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Zeitwahrnehmung

    Wunderliches Wort „die Zeit vertreiben“!
    Sie zu halten wäre das Problem.
    Rainer Maria Rilke

    Denkt an das fünfte Gebot:
    Schlagt eure Zeit nicht tot!
    Erich Kästner

    Zeitwahrnehmung ist ein unscharfer Sammelbegriff für kognitive Phänomene wie Zeitgefühl, Zeitbewusstsein, Zeitsinn, Gleichzeitigkeit bzw. Nacheinander, subjektive Zeit und Zeitqualität. Aus psychologischer Sicht kommt dabei dem Zeitgefühl ein besonderer Rang zu, denn die gefühlte Zeit bestimmt die Entscheidungen der Menschen im Alltag. Gefühlte Zeit bestimmt aber auch das Verhältnis eines Menschen zum Älterwerden, wobei die Erfahrung von Zeit etwas über den Menschen selbst aussagt, denn Zeitgefühl reflektiert deren Lebensweise und Selbst.

    Die Theorien über das menschliche Zeiterleben sind äußerst divergent, wobei ein Problem darin besteht, dass es für die Zeit kein eigenes Organ gibt und Zeit sehr subjektiv erlebt wird. Im Gehirn gibt es zwar eigene Areale für das Sehen, das Hören und das Riechen, aber nicht für die Zeit, weshalb man nur vermuten kann, dass Menschen die Zeit über ihr Körperbewusstsein wahrnehmen, denn viele Körpersignale werden im insularen Cortex im Gehirn aufgefangen, und dieser Bereich ist meist aktiv bei der Zeitwahrnehmung, d. h., das Selbsterlebnis generiert vermutlich auch das Zeiterlebnis.

    Menschen besitzen bekanntlich kein eigenes Organ für das Zeitempfinden, sodass die Zeitwahrnehmung auf zwei Ebenen erfolgt, und zwar einerseits durch die aktuelle Wahrnehmung und andererseits die Erinnerung an Vergangenes. Je mehr Menschen auf die Zeit achten, etwa in Form von Langeweile, desto langsamer scheint die Zeit in der Wahrnehmung zu vergehen, jedoch in der Rückschau werden intensive Erlebnisse wie eine Urlaubsreise viel ausgedehnter erlebt als die Alltagsroutinen.

    Thönes et al. (2021) haben gezeigt, dass die Beziehung zwischen der Auslastung des Arbeitsgedächtnisses und der Zeitwahrnehmung auch umgekehrt sein kann. Wenn man eine Arbeit gerne macht oder sich auf eine Aufgabe konzentriert, kann bekanntlich ein Arbeitstag schneller vorübergehen. Bekanntlich beeinflussen zahlreiche kognitive und emotionale Prozesse, wie Menschen die zeitliche Dauer von Ereignissen wahrnehmen, allerdings gibt es auch Effekte in die andere Richtung. Versuchspersonen sollten am Computer komplexe Arbeitsgedächtnisaufgaben lösen, wobei zwischen den Aufgabenblöcken die Versuchspersonen nach ihrer eigenen Leistung gefragt wurden. Auf diesem Computer wurde nebenbei die Uhrzeit eingeblendet, zunächst die tatsächliche Uhrzeit, dann wurde entweder eine um zwanzig Prozent beschleunigte oder eine um zwanzig Prozent verlangsamte Uhrzeit eingeblendet. Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen die Arbeitsgedächtnisaufgaben während des Blocks mit der schnelleren Uhr signifikant besser bearbeiteten, wobei die Theta-Aktivität während des Blocks mit der experimentell beschleunigten Uhrzeit deutlich erhöht war im Vergleich zu den anderen Blöcken. Frontale Theta-Wellen werden dabei mit Arbeitsgedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozessen in Verbindung gebracht und sind in diesem Zusammenhang ein Anhaltspunkt, wie viele kognitive Ressourcen in die Bearbeitung einer Aufgabe investiert werden. Diese Ergebnisse mit beschleunigter Zeit könnten nach Ansicht der ForscherInnen damit zusammenhängen, dass die Probanden die an sich nicht so spannende Versuchsaufgabe als positiver wahrgenommen haben, da die Zeit scheinbar schneller vorbeigegangen ist, was dazu führte, dass sie der Aufgabe ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden.

    Auch Stress verändert die subjektive Zeitwahrnehmung, denn wer wenig Zeit für eigene Interessen hat und ständig fremdbestimmt Dinge für andere tut, fühlt sich unzufrieden und ist vergleichsweise gestresster, was etwa Menschen betrifft, die gemeinsam mit vielen anderen auf engem Raum wohnen oder arbeiten müssen. So waren Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger während der Corona-Krise im Dauerstress, d. h., die Betroffene empfanden die Zeit im Moment des Geschehens als langsam vergehend, rückblickend jedoch verging die Zeit wie im Flug, weil ständig nur das Gleiche passierte (Zeitparadoxon).

    Nach Ansicht des Psychologen Marc Wittman hängt die Zeitwahrnehmung eng mit der Selbstwahrnehmung zusammen. Dabei beruft er sich auf ein klassisches Modell, das als „Zeitgeber-Akkumulator-Modell“ bezeichnet wird, nach welchem ein hypothetischer Zeitgeber Impulse freigibt, die von einem Zähler gesammelt werden. Je mehr Pulse, desto länger erscheint der Zeitraum. Bei physiologischer Erregung wie Angst oder Stress erhöht sich die Pulsrate, die Zeit erscheint gedehnt. Solche Pulse werden aber nur gesammelt, wenn der Zeit Aufmerksamkeit zuteil wird, doch wenn man die Zeit dagegen vergisst, verfliegt sie. Man geht davon aus, dass hier Körpersignale wie Herzrate oder Atmung und die darauf bezogenen neuronalen Verarbeitungsprozesse eine zentrale Rolle spielen. Der insulare und der zinguläre Cortex scheinen dabei daran beteiligt zu sein, was auch erklären könnte, warum eine Reihe psychischer Erkrankungen mit einer veränderten Zeitwahrnehmung verbunden sind. Depressive Menschen berichten etwa oft von unangenehm langsam vergehender Zeit, d. h., entsprechende Leiden gehen meist mit Störungen der emotionalen Selbstregulationsfähigkeit und veränderter Körperwahrnehmung einher. Körper, Gefühl und Zeit bedingen sich gegenseitig, was aber auch Möglichkeiten eröffnet, die Zeit selbst aktiv zu beeinflussen und dies therapeutisch einzusetzen. So kann hier Meditation zu messbaren Erfolgen führen, denn Achtsamkeit verlangsamt nachweislich den Zeitverlauf. Wer andererseits in der Meditation den Fokus auf den eigenen Körper verliert, beschleunigt die Zeit. Im Kontext der Pandemie wurde die Verlangsamung der subjektiven Zeit meist als etwas Negatives wahrgenommen, doch aus existenzieller Sicht sollte man die Zeit auch hie und da einmal anhalten wollen.

    Bei Tieren wurde nachgewiesen, dass Neuronen, die Dopamin ausschütten, die subjektive Zeitempfindung beeinflussen, sodass das subjektives Zeitgefühl vermutlich auch beim Menschen nicht nur eine psychologischer Kategorie darstellt, sondern auch eine neuronale Basis besitzt. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei der individuellen Zeitwahnehmung das Körpergefühl eine zentrale Rolle spielt, wobei Selbstwahrnehmung und Zeiterleben vermutlich untrennbar miteinander verbunden sind. So fand man schon sehr früh heraus, dass bei Menschen durch die erhöhte physiologische Aktivität wie etwa bei Fieber die innere Uhr schneller abläuft, was die Zeit subjektiv betrachtet dehnt. Psychologisch betrachtet folgt die gefühlte Zeit daher auch insgesamt anderen Gesetzen als die messbare, wobei sich das Zeitgefühl in den verschiedenen Lebensabschnitten verändert, denn je älter Menschen sind, desto kürzer erscheinen ihnen die vergangenen Jahre ihres Lebens, und erst ab etwa sechzig Jahren verlangsamt sich die gefühlte Zeit wieder.

    Das menschliche Zeitempfinden wird von Signalen des Körpers, der Aufmerksamkeit und den Gefühlen gesteuert. Das menschliche Zeitempfinden ist dabei äußerst komplex, denn es gibt kein Sinnesorgan, das die Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft trennt. Schon in der Antike unterschied man die messbare Zeit von der gefühlten und wies ihnen zwei Gottheiten zu: Chronos und Kairos.

    Auch kleine Kinder besitzen noch kein Zeitgefühl, denn dieses Verständnis bildet sich erst etwa im Alter von fünf bis sieben Jahren aus. Zeit ist für Kinder vorwiegend etwas Abstraktes, während für sie Gegenstände, die sie direkt wahrnehmen können, früher begriffen werden. Oft versinken Kinder total in einer Aktivität und bemerkten dabei gar nicht die Zeit, die verstreicht. Daher sind die Eltern bzw. Erwachsenen gefordert, im Umgang mit Kindern dieses fehlende bzw. noch unausgereifte Zeitgefühl zu berücksichtigen. So kann man schon Vorschulkindern mithilfe von konkreten Erfahrungen bestimmte Zeitspannen erklären, denn Kinder verstehen Zeitspannen besser, wenn sie etwas mit konkreten Erfahrungen verbinden können.

    Unter einer Zeitgitterstörung versteht man den Verlust der korrekten zeitlichen Ordnung des Erinnerungsgefüges bzw. die mangelnde Zuordnung biografischer Ereignisse zur eigenen Person, wie sie vor allem bei seniler Demenz auftritt.


    Zeitwahrnehmung und Farben

    Bei der Arbeit und im Alltag ist es wichtig, realistisch einschätzen zu können, wie lange ein bestimmter Vorgang dauert, denn ohne eine genaue Zeitwahrnehmung kann man tägliche Abläufe nur schwer bewältigen. Wie lange die Dauer bestimmter Reize bewertet wird, hängt von vielen Faktoren ab, etwa von seiner Größe, seiner Form oder seiner Bewegung. Auch kommt es darauf an, wie stark die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes einen Menschen dabei mental aktiviert (Arousal). Thönes et al. (2018) haben nun unter kontrollierten Bedingungen die Effekte von Farbtönen auf die Wahrnehmung von Zeit untersucht, denn man ging bisher davon aus, dass etwa der Farbton Rot stärker geistig erregt als Blau, da Rot häufig mit Gefahr verbunden wird. Das sollte also dazu führen, dass Menschen rote Reize zeitlich überschätzen bzw. als länger wahrnehmen als blaue Stimuli. Hinzu kommt jedoch, dass die Wahrnehmung einer Farbe nicht nur vom Farbton abhängt, sondern auch von der Helligkeit und der Farbsättigung. In der neuen Studie hat man sich dabei auf die Farben Blau und Rot konzentriert, also die Extrema des für den Menschen sichtbaren Lichtspektrums. Die Probanden und Probandinnen mussten in mehreren Sitzungen Aufgaben am Computer erledigen, wobei ihnen zwei schnell aufeinanderfolgende Kreise von unterschiedlicher Dauer (zwischen 300 und 700 Millisekunden) präsentiert wurden, die jeweils entweder blau oder rot waren, und sollten einschätzen, welcher Kreis länger angezeigt wurde. Vor und nach jeder Sitzung wurden die Probanden und Probandinnen zusätzlich befragt, wie stark aktivierend die beiden im Experiment verwendeten Farbreize auf sie wirken. Es zeigte sich überraschender Weise, dass die Probanden und Probandinnen die Dauer des blauen und nicht, wie Ergebnisse früherer Studien hatten vermuten ließen, die des stärker erregenden roten Reizes überschätzten. Blaue Reize wurden also im Vergleich zu roten als länger andauernd wahrgenommen. Die Befragung der Versuchspersonen hatte jedoch auch gezeigt, dass der rote Farbton zu einer wesentlich stärkeren mentalen Aktivierung führte als der blaue. Diese Ergebnisse werfen nun die Frage auf, ob das Konzept der kognitiven Erregung die Zeitwahrnehmung tatsächlich so stark beeinflusst, wie bislang vermutet, oder ob andere Faktoren eine weitere Rolle spielen.


    Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt – so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war –, bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der sich das Leben realisiert.
    Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

    Veränderung der Zeitwahrnehmung in Krisenzeiten

    Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Abriegelungen lösten weltweit Veränderungen in den täglichen Routinen der menschlichen Erfahrung aus. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Covid-Pandemie vor allem die Zeitwahrnehmung vieler Menschen auf den Kopf gestellt hat. Im Frühjahr 2020, als man sich im ersten Lockdown befand und die meisten Menschen ihren Alltag plötzlich völlig neu organisieren mussten, hat einfach jeder gemerkt, dass irgendwas komisch und anders mit der Zeit ist. Es damals vielen Menschen schwergefallen, ohne die üblichen Routinen den Verlauf der Zeit wie gewohnt zu verfolgen, etwa zu bestimmen, welchen Wochentag sie gerade erlebten oder wie viele Tage schon seit Beginn des Lockdowns vergangen waren. Die Zeit verstrich für viele quälend langsam, für andere rasten die Tage ungewohnt schnell, doch fast niemand empfand den Verlauf der Zeit als ganz normal. Studien berichteten von einer ungewöhnlichen Dehnung der Zeit und von einer Störung subjektive Zeitwahrnehmung. In welche Richtung diese Störung ging, war dabei jedoch uneindeutig, denn diejenigen, die während der Lockdowns unter sozialer Isolation, Langeweile, negativen Emotionen und Stress litten, empfanden die Zeit als verlangsamt, während sich für diejenigen, die sich mit der neuen Situation gut zurechtfanden, die Zeit hingegen beschleunigte. In vielen Studien zeigte sich auch, dass je unglücklicher oder je depressiver man sich fühlte, desto langsamer verging die Zeit.

    Daten des Blursday-Projektes zeigten, je isolierter sich Menschen fühlten, desto langsamer verging für sie die Zeit. Die Strenge des Lockdowns und der Grad der Einschränkung von Mobilität waren dabei besonders ausschlaggebend. Wesentlich war auch die Dauer der Ereignisdichte, wobei vor allem negative Affekte die Zeitwahrnehmung stark beeinflussen, denn eine unangenehme Gesprächssituation kann sich manchmal endlos ziehen, während glückliche Momente dagegen oft viel zu schnell verfliegen. Während der Pandemie scheint dieser Effekt bei vielen Menschen einen anderen dominiert zu haben: dass nämlich die Dauer vergangener Zeiträume anhand der Dichte erinnerter Ereignisse abgeschätzt wird, d. h., ereignisreiche Phasen erscheinen im Rückblick länger als von Routinetätigkeiten geprägte Zeiten. In der ereignisarmen Lockdown-Zeit hätte das also, anders als beobachtet, zu einer Verkürzung der wahrgenommenen Zeit führen können. Wenn man dagegen einschätzt, wie schnell die Zeit im aktuellen Moment vergeht, spielt noch ein anderer Faktor eine Rolle: welche Aufmerksamkeit man dem Verlauf der Zeit schenkt, denn wer die Minuten zählt, verlangsamt die Zeit.

    Literatur

    Anderl, S. (2022). Psychologie der Zeit : Warum uns der Lockdown so lang vorkam. Frankfurter Allgemeine vom 8. Juni.
    Ogden R. S. (2020). The passage of time during the UK Covid-19 lockdown. PloS one, 15, doi:10.1371/journal.pone.0235871.
    Stangl, W. (2014). Stichwort: ‚Zeitgitterstörung‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/6228/zeitgitterstoerung/ (2014-11-18)
    Stangl, W. (2014). Gehirn und Zeit. [werner stangl]s arbeitsblätter.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnZeit.shtml (2014-11-18).
    Stangl, W. (2014). Stichwort: ‚Zeitempfinden‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
    WWW: https://lexikon.stangl.eu/18468/zeitempfinden/ (2014-11-18)
    Stangl, W. (2022, 9. Juni). Das Zeitempfinden während Corona. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/4219/das-zeitempfinden-waehrend-corona
    Thönes, S., von Castell, C., Iflinger, J. & Oberfeld, D. (2018). Color and time perception: Evidence for temporal overestimation of blue stimuli. Scientific Reports, doi:10.1038/s41598-018-19892-z.
    Thönes, S., Arnau, S., Wascher, E. & Schneider, D. (2021). Boosting working memory with accelerated clocks. NeuroImage, 226, doi:10.1016/j.neuroimage.2020.117601.
    https://www.researchgate.net/publication/356705980_The_Blursday_Database_Individuals (22-06-06)


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