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Extinktionslernen

    Extinktionslernen – manchmal verkürzt als Extinktion, Verlernen oder Umlernen bezeichnet -, meint in der Psychologie das bei verschiedenen Lernformen (etwa bei der operanten und klassischen Konditionierung) auftretende Verlernen von Verhaltensweisen. Das findet man etwa dann, wenn ein zunächst belohntes Verhalten keine verstärkenden Konsequenzen mehr hat, dann hört das Verhalten allmählich auf. Extinktionslernen hilft Menschen dabei, alte Verhaltensweisen und falsch Gelerntes zu korrigieren, etwa durch aktives Umlernen, das im Leben von Menschen wohl eine der wichtigsten Formen des Lernens darstellt.

    Extinktionslernen wird also vor allem dann benötigt, wenn man lernen muss, dass Dinge nicht mehr so funktionieren, wie man es einmal gelernt hat. Beim Extinktionslernen geht es darum, dass eine vermeintlich ausgelöschte Erinnerung weiterhin existiert, denn dies führt zu zwei Gedächtnissen: einem, das sich daran erinnert, wie es früher war, und einem anderen, das gelernt hat, wie es jetzt ist. Im Alltag begegnen Menschen ständig Veränderungen und Abweichungen von Gewohnheiten. Zum Beispiel hört eine Mutter auf, Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen, wenn das Kind zu alt geworden ist. Oder eine gute Freundin muss umziehen, weil ihr Haus in einem Sturm stark beschädigt wurde und sie jetzt nur ein paar Straßen weiter wohnt. Wenn man seine Freundin in Zukunft besuchen möchte, muss man einen neuen Weg finden. Es kommt häufig vor, dass man den Weg zur alten Wohnung einschlägt, obwohl man eigentlich zur neuen Wohnung möchte. Dies kann dazu führen, dass man versehentlich alte Gewohnheiten wieder aktiviert, anstatt neue zu nutzen. Dies liegt daran, dass das Gehirn im Alltag ständig Vorhersagen darüber trifft, was als nächstes passieren wird. Es erwartet regelrecht, dass dem Handeln eine Konsequenz folgt. Wenn man zum Beispiel versehentlich die Kaffeetasse vom Tisch stößt, geht man davon aus, dass sie auf dem Fußboden zerbricht.

    Das Konzept des Extinktionslernens ist besonders wichtig in der Angsttherapie von Menschen, da auch hier der Kontext entscheidend ist. Wenn der Betroffene in einer Psychotherapiepraxis gelernt hat, seine Angst vor Spinnen zu besiegen und vielleicht sogar eine Spinne berühren konnte, kann es dennoch passieren, dass er im eigenen Badezimmer erneut von Angst überwältigt wird, wenn er einen Weberknecht in der Badewanne entdeckt. Eines der Hauptprobleme der Verhaltenstherapie besteht also darin, das Extinktionslernen vom Kontext zu trennen. So nimmt man in der Verhaltenstherapie an, dass das Extinktionslernen, mit dem man bei Traumata versucht, neue Sicherheitsassoziationen zu schaffen, jener zentrale Mechanismus der Expositionstherapie oder Konfrontationstherapie ist, der bei der Behandlung von Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen wirksam wird. Extinktionslernen ist demnach der zentrale Wirkmechanismus einer Expositionsbehandlung. Durch Befunde im Tier-, aber auch im Humanbereich ist es gelungen, die neuronalen Schaltkreise der Extinktion relativ gut zu beschreiben. Wenn die Gehirne im Verlaufe einer Extinktionslernerfahrung bestimmte Muster der Aktivierung aufzeigen, so treten diese nach einer Lernphase in einer Ruhephase erneut wieder auf.

    An der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum beschäftigen sich seit 2017 im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Extinktionslernen“ ForscherInnen (herausragend Onur Güntürkün, Inhaber des Lehrstuhls Biopsychologie) mit der Frage, was im Gehirn mit erworbenem Wissen passiert, das nicht mehr wirklich wichtig ist. Dabei will man von den Genen über das Gehirn bis zum Verhalten umfassend die Wirkmechanismen des Extinktionslernens verstehen, wobei man neue Methoden entwickeln möchte, mit denen es möglich ist, die Geschehnisse im Gehirn während des Lernens von der einzelnen Zelle bis zum gesamten System zu verfolgen, experimentell zu manipulieren und mit computationalen Modellen zu simulieren. Bisher konnte man dabei die These belegen, dass Gelerntes häufig überhaupt nicht aus dem Gehirn gelöscht wird, d. h., Menschen vergessen viel weniger als sie glauben. Vielmehr wird ein zweites Gedächtnis ausgebildet, das die Erinnerungen des ersten hemmen soll. Eine besondere Rollte spielt hier das Kleinhirn, dessen Beteiligung beim Extinktionslernen bisher wenig beachtet worden ist.

    Beim Extinktionslernen muss das Gehirn zunächst lernen, die bisherige Reaktion zu unterdrücken, wobei es seine Aufmerksamkeit auf die Umgebungsreize richten und sich dieser gewahr werden muss, etwa dass von einem Hund keine Gefahr droht, weil dieser angeleint ist. Das Besondere an Extinktionslernen ist auch, dass es meist nicht dauerhaft ist, denn kleine Auslöser genügen schon, und schon orientiert man sich wieder am alten falschen Pfad entlang. Man bezeichnet diesen Erneuerungseffekt, bei dem die alte Gedächstnisspur abgerufen wird, als Renewal. Vor allem in Stressmomenten fallen Menschen eher in alte Verhaltensmuster zurück, als so zu reagieren, wie sie es eigentlich mittels Extinktion neu gelernt haben. Man geht davon aus, dass es, wenn überhaupt, nur in einem sehr schmalen Zeitfenster von 10 bis 30 Minuten nach dem Erinnern eines Gedächtnisinhalts möglich sein könnte, diese Gedächtnisspur zu löschen, weil sie dann noch in einem labilen Zustand ist. In dieser labilen Phase kann sie überschrieben und vielleicht dauerhaft beseitigt werden, doch mit vielfach aktivierten, gefestigten Gedächtnisinhalten geht das wahrscheinlich nicht mehr. So wird also das ursprünglich gelernte Wissen „Hunde sind gefährlich“ durch die Extinktion in einer Therapie nicht wirklich gelösch, d. h., es ist immer noch da, denn bei einer Extinktion handelt es sich offensichtlich um eine neue Form des Lernens, die die alte Ansicht lediglich hemmt.

    Kinder lernen vor allem Neues und lernen, auf einen Reiz hin mit einem bestimmten Verhalten zu reagieren, wodurch sich Gedächtnisspuren im Gehirn bilden. Altes abzulegen, ist viel schwieriger, als Neues zu lernen, was man etwa bei Kindern sieht, die zunächst nach Gehör schreiben soll. Ein Kind schreibt ‚Vata‘, das nächste ‚Fater‘ und noch eine anderes ‚Fadter‘. Alle Kinder meinen aber ‚Vater‘ und keines wird korrigiert, da sie einfach nur Spaß am Schreiben haben sollten. Doch wenn diese SchülerInnen nach ein bis zwei Schuljahren die Rechtschreibung korrekt erlernen sollen, können sie sich die richtige Schreibweise nur schlecht merken, wobei das Problem ist, dass sie die falsche Schreibweise nicht völlig vergessen. Schließlich werden die alten Gedächtnisinhalte nicht aus dem Kopf gelöscht, sondern bleiben bestehen, da Extinktionslernen eben kein Auslöschen ist, sondern ein aktives Lernen einer veränderten Verhaltensweise. Statt nur Neues zu lernen, müssen die Kinder nun umlernen, was viel aufwändiger ist, sodass das pädagogische Konzept, erst einmal nach Gehör schreiben zu lernen, nach Ansicht zahlreicher Experten ein verheerender Irrweg. Siehe dazu Fibel führt zu besseren Rechtschreibleistungen als andere Methoden.

    Literatur

    Gerlicher, A.M.V., Tüscher, O. & Kalisch, R. (2018). Dopamine-dependent prefrontal reactivations explain long-term benefit of fear extinction. Nature Communications, 9, doi:10.1038/s41467-018-06785-y.
    Stangl, W. (2021). Fibel führt zu besseren Rechtschreibleistungen als andere Methoden – Werner Stangls Pädagogik News.
    WWW: https://paedagogik-news.stangl.eu/fibel-fuehrt-zu-besseren-rechtschreibleistungen-als-andere-methoden (2021-05-26).
    https://medecon.ruhr/2021/05/forschung-zum-2-gedaechtnis-geht-in-die-naechste-runde/ (21-05-25)


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