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Intense World Syndrome

    Das Intense World Syndrome ist ein Vorschlag von Markram, Rinaldi & Markram (2007), den Autismus aus neurologischer Sicht ganz anders als bisher zu sehen, denn die Neurologie eines Autisten ist eher durch ein Zuviel als ein Zuwenig in der neurologischen Aktivität gekennzeichnet. Durch diese Hyperreaktivität und Hyperreagibilität derjenigen Areale des Gehirns, die für die Wahrnehmung allgemein, für Emotion und für die Speicherung der Sinneseindrücke sowie für das Gedächtnis zuständig sind, kommt es zu Abwehreffekten von Amygdala und Cortex. Der eindringende Fluss von Reizen erfährt dadurch eine Abschirmung und es kommt zum typischen Rückzug ins Innere, wobei die Strategien mit dieser Überinformation zurechtzukommen, äußerst vielfältig sind, etwa das Erstarren in Routinen, das Vermeiden sozialer Kontakte und die Abwehr intensiver Reize. Viele Situationen im Leben eines Betroffenen werden daher durch die Überlastung als bedrohlich empfunden und auch das Angenehme oder Neutrale wird auf neuronaler Ebene mit Furcht verknüpft. Scheint etwa das Fehlen von Empathie oder das fehlende Interesse an Menschen das Primäre, ist der Effekt des Zurückziehens aber sekundär. Jeder Versuch, von diesem Syndrom betroffene Kinder etwa durch noch intensivere Zuwendung zur Teilhabe zu bewegen – etwa durch Berührungen oder intensivere Ansprache – ist deshalb kontraproduktiv bzw. verstärkt nur das Verhalten.

    Nach Markram, Rinaldi & Markram (2007) ist diese Störung ist eine neuronale Entwicklungsstörung mit einer polygenetischen Prädisposition, die durch mehrere Umweltfaktoren während des embryonalen oder frühen postnatalen Lebens ausgelöst zu werden scheint. Basierend auf dem Rattenmodell des Autismus schlagen sie eine vereinheitlichende Hypothese vor, bei der die Kernpathologie des autistischen Gehirns Hyperreaktivität und Hyperplastizität lokaler neuronaler Schaltkreise darstellt. Eine solche übermäßige neuronale Verarbeitung in diesen Verschaltungen wird als Ursache für Hyperwahrnehmung, Hyperaufmerksamkeit und Hyperspeicherung angesehen, die den Kern der meisten autistischen Symptome bilden. Aus dieser Perspektive sind die autistischen Spektren Störungen der Hyperfunktionalität, die sich lähmend auswirkt, im Gegensatz zu Störungen der Hypofunktionalität, wie früher angenommen wurde. Die übermäßige neuronale Verarbeitung die Welt ist für die Betroffenen schmerzhaft intensiv, wenn der Neocortex betroffen ist, und aversiv, wenn die Amygdala betroffen ist, was zu einem sozialen und ökologischen Rückzug führt. Die Erklärung für Autismus ist also übermäßiges neuronales Lernen, das die Betroffenes in ein kleines Repertoire sicherer Verhaltensroutinen zwingt, die in der Folge zwanghaft und zum Schutz der Integrität wiederholt werden.

    Anmerkung: Der Gehirnforscher Henry Markram ist Vater eines von dieser Erkrankung betroffenen Kindes aus erster Ehe, der in zweiter Ehe mit der Neurowissenschaftlerin Kamila Markram verheiratet ist.


    Übrigens: Supermärkte in Neuseeland haben aus diesem Grunnd eine „stille Stunde“ eingeführt, damit sensible Menschen bei gedimmtem Licht und ohne Musik einkaufen können. Einmal pro Woche legt Neuseelands größte Supermarktkette Countdown landesweit eine „Stille Stunde“ ein, d. h., jeden Mittwoch wird zwischen 14.30 und 15.30 Uhr in 180 Filialen das Licht heruntergedimmt und die Musik ausgeschaltet, selbst im Weihnachtsgeschäft. Die Idee für die „Quiet Hour“ geht auf eine Countdown-Angestellte mit autistischem Kind zurück, denn immer wenn sie ihren Sohn zum Einkaufen mitnahm, fing dieser oft zu schreien an, denn Menschen, die an Autismus leiden, nehmen alltägliche Reize wie Geräusche, Gerüche oder helles Licht besonders intensiv wahr.


    Literatur

    Markram, H., Rinaldi, T & Markram, K. (2007). The Intense World Syndrome – an Alternative Hypothesis for Autism. Frontiers in Neuroscience, 87, 77–96.
    https://www.chip.de/news/Immer-mehr-Supermaerkte-fuehren-stille-Stunde-ein-Was-sich-dahinter-verbirgt_182928917.html


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