Der Begriff Embodied Cognition – manchmal auch Grounded Cognition oder Embodiment beschreibt eine Theorie der mentalen Repräsentation, die davon ausgeht, dass eine Wechselwirkung zwischen Kognition, Sensorik und Motorik besteht, und dass sich das in der Repräsentation von Denkprozessen widerspiegelt. Im Gegensatz zu den klassischen, mentalen Repräsentationskonzepten, die von amodalen Konzepten ausgehen und das Gehirn als die zentrale Instanz mentaler Repräsentation und Kognition ansehen, postuliert dieses Konzept, dass Denken nicht unabhängig vom Körper möglich ist und multimodal verkörperlicht ist.
Menschen nehmen ihre unmittelbare Umwelt dabei nicht bloß als Struktur physikalischer Reize wahr, sondern immer auch in Bezug auf ihre Möglichkeiten, d. h., sie vermessen ihren Bewegungsraum in Einheiten ihres Körpers, sodass Wahrnehmen und Handeln stets zusammenfallen. Im Gegensatz zum Kognitivismus, bei dem die Verkörperung des denkenden Menschen keine Rolle spielt und die Wahrnehmungen das Rohmaterial des Denkens bilden, das von den Sinnesorganen geliefert wird, nehmen nach dem Ansatz der Embodied Cognition Menschen die Welt überhaupt nur dann wahr, wenn sie mit dieser interagieren können, wobei diese Interaktion schon vor und in der Wahrnehmung repräsentiert ist. Dieses Handeln ist auch in der Sprache mit ihrer Symbolik, derer sich Menschen bedienen, im Gehirn verkörpert, also durch inneres Ausleben verstanden. Doch nicht nur Wahrnehmen und Sprechen, sondern alles Denken ist von der Körperlichkeit mit geprägt worden. Seit Antonio Damasios Theorie von den somatischen Markern wissen wir, dass sich auch Emotionen zuerst in Bezug auf den Körper ausdrücken.
Neuere Arbeiten zur Embodied Cognition legen nahe, dass körperliche Zustände Einfluss auf das menschliche Denken und Handeln nehmen, denn so aktiviert eine aufrechte Haltung mentale Konzepte wie Moral oder Dominanz. In einem psychologischen Experiment beeinflusste die Probanden bei eine lexikalische Entscheidungsaufgabe die zuvor aktivierten Konzepte Dominanz oder Moral (Hurtienne et al., 2014).
Das Konzept der embodied cognition spielt auch eine Rolle beim Lesen von Texten, wobei es einen Unterschied zwischen analoger und digitaler Lektüre gibt. Offensichtlich liest der Körper mit und denkt mit, d. h., er ist sogar ein wesentlicher Teil des Verstehensprozesses. Man nimmt an, dass die Haltung, die Menschen beim Lesen einnehmen, für die Konzentration nicht unwesentlich ist. Wer etwa lesend einen kleinen Handybildschirm durch überfüllte U-Bahnen zu manövrieren versucht, weiß aus Erfahrung, dass dabei vom Gelesenen nicht viel übrig bleibt. Eine Meta-Studie zeigt, dass lange Texte in gedruckter Form konzentrierter gelesen werden und besser im Gedächtnis haften bleiben. Dafür heben digitale Texte den Vorteil, dass sie besser auf die individuellen Bedürfnisse der LeserInnen zugeschnitten werden können. Vor dem Bildschirm überschätzen viele Menschen gerne ihre Verständnisfähigkeiten und verarbeiten das dort Gesehene und Gelesene fragmentarischer, d. h., sie überfliegen eher die Inhalte.
Studien haben nun die Möglichkeit untersucht, ob der mentale Rücktransport von Probanden zum Zeitpunkt der Codierung deren Gedächtnis verbessern kann. In sechs Experimenten (Brandt et al., 2019) wurde dabei untersucht, ob die Rückwärtsbewegung die Erinnerung im Verhältnis zur Vorwärtsbewegung oder zu den Bedingungen ohne Bewegung fördern würde. Die Probanden sahenzunächstn ein Video einer inszenierten Kriminalität (Experimente 1, 3 und 5), eine Wortliste (Experimente 2 und 4) oder eine Reihe von Bildern (Experiment 6). Dann gingen sie vorwärts oder rückwärts (Experimente 1 und 2), beobachteten ein vorwärts oder rückwärts gerichtetes optisches Strömungsbild (Experimente 3 und 4) oder stellten sich vor, vorwärts oder rückwärts zu gehen (Experimente 5 und 6). Schließlich beantworteten sie Fragen zum Video oder riefen Wörter oder Bilder in Erinnerung. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass bewegungsinduzierte, vergangenheitsorientierte mentale Zeitreisen die mnemonische Leistung für verschiedene Arten von Informationen verbessern.
Praktische Anwendung findet dieses Konzept etwa bei der Behandlung von Dyskalkulie.
Übrigens spielt dieser Zusammenhang zwischen Kognition und Umgebungswahrnehmung auch beim Lernen eine gewisse Rolle, da man beim Lernen immer auch die Lernumgebung in irgendeiner Form mitlernt. Zwar ist ein fixer und gut organisierter Lernplatz sinnvoll, doch beim Wiederholen sollte man diesen immer wieder verlassen und den Stoff mit anderen Umgebungen verknüpfen. Dadurch wird ein Lerninhalt nicht ausschließlich an eine konkrete Sensorik oder Motorik geknüpft! Siehe dazu https://news.lerntipp.net/lustiges-experiment-zum-lernen/
Literatur
Hurtienne, J., Löffler, D. & Schmidt, J. (2014). Zur Ergonomie prosozialen Verhaltens: Kontextabhängige Einflüsse von Körperhaltungen auf die Ergebnisse in einem Diktatorspiel. TEAP’14 Tagung experimentell arbeitender Psychologen. In A. C. Schütz, K. Drewing, K.R. Gegenfurtner (Hrsg.), Abstracts of the 56th Conference of Experimental Psychologists. Pabst.
https://www.nzz.ch/feuilleton/der-koerper-liest-mit-digital-anders-als-auf-papier-ld.1454302 (19-01-27)
Man schüttet beim Embodiment mal wieder das Kind mit dem Bade aus. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass nicht nur Reize aus der Umwelt, sondern selbstverständlich auch aus dem eigenen Körper neuronal verarbeitet werden. Daraus den Schluss zu ziehen, Kognition findet im ganzen Körper statt, ist kurzschlüssig und naiv. Natürlich bin ich nicht nur mein Hirn, sondern mein ganzer Körper. Aber es ist mein Gehirn, das mich meinen ganzen Körper erleben lässt. Der Nagel meines kleinen Zehs kann an der neuronalen Verabeitung nicht teilhaben, diese ist es aber gerade, die (neuronales) Erleben hervorbringt. Die einzelne Körperzeller hingegen arbeitet proteinsynthetisch, nicht neuronal.
Muss man aus der Tatsache, dass der Körper interativer Bestandteil unserer subjektivität ist, gleich ein epistemisches Konstrukt machen?
Anmerkung: Ich denke, das Konstrukt Embodiment hebt darauf ab, dass im neuronalem Geschehen schon sehr vieles an der Peripherie geschieht bzw. entschieden wird und schon vorgefiltert im Gehirn ankommt. Vermutlich könnte man etwa nicht auf einem hohen Niveau Tennis spielen, wenn das nicht der Fall wäre. Es geht dabei auch nicht um einzelne Körperzellen!
W. S.
Embodiment bedeutet, dass die geistigen Fähigkeiten, darunter das Gedächtnis, mit körperlichen Grundlagen verbunden ist. Wenn man etwa beim Lernen von Wörtern Gesten ausführt, durch Schnuppern einen Geruch wahrnimmt, oder als Kleinkind mit seinen Beinen und dem Bewegungsapparat gehen lernt, ist die motorische Information Teil des Lernnetzwerkes. Die Embodiment-These stünde im Widerspruch zu den alten Theorien von Rene Descartes und anderen, dass Geist und Körper streng zu trennen seien. Nach wie vor geht man aber in erster Linie nach dieser nun überholten Weisheit vor, d. h., Kinder sollen in der Schule ruhig sitzen und Inhalte aufnehmen, die rein geistiger Natur sind. In Wahrheit ist eine solche rein geistige Natur aber ein Hirngespinst, und zu handeln, als ob es sie gäbe, ist äußerst kontraproduktiv. Wenn man älter wird, ist dies umso schlimmer, weil das deklarative Gedächtnis schon etwa ab dem 20. Lebensjahr immer schwächer wird.
Salzburger Nachrichten vom Sonntag, dem 26. September 2021.