralische Werte bescheinigten, kamen wohl deshalb zustande, dass diese sich auf Selbstauskünfte gestützt hatten und nicht auf konkretes Verhalten. Als Erklärung vermutet man das Prinzip des moral licensing, also das Verhalten, dass eine gute Tat als unbewusste Rechtfertigung für oft schwerer wirkende Missetaten dient. Religiöse Menschen deuten ihren Glauben möglicherweise als Errungenschaft und rechtfertigen so unbewusst Egoismus und Intoleranz, sodass der Glaube an die Richtigkeit der Religion egoistisches Verhalten fördert und prosoziales Verhalten einschränkt. Siehe dazu die Anmerkung am Ende des Textes!

    Dazu passt auch folgendes Forschungsergebnis: Psychologen fanden bei der Auswertung von Ausleihdaten einer Universitätsbibliothek heraus, dass religiöse Buchtitel häufiger zu spät zurückgegeben wurden als weltliche Werke. Man vermutet daher, dass religiöse Menschen von anderen mitunter das Einhalten moralischer Prinzipien erwarten, die sie selbst nicht befolgen.

    Siehe dazu auch die moralische Selbstdarstellung.


    Anmerkung: Der Artikel von Decety et al. (2015) wurde auf Wunsch der AutorInnen zurückgezogen. Dazu die AutorInnen: „In unserem Beitrag berichteten wir über interkulturelle Unterschiede in der Frage, wie sich das religiöse Umfeld eines Kindes negativ auf sein Miteinander auswirkte, seine Beurteilung der Handlungen anderer und wie seine Eltern es bewerteten. Ein Fehler in diesem Artikel, unsere falsche Einbeziehung des Herkunftslandes als Kovariat in vielen Analysen, wurde in einer Korrespondenz von Shariff, Willard, Muthukrishna, Kramer und Henrich (https://doi.org/10.1016/j.cub.2016.06.031) hervorgehoben. Als wir diese Daten neu analysierten, um diesen Fehler zu korrigieren, fanden wir heraus, dass das Herkunftsland und nicht die Religionszugehörigkeit der wichtigste Prädiktor für mehrere der Ergebnisse ist. Während unser Titel, der feststellt, dass eine erhöhte Religiosität in den Haushalten eine geringere Beteiligung von Kindern voraussagt, nach wie vor signifikant ist, halten wir es für notwendig, die wissenschaftliche Aufzeichnung explizit zu korrigieren, und ziehen daher den Artikel zurück.“


    Literatur

    Decety, J., Cowell, J. M., Lee, K., Malcolm-Smith, S., Selcuk , B. & Zhou, X.  (2015). The negative association between religiousness and children’s altruism across the world. Current Biology, 25, 2951-2955.


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    2 Gedanken zu „Moral Licensing“

    1. Moral-Licensing-Effect und Corona-Maßnahmen

      Wenn Menschen sich lange an die Regeln gehalten hat, häuft sich gedanklich leicht eine Art moralischer Bonus an, was zu dem Gefühl führen kann, damit das Recht erworben zu haben, auch einmal über die Stränge schlagen zu dürfen. So lässt sich erklären, warum jemand zunächst ausdauernd auf den Besuch von Freunden verzichtet, am Tag X aber in die U-Bahn steigt und die Oma besucht, umarmt und im schlimmsten Fall ansteckt. Auch können illegale Partys auf solchen moralischen Freibriefen beruhen.

    2. Moral-Licensing-Effect und Diäten

      Wer schon einmal halbherzig Diät gemacht hat, kennt dieses Phänomen, denn den ganzen Tag über hat man Kalorien gezählt, und am Abend macht sich das Gefühl breit, sich jetzt endlich etwas Gutes tun zu dürfen. Man greift zur Chipstüte.

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