Bayesianisches Gehirn

Das Gehirn repräsentiert nicht die Welt in all ihren Details sondern jeweils nur die Aspekte, die im Hinblick auf die Planung eigener Aktivität relevant sind, d. h., das Gehirn fungiert demnach als Vorhersageorgan. Aufgrund einer ständigen Aktualisierung der internen Repräsentation der Welt durch neue Erfahrungen wird daher auch vom bayesianischen Gehirn gesprochen. Thomas Bayes‘ Theorem der bedingten Wahrscheinlichkeit erlaubt es, in die Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses Vorwissen über die Umstände dieses Ereignisses einfliessen zu lassen. Ist nämlich eine Vorhersage falsch, so wird das Vorwissen aktualisiert und damit versucht, die nächste Vorhersage besser zu machen. Das Modell der prädikativen Kodierung erklärt daher, wie es überhaupt gelingen kann, dass Menschen zu jedem Zeitpunkt ein Gesamtbild der Welt wahrnehmen, obwohl sie ja gerade immer nur einen kleinen Ausschnitt detailliert wahrnehmen. Diese innere Repräsentation der Welt ist das Resultat einer langen Reihe von Versuch und Irrtum, wobei diese Konzentration auf Differenzen zwischen erwarteter und tatsächlicher Wahrnehmung auch Rechenleistung des Gehirns erspart. Somit ist die vom Menschen wahrgenommene Welt jeweils nur die aktuell beste Annahme für die Erklärung der Sinneseindrücke und der Konsequenzen des eigenen Handelns.

Auch alle menschlichen Erinnerungen sind unsicher, doch besitzen Menschen durch das eben das bayesianischen Gehirn die Fähigkeit, diese Ungewissheit abzuschätzen und in Entscheidungen einzubeziehen. Das geschieht dadurch, dass das menschliche Gehirn Gedächtnisinhalte als Wahrscheinlichkeitsverteilung repräsentiert und so nicht nur die Erinnerung, sondern glaichzeitig auch die damit verbundene Ungewissheit abbildet

Konkret am Beispiel einer gerade gelesenen Telefonnummer, die man niederschreiben möchte, doch verblassen dabei die Zahlen, d. h., während man die ersten Ziffern noch im Gedächtnis präsent hat, verschwimmen die hinteren vor dem inneren Auge. Damit solche Informationen wie einzelne Zahlen bearbeitet werden können, müssen sie lange genug im mentalen Speicher bleiben. Dazu bedarf es des visuellen Arbeitsgedächtnisses, dessen Kapazität begrenzt ist. Zusätzlich sind die neuronalen Signale, die dem Arbeitsgedächtnis zu Grunde liegen, ziemlich verrauscht und seine Inhalte sind zwangsläufig ungewiss. Doch für diese Unsicherheit haben Menschen ein Gefühl entwickelt, sodass sie also in der Lage sind abzuschätzen, welchen Erinnerungen eher zu trauen ist und welchen nicht.

Siehe auch prädiktive Kodierung.

Geschätzte Speicherkapazität des Gehirns

Die Speicherkapazität des menschlichen Gehirns lässt sich nur schwer abschätzen und kann allenfalls mit einer willkürlichen unteren Grenze von etwa 1.000 Gigabyte angegeben werden. Grund dafür ist, dass das Gehirn Informationen ganz anders verarbeitet als ein Computer: Während Computer aus planvoll gebauten, digital arbeitenden Schaltkreisen bestehen, die Informationen binär speichern, wächst das Gehirn organisch und arbeitet nicht rein digital. Es enthält etwa 100 Milliarden bis eine Billion Nervenzellen, die über 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden sind. Die Informationen stecken in diesen Verbindungen, wobei die Signalübertragung abgestuft und nicht nur binär erfolgt. Zudem dient ein Großteil der Gehirnaktivität nicht der Speicherung, sondern der Filterung und Verarbeitung von Reizen, was die Abgrenzung zwischen Verarbeitung und Speicherung weiter erschwert.

Wie das Gehirn Informationen priorisiert

Eine Studie von Li et al. (2025) untersuchten, wie das menschliche Gehirn mit der Begrenztheit seines Arbeitsgedächtnisses umgeht, indem es Ressourcen selektiv zuweist und dadurch wichtige Informationen präziser speichert als weniger relevante. Mithilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) konnte man zeigen, wie das Gehirn die Position von Punkten verarbeitet, die sich Versuchspersonen auf einem Bildschirm merken sollten. Zwar nimmt der visuelle Cortex zunächst alle visuellen Informationen auf, aber der frontale Cortex entscheidet darüber, welchen Informationen mehr kognitive Ressourcen zugewiesen werden. Diese Priorisierung führt dazu, dass hochrelevante Informationen mit größerer Genauigkeit abgespeichert werden, während weniger relevante Inhalte mit geringerer Präzision im Gedächtnis bleiben. Zentral war dabei die Entdeckung, dass der frontale Cortex über Rückkopplungssignale die Aktivität im visuellen Cortex moduliert, indem diese Signale den neuronalen Gain – eine Art Verstärkung bestimmter Signale – beeinflussen , wodurch die Verarbeitung von priorisierten Informationen intensiviert wird. Die Dekodierung der Hirnaktivität ergab, dass Erinnerungen mit hoher Priorität nicht nur mit geringerer Fehlerrate, sondern auch mit weniger Unsicherheit gespeichert wurden. Besonders bemerkenswert war dabei, dass diese neuronalen Unterschiede direkt mit dem Verhalten der Probanden korrelierten, d. h., je stärker die Aktivierung im frontalen Cortex, desto präziser die Wiedergabe priorisierter Informationen im visuellen Cortex. Diese diese Ergebnisse erweitern einerseits das Verständnis der Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses, insbesondere im Hinblick auf die limitierte Speicherkapazität des Gehirns, andererseits eröffnen sich potenzielle Anwendungsfelder in der Entwicklung von Technologien, die die menschliche Gedächtnisleistung verbessern könnten, etwa durch kognitive Trainingsmethoden oder neuroadaptive Systeme, die auf individuelle Gedächtnisstrategien reagieren. Darüber hinaus ist die Relevanz für den Bereich der Künstlichen Intelligenz nicht zu unterschätzen, denn das menschliche Gehirn dient zunehmend als Vorbild für adaptive Algorithmen, die lernen sollen, relevante Informationen effizient von irrelevanten zu unterscheiden. Ein vertieftes Verständnis der neuronalen Mechanismen hinter der Priorisierung von Informationen kann helfen, diese Algorithmen ressourcenschonender und leistungsfähiger zu gestalten. Insgesamt zeigt die Studie auch eindrucksvoll, wie raffiniert das menschliche Gehirn seine beschränkten kognitiven Ressourcen nutzt, denn es priorisiert, verstärkt und differenziert, also nicht zufällig, sondern zielgerichtet nach Relevanz.

Literatur

Li, H.-H., Sprague, T. C., Yoo, A. H., Ma, W. J. & Curtis, C. E. (2025). Neural mechanisms of resource allocation in working memory. Science Advances, 11, doi:10.1126/sciadv.adr8015.
Stangl, W. (2025, 22. April). Wie das Gehirn Informationen priorisiert. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5752/wie-das-gehirn-informationen-priorisiert.
Stangl, W. (2019, 3. Mai). Prädiktive Kodierung. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
https:// lexikon.stangl.eu/11036/praediktive-kodierung.
https://www.neuropsychiater.ch/blog/2021/1/18/das-bayesianische-gehirn (21-03-05)
https://www.spektrum.de/magazin/das-statistische-gehirn-schaetzt-die-unsicherheit-des-gedaechtnis/2006269 (22-05-01)


Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

Schreibe einen Kommentar

Inhaltsverzechnis