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Gestaltpsychologie

    Die Gestalt- und Ganzheitspsychologie kann als das bedeutendste Paradigma der theoretischen Psychologie gelten, denn  sie hat als wissenschaftliche Schulrichtung mit einem  hoch angesetzten Erkenntnisinteresse fast ein halbes Jahrhundert lang in verschiedenen Schulen oder Richtungen den Ton der europäischen Psychologie angegeben. Die Gestaltpsychologie hatte als zentrale Metapher den aus der Antike bekannten Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ bzw. korrekter „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“. Sie wendet sich gegen die Auffassung, man könne Psychologie betreiben, indem man das Seelenleben des Menschen in immer kleinere Elemente zerlegt, und betont den ganzheitlichen Charakter menschlichen Wahrnehmens, Erlebens und Handelns. Die Grundeinheiten des menschlichen Seelenlebens sind dabei die Gestalten, etwa im Sinne einer Melodie, die sich bekanntlich nicht erfassen lässt, indem ihre Noten isoliert voneinander analysiert, sondern jede Melodie bildet eine unzertrennbare Wahrnehmungseinheit, die etwa auch in eine andere Tonart transponiert werden kann, ohne ihre Gestalt zu verlieren.

    Carl Stumpf (1848-1936) gilt als geistiger Vater der Gestalt- und Ganzheitspsychologie, allerdings wurde er vermutlich deshalb nie seiner Bedeutung gemäß rezipiert, da sein Schwerpunkt auf der auditiv-musikalischen Wahrnehmung und die aus ihr erschlossenen allgemeinpsychologischen Folgerungen lag, während seine Schüler, die Berliner Gestaltpsychologen, den Fokus auf die traditionell bevorzugte visuelle Wahrnehmung legten. Die Vernachlässigung des Hörens fand auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der psychologischen Forschung keine nennenswerte Resonanz. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten durch das Interesse der Neurologie initiiert, die sich im Kontext neuro-akustischer Forschung Aufschlüsse über Funktionsweisen des Gehirns verspricht, rückt der Gehörsinn wieder in den Fokus.

    Bekannt wurde die Gestaltpsychologie durch den 1890 von Christian von Ehrenfels verfassten Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“, wobei das Forschungsgebiet erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer schulbildend bearbeitet wurde. Neben der Berliner Schule gibt es auch eine Österreichische bzw. Grazer Schule, eine Würzburger Schule sowie eine Leipziger Schule. Wenn man heute von Gestaltpsychologie spricht, bezieht sich meist auf die Berliner Schule, die postulierte, dass die Gestalt dem Objekt unlösbar anhaftet (Systemqualität) und nicht, wie etwa bei der Grazer Schule, durch den Wahrnehmenden dem Objekt bloß zugeschrieben wird (Produktionsqualität). Die Würzburger Schule war methodisch durch Selbstbeobachtung der eigenenDenkvorgänge bestimmt, und die Leipziger Schule berücksichtigte Emotionen und Willen.

    Das menschliche Lernen führt die Gestaltpsychologie auf Einsichtsprozesse zurück, d. h., Probleme werden nicht durch blindes Probieren oder Versuch-und-Irrtum, sondern durch Nachdenken gelöst. Gedanklich wird ein auftauchendes  Problem umstrukturiert und neu organisiert. Als Ergebnis dieses Denkprozesses zeigt sich dann geändertes oder neuartiges Verhalten.


    Mit der Berufung von Karl Bühler und Moritz Schlick auf philosophische Lehrstühle der Universität Wien kam es zur Etablierung zweier psychologischer bzw. philosophischer Schulen in der Zwischenkriegszeit: einerseits der Kognitions- und Sprachpsychologie, andererseits der Philosophie des Logischen Empirismus, bekannt als „Wiener Kreis„. Mit dem Wirken von Charlotte Bühler wurde zusätzlich die Entwicklungspsychologie etabliert und der Weltruhm der Wiener Psychologie um das Ehepaar Bühler auch durch das Pädagogische Institut der Stadt Wien begründet. Beiden Strömungen war der Fokus auf die Sprache, sowie die empirische und experimentelle Ausrichtung mit interdisziplinärer Methode gemeinsam, was auch zur Zusammenarbeit in Forschung und Lehre führte. Ein zentrales Thema war dabei die Gestalttheorie, formuliert seit Lao-Tse, Platon und Aristoteles als „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Diese bekannte Aussage wurde schon damals erkenntnistheoretisch und sprachkritisch unterschiedlich diskutiert.


    Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie haben NeuroWissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Graz und Tübingen möglicherweise einen Mechanismus der Gestaltwahrnehmung entdeckt. Man untersuchte, was im Gehirn bei der Betrachtung von bestimmten Objekten passiert, wobei sich zeigte, dass bei der Gestaltwahrnehmung vor allem der intra-parietale Sulcus, ein Areal im Seitenlappen der Großhirnrinde, zuständig ist. Um herauszufinden, welche neuronalen Mechanismen bei der Gestaltwahrnehmung eine Rolle spielen, hatte man den Probanden zweideutige visuelle Stimuli gezeigt. Dazu wurden insgesamt drei unterschiedliche bewegte grafische Darstellungen vorgelegt, die jeweils zwei- und dreidimensional gesehen bzw. interpretiert werden konnten. Parallel dazu wurde die Gehirnaktivität der Studienteilnehmer gemessen, wobei bei allen drei Stimuli eine gemeinsame Aktivität im intra-parietale Sulcus gefunden werden konnte, wobei diese bei der komplexen, dreidimensionalen Interpretation in jedem Fall stärker war als bei der einfachen. Die Probanden wurden auch gefragt, auf welche Variante sie sich intensiver konzentrieren mussten, um diese zu erkennen, und es zeigte sich, dass die Aktivität im intra-parietale Sulcus vom Grad der Konzentration unabhängig war. Da alle drei Stimuli dasselbe Ergebnis lieferten, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass das Aktivierungsmuster im intra-parietale Sulcus einen zentralen Mechanismus für die Gestaltwahrnehmung darstellt (Grassi et al., 2018).


    „ Hält man sich an Koffkas letzte umfassende Darstellung der Gestaltpsychologie, so gilt folgendes: Die Gestaltpsychologie macht den Versuch, ,Erklärungen für die verwickeltsten Vorgänge zu geben, für diejenigen, die die Zivilisation schaffen, mit Begriffen, die auch für die einfachsten Vorgänge anwendbar sind, nämlich die Bewegungen der Elektronen und Protonen in einem einfachen Atom, ohne im geringsten die Differenz zwischen den beiden Vorgängen zu stören‘“ (Katz, 1969, S. 105).

    Die Gestaltpsychologie unterscheidet z. B. gute, schlechte, schwache und starke Gestalten und Strukturen nach ihrem Schicksal (vgl. Ertel, Kemmler & Stadler, 1975, S. 74).

    „3. Gestaltpsychologie ist eine dynamische Theorie von ‚noch längst nicht erschöpfter Fruchtbarkeit, wie außer der … Theorie des produktiven Denkens (vgl. I., 3, hjw) vor allem die Fülle der willens- und sozialpsychologischen Arbeiten Kurt Lewins und seiner Schüler beweist‘ (vgl. vor allem I., 4 und II., 2)“ (Walter, 1985, S. 21).

    „Ge|stalt|psycho|lo|gie, die: Psychologische Forschungsrichtung, nach der Erleben und Verhalten sich in Ganzheiten vollziehen: die von der G. für die Wahrnehmung nachgewiesene „Prägnanztendenz“ (Gehlen, Zeitalter 48)“ (Brockhaus Enzyklopädie, 1995, S. 1318).

    „ps. Schule mit folgenden zentralen Annahmen: (1a) Psych. Prozesse, v. a. auf dem Gebiet der ® Wahrnehmung, besitzen eine spontane Tendenz zur Bildung von Ordnung, […] (c) Die G. wendet sich auch gegen das Prinzip des Assoziationismus: Ganzheiten seien nicht erklärbar durch ein Prinzip der räuml. o. zeitl. Kontinguität, sondern entstehen nach bestimmten ® Gestaltgesetzen; demgemäß gibt es keine beliebige Strukturierung psych. Prozesse“ (Städtler, 2003, S. 412).


    Literatur

    Brockhaus-Enzyklopädie – 19. völlig neu bearb. Aufl. (1995). Gestaltpsychologie S. 1318. Mannheim: Brockhaus.
    Ertel, S., Kemmler, L. & Stadler, M. (Hrsg.) (1975). Gestalttheorie in der modernen Psychologie. Darmstadt: Dr. Dietrich Steinkopff Verlag.
    Grassi, Pablo R., Zaretskaya, Natalia & Bartels, Andreas (2018). A generic mechanism for perceptual organization in the parietal cortex. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.0436-18.2018.
    Kaiser-el-Safti, Margret (2010). Abstrakte und konkrete Psychologie – in wissenschaftshistorischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive. In: Jüttemann, Mack (Hrsg.): Konkrete Psychologie. Lengerich/Berlin: Pabst.
    Katz, D. (1969). Gestaltpsychologie. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. Verlag.
    Städtler, T. (2003). Lexikon der Psychologie. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
    Stangl, W. (1989). Das neue Paradigma der Psychologie. Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
    Siehe auch: https://www.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIE/PARADIGMA/ (1998-10-09).
    Stangl, W. (1998). Kurzüberblick Psychologische Schulen. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPSYCHOLOGIE/PsychologieSchulen.shtml (1998-10-09).
    Stumpf, Carl (2011). Erkenntnislehre. Lengerich/Berlin: Pabst.
    Walter, H.-J. (1985). Gestalttheorie und Psychotherapie. Ein Beitrag zur theoretischen Begründung der integrativen Anwendung von Gestalt-Therapie, Psychodrama, Gesprächstherapie, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie und Gruppendynamik. Opladen: Westdeutscher Verlag.


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    Ein Gedanke zu „Gestaltpsychologie“

    1. Auf einer Website fand sich der interessante Begriff „Gestaltist„. Dort heißt es: „Wer sind die Gestaltisten? Gestaltisten argumentieren, dass der Organismus die Erfahrung reorganisiert, indem er den von außen kommenden Empfindungen etwas von sich selbst hinzufügt. Wertheimer definierte Reizvariablen, die bestimmen, wie bestimmte Reize gruppiert, strukturiert oder interpretiert werden.“

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