In der Psychologie bezeichnet der eher unscharfe Begriff Affordanzen- affordances – die Handlungsmöglichkeiten, die die Umwelt einem Organismus bietet. Der Begriff wurde James J. Gibson eingeführt und ist zentraler Bestandteil seiner ökologischen Wahrnehmungstheorie. Eine Affordanz beschreibt demnach nicht nur objektive Eigenschaften eines Gegenstands, sondern die potenziellen Interaktionen, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen den Eigenschaften der Umwelt und den Fähigkeiten eines wahrnehmenden Subjekts ergeben.
Ein klassisches Beispiel ist ein Stuhl, der einem erwachsenen Menschen die Möglichkeit bietet, sich zu setzen. Für ein Kleinkind kann derselbe Stuhl jedoch eine Klettergelegenheit darstellen. Affordanzen sind damit keine festen Eigenschaften eines Objekts, sondern relationale Angebote zur Interaktion, die abhängig vom Subjekt variieren. Gibson betont, dass Affordanzen direkt wahrgenommen werden können, ohne dass eine bewusste kognitive Interpretation erforderlich ist. Sie bestehen unabhängig davon, ob sie erkannt oder genutzt werden, und sind damit objektiv in ihrer Existenz, aber subjektiv in ihrer Bedeutung. Dieses Verständnis hebt sich von klassischen, stimulusgetriebenen Wahrnehmungstheorien ab, da es nicht um die passive Aufnahme von Reizen geht, sondern um die aktive Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten in einem bestimmten Kontext. Nach Gibson (1979, S. 127) bietet die Umwelt dem Organismus „what it provides or furnishes, either for good or ill“, also Möglichkeiten, die sowohl positiv als auch negativ sein können.
Das Konzept wurde später vom Design-Theoretiker Donald Norman aufgegriffen und erweitert. Er unterschied zwischen tatsächlichen Affordanzen („real affordances“) und wahrgenommenen Affordanzen („perceived affordances“). Besonders in der Mensch-Computer-Interaktion oder im Produktdesign spielt diese Unterscheidung eine zentrale Rolle: Ein Objekt soll idealerweise so gestaltet sein, dass seine Nutzung intuitiv erfassbar ist – etwa ein Türgriff, der durch seine Form zum Ziehen einlädt. Hier zeigt sich die praktische Bedeutung des Affordanz-Konzepts für die Gestaltung alltäglicher Gegenstände.
In der Forschung wird das Konzept der Affordanzen kontrovers diskutiert, denn einerseits wird es für seine Anschlussfähigkeit an verschiedene Disziplinen (Psychologie, Ergonomie, Design, Pädagogik) geschätzt, andererseits kritisieren einige Autoren seine begriffliche Unschärfe. In jüngeren theoretischen Ansätzen, etwa der Embodied-Cognition– oder der Situated-Cognition-Perspektive, erfährt der Begriff eine Renaissance, wobei insbesondere Anthony Chemero (2003) eine dynamischere, systemischere Fassung des Begriffs vorschlägt, die stärker auf die Interaktion und Veränderung zwischen Subjekt und Umwelt fokussiert ist.
In einer Studie untersuchen Bartnik et al. (2025), wie das menschliche Gehirn sogenannte Fortbewegungs-Affordanzen erkennt – also Möglichkeiten, sich in einer Umgebung durch Gehen, Schwimmen, Klettern oder andere Bewegungsformen fortzubewegen. Dabei geht es um die Frage, wie unser visuelles System die potenziellen Handlungsoptionen eines Raumes automatisch wahrnimmt, unabhängig von anderen visuellen Merkmalen wie Objekten oder Materialien. Man kombinierten dabei Verhaltensdaten, funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) und Deep Neural Networks (DNNs), um zu analysieren, wie Fortbewegungs-Affordanzen in realitätsnahen Innen- und Außenraumszenen verarbeitet werden. Dabei zeigte sich, dass das menschliche Gehirn – insbesondere die szenenselektiven Bereiche des visuellen Cortex – Affordanzen auf spezialisierte Weise darstellt. Diese Repräsentationen sind unabhängig von anderen visuellen Kategorien, wie Objektarten, Materialoberflächen oder der allgemeinen Szenenkategorie, und bestehen sogar unabhängig von der spezifischen Aufgabe, die die Versuchspersonen im Scanner ausführten.
In einer Clusteranalyse der Verhaltensdaten zu sechs typischen Fortbewegungsarten (z. B. Gehen, Klettern, Schwimmen) zeigten sich drei dominante Dimensionen, entlang derer Menschen Umgebungen in Bezug auf ihre Fortbewegungsmöglichkeiten systematisch gruppieren. Vergleichend dazu schnitten gängige Deep Neural Networks, die auf Objekt- oder Szenenerkennung trainiert wurden, schlechter ab. Ihre internen Repräsentationen korrelierten deutlich weniger mit den menschlichen Affordanzbewertungen und den neuronalen Daten. Selbst DNNs, die speziell auf Affordanzen trainiert oder mit affordanzenzentrierten Sprachmodellen ausgestattet wurden, konnten die menschlichen Wahrnehmungsstrukturen nicht vollständig abbilden.
Die Ergebnisse legen nahe, dass die Wahrnehmung von Fortbewegungs-Affordanz eine eigene Form der neuronalen Repräsentation darstellt, die über die bisherigen Modelle des visuellen Verstehens hinausgeht. Damit liefert die Studie wichtige Einsichten in die automatische und spezialisierte Verarbeitung von handlungsrelevanter Information im menschlichen Gehirn und verdeutlicht zugleich die aktuellen Grenzen künstlicher Systeme im Nachvollziehen dieser Fähigkeit.
Literatur
Bartnik, C. G., Sartzetaki, C., Puigseslloses Sanchez, A., Molenkamp, E., Bommer, S., Vukšić, N., & Groen, I. I. A. (2025). Representation of locomotive action affordances in human behavior, brains, and deep neural networks. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122(24), doi:0.1073/pnas.2414005122
Chemero, A. (2003). An outline of a theory of affordances. Ecological Psychology, 15(2), 181–195.
Gibson, J. J. (1979). The ecological approach to visual perception. Boston: Houghton Mifflin.
Michaels, C. F., & Carello, C. (1981). Direct perception. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
Norman, D. A. (1988). The design of everyday things. New York: Basic Books.