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Perspektivübernahme

    Die Fähigkeit zur kognitiven Perspektivübernahme meint, dass man die Pläne und Absichten eines anderen Menschen nachvollziehen kann, wobei es sich dabei nicht nur um das Einfühlen sondern auch um einen komplexen kognitiven Denkprozess handelt, der dazu dient, sich die Umstände des anderen und dessen mögliche Gedanken vorstellen zu können. Erfolgreiche soziale Interaktion setzt nämlich voraus, sowohl die Gedanken und Absichten des anderen zu verstehen zu können, also die kognitive Perspektivenübernahme, die Fähigkeit, zu verstehen, was andere Menschen wissen, planen und wollen. In Untersuchungen (Kanske et al., 2016) zeigte sich, dass Menschen mit einem zu hohen Maß an Empathie nicht notwendigerweise diejenigen sind, die ihr Gegenüber kognitiv gut verstehen, denn zu großes Einfühlen behindert dabei das inhaltliches Verstehen.

    In einer Metaanalyse haben Schurz et al. (2020) ein Erklärungsmodell entwickelt, dass es sich bei diesen Fähigkeiten nicht um eine abgeschlossene soziale Kompetenz handelt, vielmehr funktionieren sowohl Empathie als auch kognitive Perspektivübernahme eher fluid, d. h., je nach Situation spielen andere Einflussfaktoren eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Ob man einem Menschen seine Emotionen an den Augen ablesen, eine lustige Geschichte verstehen oder die Handlungen eines anderen nachvollziehen will, steht man im Alltag vor ständig unterschiedlichen Herausforderungen, für die man die beiden Kompetenzen braucht. Je nach Situation brauchet man dafür also eine Kombination verschiedener untergeordneter Fertigkeiten, um in einem Augenblick Gestik und Mimik richtig zu interpretieren und in einer anderen Situation auch etwa den kulturellen Hintergrund des Gesprächspartners zu kennen.

    Beide Gesamtkompetenzen werden jeweils von einem auf Empathie oder Perspektivwechsel spezialisierten Hauptnetzwerk im Gehirn verarbeitet, die in jeder sozialen Situation aktiviert werden und dann aber je nach Situation zusätzliche Netzwerke hinzuziehen. Das Gehirn kann daher sehr flexibel auf die einzelnen Anforderungen reagieren. Im Fall der Empathie arbeitet im Gehirn ein Netzwerk, das die entsprechenden Situationen erkennen kann, indem es etwa Angst verarbeitet. Springt dieses Empathie-Zentrum an, arbeitet es mit spezialisierten anderen Hirnregionen zusammen, etwa dem für die Gesichts- und Spracherkennung. Ganz ähnlich ist es bei der Perspektivübernahme, denn hier entspricht das Netzwerk jedoch den Gehirnarealen, die auch beim Erinnern an Vergangenes oder dem Fantasieren über Zukünftiges zum Einsatz kommen, wobei sich in einer konkreten Situationen nach Bedarf auch andere Regionen hinzuschalten.

    Eine höhere Ebene beschreibt dabei breitere und abstraktere Klassen von Funktionen, während eine niedrigere Ebene erklärt, wie Funktionen auf einen konkreten Kontext angewendet werden können, der durch bestimmte Stimulus- und Aufgabenformate vorgegeben ist. Konkret schlägt die höhere Ebene drei Formen von neurokognitiven Prozessen vor:

    • Vorwiegend kognitive Prozesse, die aktiviert werden, wenn das Mentalisieren eine von der physischen Welt entkoppelte, selbstgenerierte Kognition erfordert.
    • Eher affektive Prozesse, die aktiviert werden, wenn man Emotionen bei anderen erlebt, die auf gemeinsamen emotionalen, motorischen und somatosensorischen Repräsentationen basieren.
    • Kombinierte Prozesse, die kognitive und affektive Funktionen parallel aktivieren, also etwa für besonders komplexe soziale Situationen, in denen eine Kombination der Fähigkeiten Empathie und Perspektivübernahme notwendig ist, wobei sozial kompetente Menschen andere Personen sowohl gefühlsbasiert als rational denkend betrachten und dann die richtige Balance aus beidem finden. Bei einem Mangel an einer der beiden Sozialkompetenzen ist aber nicht die Kompetenz als Ganzes begrenzt, sondern es ist vermutlich nur ein bestimmter Teilfaktor betroffen, etwa das Verständnis der Mimik oder der Sprachmelodie.

    Die Ergebnisse der Analyse von Schurz et al. (2020) zeigen auch, dass das Verstehen der mentalen Zustände anderer Menschen am besten durch ein mehrstufiges Modell mit hierarchischer Struktur beschrieben werden kann, ähnlich wie es bei Modellen in der Intelligenz- und Persönlichkeitsforschung der Fall ist.

    Soziale Kontakte fördern Empathie und solidarisches Verhalten

    Das Empathievermögen ist nach Untersuchungen in Deutschland zum Teil von außen beeinflussbar, denn wenn Menschen etwa großem Stress ausgesetzt sind, dann ist es schwierig, andere Perspektiven nachzuvollziehen oder sich um das Wohlergehen anderer zu sorgen. Menschen, die während des durch Corona bedingten Lockdowns ganz bewusst auf eine soziale Strategie zum Umgang mit der Pandemie, zum Beispiel auf die Pflege von positiven sozialen Kontakten setzten, berichteten, sich besser in andere Personen einfühlen zu können. Je stärker Menschen sozial agierten, etwa regelmäßigen Austausch mit Familie und Freunden suchten und sich generell sozial eingebunden fühlten, desto mehr wuchs ihr emotionales Mitgefühl, ihre empathische Sorge gegenüber anderen. Diese Strategie korrelierte positiv mit der Solidarität gegenüber verschiedenen von der Pandemie stark betroffenen Personengruppen, wobei die Form der Kontakte keine Rolle spielte, denn sowohl persönliche Begegnungen als auch Telefonate oder Zoom-Gespräche hatten einen positiven Einfluss. Einen wichtigen Effekt darauf hatte zudem, dass die Menschen sich diese Vorgehensweise als ihre eigene Strategie zur Krisenbewältigung auch bewusstmachen. Solche Abwehrstrategien funktionierten allerdings nicht besonders gut in Phasen besonders hoher Bedrohung, die große Anspannung und Stress mit sich brachten, etwa als die Inzidenzwerte besonders hoch waren, andererseits konnten auch hier als positiv empfundene soziale Kontakte die Auswirkungen der wahrgenommenen Gefahr auf Empathie senken. Die Psychologinnen der Friedrich-Schiller-Universität haben gezeigt, dass das Empathievermögen zum Teil variabel ist und mit welchen Mitteln man diese Fähigkeit zum Mitfühlen beeinflussen kann, auch oder gerade in Zeiten des Ausnahmezustands. Nicht nur die persönliche Prägung des Einzelnen hat also einen Einfluss auf die Solidarität und damit auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch die umgebende Situation. Gerade in Situationen, in denen eine hohe Solidarität notwendig ist, sollten daher explizit die sozialen Kontakte im Rahmen der Möglichkeiten gefördert werden.

    Literatur

    Kanske, P., Böckler, A., Trautwein, F.-M., Lesemann, F.H.P. & Singer, T. (2016). Are strong empathizers better mentalizers? Evidence for independence and interaction between the routes of social cognition. Social Cognitive and Affective Neuroscience, doi: 10.1093/scan/nsw052.
    Schurz, Matthias, Radua, Joaquim, Tholen, Matthias G., Maliske, Lara, Margulies, Daniel S., Mars, Rogier B., Sallet, Jerome & Kanske, Philipp (2020). Toward a hierarchical model. Psychological Bulletin, doi:10.1037/bul0000303.
    Stangl, W. (2011). Stichwort: ‚Rollenübernahme‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/14730/rollenuebernahme/ (11-01-12)
    https://idw-online.de/de/news777210 (20-10-09)


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