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Mentiologie

    Wahr ist, dass ein Lügner so genannt wird, weil er beim Lügen erwischt wurde. Fraglich ist nur, ob ehrliche Menschen vielleicht nicht einfach die besseren Lügner sind.
    Ümit Özsaray

    Der Grundkonflikt jeder Lüge ist meist eine Wahlsituation, denn entweder ist man ehrlich und verzichtet auf Vorteile oder man lügt, um an mehr an Geld, Macht oder Ruhm zu kommen. Das hängt dabei sowohl von persönlichen Faktoren als Umweltfaktoren ab. Allerdings sind die Ergebnisse der meisten Studien nicht eindeutig, teilweise sogar widersprüchlich, doch im Durchschnitt haben in vielen Studien 42 Prozent aller Männer und 38 Prozent aller Frauen gelogen, sodass die Vermutung, dass Männer häufiger lügen als Frauen, damit bestätigt werden konnte, auch wenn der Unterschied nur gering ist. Auch haben jüngere Menschen häufiger gelogen als ältere, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass jemand lügt, mit jedem Jahr um 0,28 Prozentpunkte sinkt. Während die Lügenfrequenz bei 20-Jährigen bei etwa 47 Prozent liegt, liegt sie bei 60-Jährigen nur noch bei 36 Prozent (Gerlach, Teodorescu, & Hertwig, 2019).

    Die Mentiologie ist ein Peter Stiegnitz in die Forschung eingeführter Begriff, der die Wissenschaft von der Lüge bezeichnet. Menschen, die wirklich überzeugt sind, dass Unwahrheiten real sind, sind in der Regel krank, denn dabei handelt es sich dann um Wahnvorstellungen, und Kranke haben kein Bewusstsein für Wahres und Unwahres. Das bewusste Lügen ist bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen häufig, denn so werden etwa bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung Todes- oder Krankheitsfälle von Angehörigen erfunden, um dadurch Aufmerksamkeit zu erlangen. Bei einer narzisstischen Störung erzählen betroffene Menschen, dass sie eine Berühmtheit kennen oder erfinden Dinge, die sie erreicht hätten. Hinzu kommt die antisoziale Persönlichkeitsstörung, bei der Psychopathen ohne Skrupel und Scheu lügen können.

    Die mentiologische Forschung (lat. „mentiri“ = „lügen“) unterscheidet verschiedene Kategorien von Lügen:

    • Die Selbstlüge
      Die Selbstlüge wird benutzt, um unliebsame Wahrheiten zu verdrängen. Wenn Menschen sichbetrunken ans Steuer setzen und sich einreden, sie hätten nach wie vor alles unter Kontrolle. Man sagt: „Das ist die letzte Zigarette!“, obwohl man genau weiß, dass man der Sucht nicht widerstehen kann. Mithilfe dieser Art Kontroll-Illusion kann man es aber auch schaffen, erfolgreich gegen Lebensängste anzukämpfen.
    • Die Notlüge aus Freundschaft
      Viele Schwindeleien entspringen vornehmlich dem Wunsch, seinen Mitmenschen eine Freude zu machen, sie nicht bloßzustellen oder gar zu verletzen. Man denke nur an die „nette“ todlangweilige Party oder an die völlig missratene Frisur, die der Nachbarin „wirklich gut steht“.
    • Die Geltungslüge
      Diese betrifft vor allem um Übertreibungen, mit denen andere Menschen beeindruckt werden und die das Bedürfnis nach Anerkennung stillen. Da wird der kleine Hügel, den man im Urlaub bestiegen hat, schnell zu einem Dreitausender. Birnbaum et al. (2020) haben die Strategien untersucht, , die Menschen anwenden, um potenzielle Sexualpartner zu beeindrucken, wozu Lügen, Beschönigungen und Täuschungsmanöver zählen. In Experimenten an StudentInnen konnten sie zeigen, dass sexuelle Gedanken oder Erregung die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass Menschen versuchen, gegenüber unbekannten Personen des anderen Geschlechts in möglichst positivem Licht zu erscheinen, und zwar auch auf Kosten der Wahrheit oder eigener Überzeugungen. Damit bestätigt die Studie, dass sich sexuell erregte Menschen stärker darum kümmern, wie sie von Personen anderen Geschlechts wahrgenommen werden, d. h., Menschen tun und sagen fast alles, um eine Verbindung zu einer unbekannten, attraktiven Person aufzubauen
    • Die Angstlüge
      Der Schutzfaktor bei der Angstlüge ist meist gering, da sich diese meist leicht überprüfen lässt. Statt ehrlich einen Fehler zuzugeben, will man den anderen etwas vormachen, etwa aus Angst vor unangenehmen Konsequenzen oder Bestrafungen.
    • Die skrupellose Lüge
      Lügen, die gezielt eingesetzt werden, um andere zu täuschen und zu benachteiligen, zu desinformieren oder in die Irre zu führen, haben den eigenen Vorteil zum Zweck und werden oft von karrieresüchtigen Menschen verwendet. Um sich selbst ins rechte Licht zu rücken, werden Kollegen oder Familienmitglieder beschuldigt, anstatt die eigenen Fehler einzugestehen

    Literatur zum Thema Lügen


    Der Intellekt entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung,
    denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren,
    weniger robusten Individuen sich erhalten,
    als welchen einen Kampf um die Existenz
    mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist.
    Friedrich Nietzsche (Über Wahrheit und Lügen im außermoralischen Sinn, 1896)

    Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit.
    Komischerweise. Die glaubt niemand.
    Max Frisch

    Psychologische Sicht auf die Lüge

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Auf Lügen hat man in der Psychologie einen sehr differenzierten Blick, denn Lügen gehören zum Alltag der Menschen, auch wenn Lügen Vertrauen und die Zusammenarbeit zerstören, Freundschaften und Partnerschaften gefährden oder gar unwiderruflich beenden können. Doch Lügen erfüllen unter bestimmten Bedingungen einen wichtigen Nutzen für die Gemeinschaft, auch wenn die oft kolportierten Zahlen von zweihundert täglichen Lügen, die im Internet als Zahl kursieren, vermutlich nicht stimmen. Lügen sind ein Fundament des Zusammenlebens, ein sozialer Kitt und sogar überlebenswichtig, denn Flunkern, Schwindeln, Täuschen und Verschweigen halten die Gemeinschaft zusammen. Viele Psychologen sehen etwa in der Selbsttäuschung einen Selektionsvorteil und nicht nur einen unbewussten Abwehrmechanismus, denn Menschen täuschen sich auch selber, um andere besser täuschen zu können. Vor allem Lebenslügen entwickeln sich oft in langsamen Lernprozessen, während derer die Menschen ihr Spiel nach und nach perfektionieren bzw. die imaginierte Rolle auf Grund der Reaktionen der Umwelt immer mehr und immer besser anpassen. Je mehr ein Mensch selbst an das Bild glaubt, das er in seiner Umgebung hervorrufen möchte, desto überzeugender wirkt er auch mit der Zeit, was gegenüber absichtlichen Lügen den Vorteil hat, dass die Gefahr des Selbstverrats immer geringer wird, denn bewusste Täuschungsabsichten verraten sich in irgendeiner Form beinahe immer non-verbal, denn „wer Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat, möge sich davon überzeugen, dass kein Sterblicher ein Geheimnis bewahren kann. Wenn seine Lippen schweigen, schwatzt er mit den Fingerspitzen: Verrat sickert durch jede seiner Poren“ (Sigmund Freud).

    Lebenslügen, Familienmythen und verzerrte Selbstbildern müssen nicht zwangsläufig zu eigenem oder fremden Leid und pathologischem Verhalten führen, sondern diese können auch als positive Illusionen Energien freisetzen oder schwierige Lebensphasen erträglicher machen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbsttäuschung kann dabei eine innere Zensur sein, eine selektive Wahrnehmung und Uminterpretation von Fakten, die zu einer selbstdienlichen Verzerrung (self-serving bias) führen. Dieses so gewonnene Selbstwertgefühl gilt es dann durch eine selbstauferlegte Ignoranz gegenüber realen Fakten, Bevorzugung von bestätigenden Informationen (confirmation bias) und das Vermeiden offensichtlicher logischer Widersprüche (kognitiver Dissonanzen) durch eine Dogmatisierung des eigenen Glaubens-Systems zu verteidigen.

    Man geht in der Psychologie daher aus gutem Grund davon aus, dass Lügen lebensnotwendig sind, denn sie dienen dazu, das Selbstwertgefühl zu erhöhen und einen leichteren Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen bzw. weil sie auch das Miteinander mit anderen Menschen erleichtern. Lügen ist daher aus psychologischer Sicht natürlich und gehört zum Grundbedürfnis, mit anderen Menschen zu kommunizieren dazu, wobei Lügen schon in der Sprache angelegt ist. Menschen müssen beim Lügen äußerst geschickt sein, sich in andere hineinversetzen können, um ein einmal errichtetes Lügengebäude aufrechtzuerhalten und vor allem um auch konsistent zu lügen. Lügen ist von der Logik her betrachtet eine komplexe Angelegenheit, denn Lügner und Lügnerinnen müssen beim Erzählen einerseits zurückschauen, um sich zu erinnern, was sie vorher gesagt haben, und andererseits gleichzeitig nach vorne schauen, um in ihren Aussagen konsistent zu bleiben. Die Menschen mischen daher beim Lügen Wahrheit und Unwahres, da es sie psychisch und emotional entlastet.

    Kinder lernen das Lügen, wenn sie etwa vier Jahre alt sind, denn in diesem Alter erlernen sie das, was man theory of mind nennt, d. h.,, sie entwickeln eine eigene theoretische Vorstellung darüber, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht. Diese Vorstellung ist beim Lügen enorm wichtig, denn zum Lügen benötigt man die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Überspitzt formuliert: Wenn ein Kind nicht das Lügen lernt, ist es in seiner Wahrnehmung der anderen Menschen bis zu einem gewissen Grad gestört.

    Setoh et al. (2020) haben untersucht, wie sich Lügen von Eltern langfristig auf ihre Kinder auswirken. Meist sind solche Lügen harmlos und außerdem gut gemeint, aber dennoch entsteht ein gewisser Widerspruch, denn die meisten Eltern halten Ehrlichkeit in der Erziehung für sehr wichtig, besonders gegenüber ihren Kindern. Bisherige Untersuchungen legen aber nahe, dass es kurz- wie langfristig nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn Erwachsene lügen, denn bei einem Versuch mit Fünf- bis Siebenjährigen logen Kinder bei einem Spiel häufiger, wenn zuvor auch der Versuchsleiter gelogen hatte. Die Probanden und Probandinnen wurden von Setoh et al. (2020) zu Lügen der Eltern in ihrer Kindheit und Jugend und zu ihrer eigenen damaligen und heutigen Lügenpraxis befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass diejenigen, die sich daran erinnerten, dass sie in ihrer Kindheit einem höheren Maß an Lügen ausgesetzt waren, ein höheres Maß an Täuschungen gegenüber ihren Eltern und ein höheres Maß an psychosozialer Fehlanpassung zeigten. Die Ergebnisse legen daher nahe, dass die Erziehung mit auch kleinen Lügen negative Auswirkungen auf die späteren psychosozialen Eigenschaften der Kinder im späteren Leben haben kann, denn möglicherweise wird dadurch das Vertrauen untergraben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dieser Probandengruppe nur um StudentenInnen und um erinnerte Lügen handelte.

    Die neuesten evolutionären, kulturellen und ökonomischen Theorien haben starke Verbindungen zwischen der menschlichen Sozialkompetenz und komplexer Kognition postuliert. Eine aus dieser Arbeit abgeleitete Vorhersage ist, dass Täuschung und Lügen Kindern einen kognitiven Nutzen bringen kann. In einem Experiment (Ding et al., 2018) hat man untersucht, ob das Erlernen von Täuschungstechniken in der frühen Kindheit die mentalen und exekutiven Kompetenzen fördern kann. Kinder, die keine Neigung zur Täuschung zeigten, wurden nach dem Zufallsprinzip einer experimentellen Gruppe oder einer Kontrollgruppe zugeteilt. In einem Versteckspiel sollten die Kinder Süßigkeiten verstecken und Erwachsenen anleiten, wo sie zu vielleicht zu finden wären. Wenn sie dabei die Erwachsenen erfolgreich täuschen konnten, durften sie die Süßigkeit zur Belohnung behalten. Unter beiden Bedingungen spielten sie an vier aufeinanderfolgenden Tagen dieses Spiel gegen erwachsene Gegner, doch nur den Kindern in der experimentellen Gruppe wurde beigebracht, wie man den Gegner täuschen kann, um das Spiel zu gewinnen. Im Gegensatz zu Kindern in der Kontrollgruppe verbesserten die Kinder im experimentellen Zustand signifikant ihre Selbstkontrolle und kognitiven Fähigkeiten und lieferten einen Beweis dafür, dass das Erlernen von Täuschungstechniken die kognitiven Fähigkeiten bei Kleinkindern steigern kann. Man kann nach Ansicht der AutorInnen daraus schließen, dass auch negativ zu bewertende menschliche Verhaltensweisen kognitive Vorteile mit sich bringen können, wenn dadurch Zielstrebigkeit, Problemlösungsstrategien und Perspektivübernahme anderer Menschen gefordert sind.

    Studien zeigen auch, dass Kinder, die während eines Experiments gelogen haben, in Tests, die ihr Gedächtnis sowie ihre sprachliche Kreativität untersuchten, besser abschneiden. Offensichtlich entwickeln Kinder, die gute Lügner sind, ein besseres Gedächtnis, weil man zum erfolgreichen Verbergen einer Lüge eine große Zahl von Fähigkeiten und geistige Flexibilität benötigt.

    In einer Umfrage mit über tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde in Deutschland 2016 die Einstellung zum Thema Ehrlichkeit untersucht, und hatte gefragt, wer wen wie häufig in welchen Situationen anlügt und aus welchen Gründen dies geschieht. Es zeigte sich, dass etwa drei Viertel der Lügen im direkten Gespräch von Angesicht zu Angesicht benutzt werden, jede fünfte Lüge wird telefonisch oder schriftlich übermittelt. Am häufigsten wird im Bekanntenkreis belogen, denn vier von zehn Befragten gaben an, am Vortag gegenüber Bekannten unehrlich gewesen zu sein, und jeder Dritte hatte im gleichen Zeitraum seinen Partner oder seinen Arbeitskollegen belogen. Den eigenen Kindern oder engen Freunden gegenüber ist gut jeder Vierte nicht ganz ehrlich gewesen, während Eltern und Vorgesetzte offenbar noch am ehesten als Respektspersonen wahrgenommen werden und nur noch knapp jeder Fünfte verwendet diesen Menschen gegenüber Lügen. Gründe dafür sind meist soziale, denn so möchte mehr als die Hälfte der Befragten andere nicht verletzen oder durch Lügen sogar schützen. Jeder Zweite findet die Wahrheit manchmal einfach unbequem oder möchte sich so Ärger ersparen, während jeder Vierte offenbar aus Kalkül lügt, um seine Ziele zu erreichen. Jeder Sechste lügt aus Angst heraus, sonst nicht gemocht zu werden. Im privaten Umfeld werden von knapp der Hälfte der Befragten andere Verpflichtungen vorgeschoben, wenn sie keine Lust auf ein Treffen mit Bekannten haben. Im Beruf wird am ehesten aus kollegialen Gründen gelogen oder um sich in ein besseres Licht zu rücken, denn vier von zehn Befragten würden den Vorgesetzten zum Schutz eines Kollegen belügen. Jeder Fünfte bläst seine Bewerbung mit übertrieben Fähigkeiten auf, um so seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Intrigen am Arbeitsplatz werden eher selten geschmiedet, denn die wenigsten würden eigene Fehler KollegInnen in die Schuhe schieben oder absichtlich falsche Informationen streuen, um ihnen zu schaden. Die vollständigen Ergebnisse der Studie unter https://www.splendid-research.com/studie-ehrlichkeit.html


    Eine Metaanalyse zur Psychologie der Lüge mit einer Zusammenfassung von 565 Studien (Gerlach, Teodorescu, & Hertwig, 2019) zeigte, dass die Tendenz zu Unehrlichkeit unter anderem von Alter und Geschlecht abhängig ist. Für diese Metaanalyse wurden publizierte sowie noch nicht publizierte Studien aus der Psychologie als auch aus den Wirtschaftswissenschaften herangezogen, wobei in diesen Studien das Ausmaß von Unehrlichkeit mit Hilfe von wenigen, aber sehr unterschiedlichen experimentellen Anordnungen untersucht wurden. Es zeigte sich, dass Unterschiede im Versuchsaufbau das Verhalten der Probanden beeinflussen und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen über das Ausmaß der Unehrlichkeit führen. Es ist daher beider Interpretation immer zu berücksichtigen, mit welchen experimentellen Situationen und Versuchungsanordnungen Menschen konfrontiert wurden. Unehrlichkeit ist daher nicht einfach nur eine Persönlichkeitseigenschaft, sondern auch die Bedingungen der Umwelt haben einen Einfluss auf das jeweilige Verhalten.


    Ziano (2021) hat untersucht, wie sich das Antwortverhalten von Menschen auf die Glaubwürdigkeit von Aussagen auswirkt. Er hat festgestellt, dass langsamere Antworten als weniger aufrichtig wahrgenommen werden, weil die Menschen denken, dass sie durch Gedankenunterdrückungsinferenzen verursacht werden. Er beobachtete aber auch Faktoren, die diesen Effekt reduzieren, etwa wenn eine Antwort als sozial erwünscht angesehen wird. Auch minimiert sich der Effekt, wenn Menschen denken, dass eine langsamere Antwort auf geistige Anstrengung zurückzuführen ist. Diese Forschungsergebnisse haben einige Konsequenzen, denn immer dann, wenn Menschen miteinander interagieren, beurteilen sie häufig auch die Aufrichtigkeit des anderen. Diese Erkenntnisse lassen sich auf eine breite Palette von Interaktionen anwenden, angefangen von Gesprächen am Arbeitsplatz bis hin zu Paaren und Freunden, die sich streiten. Wer also als besonders ehrlich wahrgenommen werden will, sollte sich beim Antworten auf eine Frage nicht zu viel Zeit lassen. Übrigens spielt auch bei der Beurteilung der Ehrlichkeit einer Antwort die Sprachmelodie eine gewisse Rolle, denn bei Menschen, bei denen die Tonhöhe am Ende von Worten abfällt, werden ebenfalls als aufrichtiger wahrgenommen.


    Blaue, schwarze und weiße Lügen

    Man spricht von „weißen Lügen„, wenn Unwahrheiten positive Folgen für andere haben und das Zusammenleben erleichtern, also um die gut gemeinte Notlüge. Man will mit dieser Form der Lüge bestätigen, bestärken, erfreuen, seine Wertschätzung ausdrücken und eine gute Stimmung erzeugen. Es gibt auch „blaue Lügen„, die Menschen helfen sollen, wobei man lügt oder etwas verschweigt, um jemand anderen nicht zu verraten. Auch diese Form der Lüge geschieht in erster Linie aus nicht-egoistischen Motiven, denn man bringt sich dadurch sogar selbst in Gefahr, als Lügner dazustehen. Selbstsüchtige Lügen hingegen geschehen aus egoistischen Motiven, man verspricht sich davon einen persönlichen Nutzen und nimmt den Schaden für andere in Kauf. Diese „schwarzen Lügen“ dienen nur dem Lügner, wobei man sich mit harmlosen schwarzen Lügen in ein besseres Licht stellen will. Der Schaden hält sich dabei meist in Grenzen, auch wenn man damit befördert, dass sich andere etwa in den sozialen Medien im Vergleich minderwertig fühlen. Solche Lügner geraten leicht ins soziale Abseits, denn früher oder später fliegen schwarze Lügen auf und sorgen für Empörung, Ächtung und Ausgrenzung (Scheuermann, 2021).


    RP-ONLINE trefflich über die Lüge: „Sie zählt ohne Frage zu den wichtigsten Notunterkünften der menschlichen Psyche. Wir suchen sie auf, wenn wir nicht weiter wissen, und wir ruhen uns bei ihr aus, um uns Vorteile zu erschleichen oder um Vorwürfe zu entkräften. Die Lüge hilft uns, für kurze Zeit das Ruhekissen aufzuschütteln. Aber nicht selten bleibt sie eine Erbse in unserem Gewissen, ein Plagegeist, ein Dorn, der an uns nagt und uns zwickt. Jeder Gelegenheitslügner wird von Reue geplagt oder von der Angst, überführt zu werden“.


    Literarisches zur Lüge von Wilhelm Busch

    Wer möchte diesen Erdenball

    Wer möchte diesen Erdenball
    Noch fernerhin betreten,
    Wenn wir Bewohner überall
    Die Wahrheit sagen täten.

    Ihr hießet uns, wir hießen euch
    Spitzbuben und Halunken,
    Wir sagten uns fatales Zeug,
    Noch eh‘ wir uns betrunken.

    Und überall im weiten Land
    Als langbewährtes Mittel
    Entsproßte aus der Menschenhand
    Der treue Knotenknittel.

    Da lob‘ ich mir die Höflichkeit,
    Das zierliche Betrügen.
    Du weißt Bescheid, ich weiß Bescheid;
    Und allen macht’s Vergnügen.

    Aus: Kritik des Herzens, 1874.


    Siehe dazu Lügen, Täuschen und Verdecken.

    Literatur

    Birnbaum, Gurit E., Iluz, Mor & Reis, Harry T. (2020). Making the right first impression: Sexual priming encourages attitude change and self-presentation lies during encounters with potential partners. Journal of Experimental Social Psychology, 86, doi:10.1016/j.jesp.2019.103904.
    Ding, Xiao Pan, Heyman, Gail D., Sai, Liyang, Yuan, Fang, Winkielman, Piotr, Fu, Genyue & Lee, Kang (2018). Learning to deceive has cognitive benefits. Journal of Experimental Child Psychology, 176, 26-38.
    Gerlach, P., Teodorescu, K., & Hertwig, R. (2019). The truth about lies: A meta-analysis on dishonest behavior. Psychological Bulletin, 145, 1-44.
    Scheuermann, U. (2021). Weshalb Lügen zu Unrecht einen schlechten Ruf haben.
    WWW: https://www.t-online.de/gesundheit/id_90735048/weshalb-luegen-zu-unrecht-einen-schlechten-ruf-haben-kolumne.html (21-09-05)
    Setoh, Peipei, Zhao, Siqi, Santos, Rachel, Heyman, Gail D. & Lee, Kang (2020). Parenting by lying in childhood is associated with negative developmental outcomes in adulthood. Journal of Experimental Child Psychology, 189, doi:10.1016/j.jecp.2019.104680.
    Sommer, V. (2015). Lob der Lüge. Wie in der Evolution der Zweck die Mittel heiligt. S. Hirzel.
    Stangl, W. (2004). Lügen, Täuschen und Verdecken.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/KommLuegen.shtml (04-06-21)
    Stiegnitz, Peter (2001). Die Wahrheit: Wir lügen alle.
    WWW: http://www.connection.de/cms/content/view/817/181/ (07-02-02)
    Stiegnitz, Peter (1997). Die Lüge – Das Salz des Lebens. Edition Va Bene.
    Ziano, I. (2021). Slow Lies: Slower Responses Are Perceived As Less Sincere, Because Of Inferences Of Thought Suppression. Journal of Personality and Social Psychology. Preprint.
    http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/psychologie/warum-luegen-menschen-aid-1.6189614 (16-08-23)


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    3 Gedanken zu „Mentiologie“

    1. Robert Feldman: Die Wahrheit über das Lügen

      Nach Robert Feldman gibt es sechs Gründe, um zu lügen:
      – Als soziale Taktik
      – Um jemandem zu schmeicheln
      – Um jemanden zu beeinflussen
      – Um bewundert zu werden
      – Um negative Konsequenzen zu vermeiden
      – Um eine Lüge aufrecht zu erhalten

    2. Küchenpsychologie

      Manche Menschen glauben, einen Lügner allein aufgrund ­seiner verdächtigen Körpersprache als solchen iden­tifizieren zu können. Das ist ein klassischer Fall von Küchenpsychologie. Die meisten Menschen hegen das Bedürfnis und in der Folge die subjektive Überzeugung, ihre Mitmenschen zu durchschauen. In Wahrheit raten sie meistens nur, und das nicht einmal besonders gut, denn die Unterschiede von Mensch zu Mensch sind viel zu groß, als dass sich aus der Körpersprache irgendetwas ablesen ließe. Lügen aufzudecken ist eine hochkomplexe Aufgabe, die dezidierte Kenntnisse über menschliche Wahrnehmungsfähigkeit und Gedächtnisphänomene erfordert.
      Alica Moh­nert, Ju­ris­tin und Di­plom-Psy­cho­lo­gin

    3. Mentiologe

      In einer Illustrierten fanden sich fünf Merkmale, an denen man angeblich erkennen kann, ob der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin lügt:

      • Ihr Gegenüber kommt gar nicht zum Ende.
      • Ihr Gegenüber ist wie angewurzelt.
      • Ihr Gegenüber wird aggressiv oder wütend.
      • Ihr Gegenüber wird rot.
      • Ihr Gegenüber blinzelt besonders häufig.

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