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Flynn-Effekt

    James Flynn entdeckte 1987 einen ständigen Anstieg der durchschnittlichen IQ-Werte in den westlichen Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg. Seitdem sprechen Psychologen vom Flynn-Effekt. Besonders in Ländern, in denen seit langem alle jungen Männer bei der Musterung einen Intelligenztest ausfüllen müssen, zeigte sich dieser Effekt. Der durchschnittliche IQ-Wert in einem Land steigt ungefähr alle 30 Jahre – also in ieder Generation um 20 Punkte. Diesem Flynn-Effekt wird dadurch Rechnung getragen, dass bei der Normierung von IQ-Tests die Verteilungen nachjustiert werden, sodass der Durchschnitt nach wie vor bei 100 liegt und nur jeweils zwei Prozent über 130 und unter 70 IQ-Punkte kommen.

    Gerald R. Crabtree (2012) widerspricht aber jenen Studien, denen zufolge der durchschnittliche Intelligenzquotient seit Anfang des 20. Jahrhunderts von Generation zu Generation stieg, also dem Flynn-Effekt, wobei Crabtree meint, dass die Steigerung von einem niedrigen Niveau ausgeht und die Zunahme durch bessere Bildung bedingt ist, aber nicht durch genetische Mutationen. Vor Tausenden von Jahren, als die Menschen noch in kleinen Gruppen durch die Wildnis streiften, waren intellektuelle Fähigkeiten entscheidend zum Überleben eines jeden Menschen. Die menschliche Intelligenz hängt von etwa 2000 bis 5000 Genen ab, wobei diese Erbanlagen für das Gehirn besonders anfällig für Mutationen sind, sodass die Menschheit seit 3000 Jahren Schritt für Schritt an Intelligenz einbüßt. Ursprünglich ließ der Selektionsdruck die menschliche Intelligenz stetig steigen, aber nach der Entwicklung der Landwirtschaft lebten Menschen in größeren Gruppen zusammen, die auch schwächere Individuen unterstützten, sodass nun wichtiger als die Intelligenz war, sich vor Krankheiten zu schützen, die in größeren Gruppen häufiger auftreten. Allerdings ist Vererbung nicht alles, wenn es um Intelligenz geht, denn Erziehung und Bildung beeinflussen die intellektuellen Fähigkeiten immer mehr, d.h., das intellektuelle Fundament der Gesellschaft ist derzeit relativ stabil.

    Neueste Untersuchungen zeigen, dass die Leistungsveränderungen nicht auf der globalen kognitiven Fähigkeit (g-Faktor) im Allgemeinen zustandekommen, sondern Zuwächse auf speziellen Intelligenzdomänen sind, wobei insbesondere Tests zum schlussfolgernden Denken am stärksten betroffen sind, während es nur einen kleinerer Zuwachs bei Testaufgaben gibt, die näher beim traditionellen Schulwissen liegen. Möglicherweise liegt ein Teil des Flynn-Effekts auch darin, dass sich die Testmethoden über die Zeit nicht wesentlich verändert haben, mit Ausnahme von vermehrtem Rateverhalten auf multiple-choice Tests, die mit mehr Testerfahrung von modernen Stichproben zu tun hat. Pietschnig & Voracek (2015) analysierten Testdaten von fast vier Millionen Menschen aus 31 Ländern zwischen 1909 und 2013 und konnten so den Flynn- Effekt erstmals über mehrere Länder hinweg überprüfen. Als mögliche Gründe für diesen Anstieg vermutet man bekanntlich bessere Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung, also Faktoren, die vor allem die frühkindliche Entwicklung verbessern. Außerdem dürften Verbesserungen in der schulischen Ausbildung dafür mitverantwortlich sein, doch dürfte weniger eine tatsächliche Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten für den Anstieg des Durchschnittsquotienten verantwortlich sein, vielmehr sind Menschen auch immer geübter im Umgang mit Tests, denn Menschen wissen inzwischen, dass Raten eine gute Strategie ist. Auch kommt es dazu, dass in einer immer spezialisierteren Welt spezifische Fähigkeiten scheinbar immer besser entwickeln, etwa das schlussfolgernde Denken, wodurch die Leistungen in Einzeltests steigen, die die verschiedenen Facetten von Intelligenz zu messen versuchen und dann wiederum zum IQ zusammengefasst werden und dadurch den Quotienten hinaufziehen. Das alles ist aber mit einem Anstieg der Gesamtintelligenz nicht gleichzusetzen. Die Analyse zeigte auch eindeutig, wie unterschiedlich der Anstieg über die Zeit hinweg ausfiel, denn in den 1920er- und 1930er-Jahren war der Anstieg in den USA relativ groß, während in Europa im Zweiten Weltkrieg deutlich weniger Zuwachs zu verzeichnen war. Danach stiegen die durchschnittlichen Testleistungen, wobei es in den letzten dreißig bis vierzig Jahren wieder zu einem Abflachen kommt.

    Neueste Metaanalysen einer Vielzahl von Primärstudien deuten auf eine globale Verlangsamung und möglicherweise bevorstehende Stagnation des Flynn Effekts hin bzw. man postuliert schon einen Anti-Flynn Effekt. Tatsächlich mehren sich in Studien die Evidenz für eine Umkehr des Flynn Effekts zumindest im europäischen Raum, wobei Ergebnisse aus einer Vielzahl von Ländern, die ursprünglich durch Zunahmen charakterisiert waren (Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Niederlande, Norwegen, Österreich, UK), nun Abnahmen in der durchschnittlichen Bevölkerungstestleistung zeigen. Als mögliche Ursachen für diesen Anti-Flynn Effekt wurden mitunter systematische Migrationseffekte oder Fertilitätseffekte vermutet. Pietschnig et al. (2018) haben diese Theorien nun erstmals in zwei unabhängigen Studien empirisch überprüft, wobei in einer ersten meta-analytischen Studie man die Einflüsse auf Stagnation und Umkehr des Flynn Effekts in Österreich anhand von den Ergebnissen mehrerer tausend Testpersonen auf Raumvorstellungstests untersuchte. Es zeigte sich, dass die Testergebnisse weder in linearer noch in kurvilinearer Beziehung zu Netto-Migration, absoluter Migration oder AsylwerberInnenzahl stehen. Weiters ließen sich keine Einflüsse von Fertilitätsraten der letzten vierzig Jahre auf die Bevölkerungstestleistung nachweisen. In einer Nachfolgestudie haben die Wissenschafter IQ-Testleistungsveränderungen in 21 Ländern an mehreren hunderttausend Testpersonen über einen Zeitraum von über 50 Jahren untersucht, in der sich die Befunde zu Fertilität bestätigen ließen. Insgesamt zeigen sich die beobachteten Ergebnisse konsistent mit Befunden, die darauf hindeuten, dass migrationsbedingte Änderungen nationaler Bevölkerungstestleistungen bestenfalls kurzlebig sind, denn ergänzende Untersuchungen haben gezeigt, dass auch in den weiteren hier untersuchten Ländern Migrationszahlen keinen Einfluss auf Testleistungsänderungen hatten.

    Die Ursachen des Anti-Flynn Effekts dürften auf den differenzierten Zusammenhängen mit spezifischen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten beruhen, d. h., dass steigende Fähigkeitsspezialisierung zu Anstiegen der Bevölkerungsintelligenz geführt haben, während allgemeine kognitive Fähigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend unverändert blieben. Wenn also die Leistung in spezifischen Fähigkeiten in der Bevölkerung ein Maximum erreicht (Ceiling-Effekt), sollten sich in Folge Abnahmen der Bevölkerungstestleistung zeigen. Die Veränderungen in den Testleistungen sind vermutlich ein Ausdruck der geänderten Anforderungen der Umwelt an die kognitiven Fähigkeiten.

    Wongupparaj et al. (2017) haben jüngst in einer Metastudie gezeigt, dass Menschen seit 1972 vor allem zunehmend schlechter bei Aufgaben werden, die das Arbeitsgedächtnis fordern, abschneiden, während gleichzeitig die Leistungen des Kurzzeitgedächtnisses besser geworden sind. Die Frage allerdings, ob sich der Flynn-Effekt seit den 90er Jahren umkehrt, ist damit aber nicht zu beantworten, denn in den untersuchten Studien ist der Anteil von Über-60-Jährigen, die an den IQ-Tests teilgenommen hatten, über die Zeit höher geworden. Das Arbeitsgedächtnis gehört aber zu jenen kognitiven Funktionen, die im Alter im Durchschnitt nachlassen, sodass ein Stichprobenbias die Ergebnisse mit beeinflusst haben könnte.

    Bratsberg & Røgeberg (2018) haben die IQ-Schwankungen an norwegischen RekrutInnen der Geburtsjahre zwischen 1962 und 1991 untersucht, in den sie genetische Veränderungen und Umweltfaktoren berücksichtigten. Auch hier konnte die Umkehr des Flynn-Effekts gezeigt werden. Genetische Faktoren dürften dabei aber eher eine untergeordnete Rolle spielen, denn sowohl der Flynn-Effekt als auch der gegenläufige Trend waren durch Umweltfaktoren erklärbar, da die IQ-Unterschiede zwischen Geschwistern innerhalb einer Familie groß genug waren, um die langfristigen Trends zu erklären.

    In einem Interview mit Tanja Gabriele Baudson sagte 2016 anlässlich des Psychologenkongresses in Dresden Jakob Pietschnig (Universität Wien) dazu: „Mittlerweile scheint gesichert, dass es sich nicht um eine einzige Ursache handelt, sondern dass mehrere Faktoren verantwortlich sein dürften. Aus einer Vielzahl an vorgeschlagenen Theorien (es gibt derer so um die 20) scheinen bessere und längere Beschulung, verbesserte Ernährung sowie medizinische Versorgung und Hygiene am plausibelsten mit den beobachteten Daten übereinzustimmen. Aber auch (…)  Testrateeffekte und sogenannte soziale Multiplikatoren (d.h. verstärkte Belohnung durch die Umwelt für gewisse intelligente Verhaltensweisen) scheinen eine Rolle zu spielen. Interessanterweise zeigt sich jedoch in den letzten 2-3 Jahrzehnten eine scheinbare Abflachung und sogar eine Stagnation oder Umkehr des Flynn-Effekts in einigen Ländern. Theorien zur Erklärung von dieser Beobachtung gibt es noch nicht so viele. Denkbar wären natürlich Deckeneffekte von IQ-steigernden Faktoren und die Manifestierung von negativen Zusammenhängen des Flynn-Effekts mit psychometrischem g. (…) Grundsätzlich kann man festhalten, dass der Flynn-Effekt in verschiedenen Ländern verschiedene Ausprägungen zeigt. Nichtsdestoweniger waren bis in die Mitte der achtziger Jahre die Veränderungen fast überall positiv. Erst seitdem zeigt sich Evidenz für ein Abflachen und spätere Stagnation und Umkehr in Ländern wie Dänemark, Frankreich, aber auch Deutschland und Österreich. Erwachsene dürften übrigens mehr von den IQ-Zuwächsen profitiert haben als Kinder, währenddem das Geschlecht keine Rolle zu spielen scheint. (…) Der Flynn-Effekt ist einerseits methodisch interessant, weil er eine Herausforderung für die moderne psychometrische Testpraxis darstellt. Andererseits ist natürlich die Idee dass die Allgemeinbevölkerung über einen relativ kurzen Zeitraum solche massive Zuwächse zeigt, selbst wenn es sich nur um spezifische Fähigkeiten handelt, höchst interessant. Dieses Phänomen hat natürlich auch eine gesellschaftspolitische Komponente. Es kann zum Beispiel die Entscheidung, ob ein Kind eingeschult wird oder ein Jahr zurückgestellt wird, mitunter davon abhängen, ob ein Test mit veralteten oder aktuellen Normen im Rahmen der Einschulungsdiagnostik verwendet wurde (heutzutage würde man sich natürlich wünschen, dass im Falle einer adäquaten Entscheidung nicht nur zurückgestellt bzw. eingeschult würde, sondern dass auch entsprechende Förderungen im Falle von spezifischen Leistungsdefiziten erfolgen würden).


    Übrigens hat Raymond Bernard Cattell 1937 in seinem Buch «The fight for our national intelligence» geschrieben und auch in einer Formel berechnet, dass die Intelligenz in Grossbritannien alle zehn Jahre um einen IQ-Punkt sinken wird. Er erklärte das damit, dass Intelligenz bis zu einem gewissen Mass erblich sei und sich das untere Segment einer Population stärker fortpflanzt.


    Literatur

    Bratsberg, B. & Rogeberg, O. (2018). Flynn effect and its reversal are both environmentally caused. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi:10.1073/pnas.1718793115.
    Crabtree, Gerald R. (2012). Our fragile intellect. Trends in Genetic.
    WWW: http://dx.doi.org/10.1016/j.tig.2012.10.002.
    Pietschnig, J., & Voracek, M. (2015). One century of global IQ gains: A formal meta-analysis of the Flynn effect. Perspectives on Psychological Science, 10, 282-306.
    Pietschnig, J., Voracek, M., & Gittler, G. (2018). Is the Flynn effect related to migration? Meta-analytic evidence for correlates of stagnation and reversal of generational IQ test score changes. Politische Psychologie, 6, 267-283.
    Stangl, W. (2001). Intelligenz – was ist das?
    WWW: https://www.stangl-taller.at/TESTEXPERIMENT/testintelligenzwasistdas.html (08-11-21)
    Wongupparaj, P., Wongupparaj, R., Kumari, V. & Morris, R. G. (2017). The Flynn effect for verbal and visuospatial short-term and working memory: A cross-temporal meta-analysis. Intelligence, 64, 71-80.
    http://scilogs.spektrum.de/hochbegabung/interview-dr-jakob-pietschnig-und-der-flynn-effekt/ (16-10-09)


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