Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.
Sprichwort
Die Rekognitionsheuristik (recognition heuristic), auch Wiedererkennungsheuristik, ist eine Urteilsheuristik der Kognitionspsychologie und besagt, dass bei der Beurteilung von mehreren Objekten hinsichtlich eines Kriteriums unter bestimmten Umständen deren Wiedererkennung als alleinige Entscheidungshilfe genutzt wird. Psychologen beschäftigen sich bekanntlich schon lange mit der Frage, welche Regeln den Menschen dabei helfen, Entscheidungen zu treffen, wobei eine dieser einfachen Regeln eben diese Rekognitionsheuristik ist, die besagt, dass man sich auch bei der Entscheidung zwischen mehreren Objekten eher für jenes entscheidet, das man wiedererkennt, das einem vertrauter ist. In Verhaltensexperimenten wurde diese Präferenz für bekannte Alternativen schon nachgewiesen, wobei bekanntlich die Werbung durch ihr Trommelfeuer ausgedehnten Gebrauch von der Rekognitionsheuristik macht, damit Menschen im Supermarkt nach jener Marke greifen, die sie aus den Medien besser kennen.
Rosburg, Mecklinger & Frings (2011) haben jetzt in neurowissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt, dass sich der Entscheidende hierbei tatsächlich durch sein Vertrautheitsgefühl leiten lässt, wobei dieses Verhalten nun erstmals auch über die Messung von Hirnströmen nachgewiesen werden konnte. Anhand von EEG-Daten konnten man in den Experimenten vorhersagen, welche Entscheidung die Versuchspersonen treffen werden, obwohl man deren Vorwissen nicht kannten. In der Studie bekamen die Testpersonen zwei Städtenamen genannt und sollten entscheiden, welches die größere Stadt ist, wobei wie erwartet die Versuchspersonen tatsächlich in 90 Prozent der Fälle den bekannteren Städtenamen wählten. Anhand der aufgezeichneten EEG-Daten konnten die Forscher außerdem feststellen, dass bekannte Städtenamen ein größeres Vertrautheitsgefühl hervorriefen. Dieses Verhalten führt bei Menschen natürlich häufig zu richtigen Entscheidungen, da die bekanntere Stadt auch oft die größere ist. Es gibt aber auch Situationen, in denen die Rekognitionsheuristik zu nachteiligen Entscheidungen führen kann.
Es ist bekannt, dass Gedächtnisinhalte Entscheidungen beeinflussen und diese wiederum beeinflussen ihrerseits Gedächtnisinhalte, allerdings nahm man bisher an, dass nur Entscheidungsalternativen, die mit angenehmen Erfahrungen verbunden sind, öfter gewählt werden. Lüttgau et al. (2020) haben nun gezeigt, dass es auch einen Einfluss in die gegenteilige Richtung gibt, d. h., eine Option, die öfters gewählt wird, wird in der Zukunft gegenüber einer objektiv gleichwertigen Option bevorzugt. Hingegen wird eine Option, die häufig abgelehnt wurde, auch in der Zukunft verglichen mit einer gleichwertigen Option eher abgelehnt. In den Alltag übertragen, würde dies bedeuten, dass man Produkte im Supermarkt eher erneut kauft, einfach nur weil man sie in der Vergangenheit gekauft hat, unabhängig davon als wie gut sie sich erwiesen hatten. Offenbar führt das beobachtete Entscheidungsverhalten dazu, dass das häufigere Auswählen zu einem besseren Erinnern an die mit der Option verknüpfte Belohnung führt. Man konnte nun sogar mit funktioneller Magnetresonanztomographie bzw. mithilfe des fMRT-Adaptationseffektes zeigen, dass die reine Auswahl einer Option auf neuronaler Ebene dazu führt, dass im Hippocampus, einer Schlüsselstruktur für das assoziative Gedächtnis, die Verknüpfung der Option mit ihrer Belohnung gestärkt wird, während das Nicht-Auswählen einer Option die Verknüpfung mit ihrer Belohnung schwächt. Dadurch wurde deutlich, dass Entscheidungen nicht nur durch Gedächtnisinhalte beeinflusst werden, sondern dass Entscheidungen selbst wiederum das assoziative Gedächtnis umformen können.
Eine Implikation der Rekognitionsheuristik ist, dass unter bestimmten Umständen weniger Wissen im Sinne von weniger erkannten Objekten zu besseren Entscheidungen und Ergebnissen führen kann, denn in einer Umwelt, in der Rekognition stark mit dem Kriterium zusammenhängt, haben Personen, die fast alle Objekte erkennen, einen Nachteil, da sie die Rekognitionsheuristik nur selten anwenden können. Demgegenüber haben Personen, die nur einige wenige Objekte erkennen, einen Vorteil bei ihrer Entscheidung und entscheiden spontaner. Dies nennt man den Less-Is-More-Effekt, denn bei Entscheidungen sind zu viele Auswahlmöglichkeiten oft hinderlich. Man vermutet, dass mit immer mehr Optionen die Vorteile der größeren Auswahl immer geringer werden, d.h., die Wahrscheinlichkeit, dass eine noch bessere Option dabei ist, wird immer geringer. Umgekehrt nehmen die Kosten, eine Entscheidung zu treffen, immer stärker zu, denn man braucht mehr Zeit, kann sich nicht alle Optionen merken, denn der Vergleich wird schwieriger. Ab einem bestimmten Punkt übersteigen die kognitiven Kosten die Vorteile einer großen Auswahl und man wird dabei demotiviert, ist letztlich unzufrieden mit der Entscheidung oder trifft dann überhaupt keine Entscheidung mehr. Reutskaja et al. (2018) haben untersucht, was dabei im Gehirn vor sich geht, und es zeigte sich, dass Probanden eine kleine Auswahl an sechs Produkten als zu gering ansahen, die Wahl aus vierundzwanzig hingegen war diesen zu schwierig, wobei die optimale Auswahlgröße bei den meisten etwa Zwölf betrug. Die Gehirnaktivität in den Basalganglien und dem anterioren cingulären Cortex, die an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, spiegelte diese präferierte mittlere Auswahlgröße wider. Die Gehirnaktivität in diesen Arealen war immer dann am höchsten, wenn zwölf Produkte zur Wahl standen. Die ForscherInnen vermuten, dass die Aktivität in diesen Arealen die Differenz zwischen dem kleiner werdenden Nutzen eines größer werdenden Auswahlangebots und den steigenden Bearbeitungskosten widerspiegelt. Wird die Auswahl zu groß, übersteigen die Kosten den Nutzen, die Aktivität sinkt, und es entsteht die berühmte Qual der Wahl.
Als Beispiel für die Wirkung von Rekognitionsheuristik nennt Neubauer (2018) in seinen Untersuchungen zur Bedeutung von Coverversionen bei der Etablierung von Künstlern in der Rock- und Popmusik den Drang mancher Musiker, eine Coverversion ihres Lieblingsstückes anzufertigen. Dabei werden die meisten Coverversionen in der Hoffnung eingespielt, dass sich jemand die Zeit nimmt, dieser Interpretation eines bekannten Musikwerkes zu lauschen. Menschen sind offenbar gewillt, neben den unzähligen Neukompositionen die weltweit jeden Tag veröffentlicht werden, sich auf eine Neuinterpretationen eines bereits bekannten Liedes einzulassen. Da sich der Titel in der Vergangenheit bereits bewährt hat, sinkt automatisch die Chance von diesem in seiner Erwartungshaltung enttäuscht zu werden. Durch die Verwendung von Coverversionen kann ein Künstler zudem seine eigenen musikalischen Einflüsse und Vorlieben zum Ausdruck bringen und sollten sich diese mit denen des Zuhörers überschneiden, wirkt der Musiker auf den Konsumenten eventuell gleich sympathischer.
Die suboptimale Entscheidung
Das menschliche Gehirn folgt bestimmten Rechenregeln und Bewertungen, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, doch führen diese manchmal dazu, dass nicht die jeweils objektiv beste Option gewählt wird, sondern diejenige, die in früheren Situationen im Vergleich zu anderen Optionen gut abschnitt. Solche suboptimalen Entscheidungen treten systematisch dann auf, wenn die mögliche Auswahl in einem neuen Zusammenhang getroffen werden muss, sodass diese Entscheidungen sich nicht aus einer fehlerhaft ausgeführten Berechnung ergeben, sondern es wird die Berechnung korrekt ausgeführt, jedoch führt die zugrundeliegende Rechenregel zu systematischen Verzerrungen, wenn Entscheidungen in einem neuen Kontext getroffen werden. Man vermutet, dass es in diesem Fall zu einer Überforderung kommt, sodass eine in der Vergangenheit getroffene Entscheidung vertrauenserweckender ist als eine möglicherweise bessere aber ungewisse. Auf der Ebene des Gehirns zeigte sich übrigens dabei, dass das Aktivitätsmuster im Striatum, einem für Belohnungslernen wichtigen Hirnareal, die Verrechnungsschritte dieser Rechenregel widerspiegelte (Klein et al., 2017).
Kaiser et al. (2021) haben die neurobiologischen Prozesse bei verschiedenen Formen der Entscheidungsfindung untersucht, wobei man aus früheren Studien wusste, dass unterschiedliche Gehirnareale für bestimmte Formen von Entscheidungen zuständig sind. Zum einen betrachtete man belohnungsbasierte Entscheidungen, also solche, bei denen zwischen zwei aktuell vorliegenden Optionen diejenige gewählt wird, die die höchste Belohnung verspricht. Einfaches Beispiel: „Welchen Cappuccino kaufe ich auf dem Weg zur Arbeit, abhängig von dessen Preis, Qualität und Umweg zum Café?“ Frühere Ergebnisse legen nahe, dass solche Entscheidungsprozesse im Gehirn vor allem im ventromedialen Präfrontalcortex verarbeitet werden. Bei Patch-leaving-Entscheidungen geht es um langfristige, strategische Fragen, die eine umfangreiche Kosten-Nutzen-Abwägung beinhalten, etwa ob man wegen einem Berufangebots von Düsseldorf nach München ziehen soll, wobei in München eventuell ein höheres Gehalt und spannendere Aufgaben locken, dem gegenüber aber Stress und Aufwand bei Wohnungssuche und Umzug nach München, höhere Mieten und der Verlust von sozialen Kontakten in Düsseldorf stehen. Viele Faktoren beeinflussen also diese Entscheidungsform, die im Gehirn im dorsalen anterioren cingulären Cortex getroffen werden. Zentralen Einfluss haben dabei die Botenstoffe Glutamat und GABA, wobei ihr Verhältnis für die Balance zwischen erregender und hemmender Übertragungsaktivität steht, deren Konzentration mittels Magnetresonanzspektroskopie in verschiedenen Hirnregionen gemessen werden kann. Im Versuch setzte man dann das Verhältnis der beiden Botenstoffe mit dem individuellen Entscheidungsverhalten der Probanden in Beziehung. Beim Patch-leaving-Szenario verließen Probanden mit höherem Verhältnis von GABA zu Glutamat im dorsalen anterioren cingulären Cortex schneller ein schlechter werdendes Habitat, hingegen bedurften Menschen mit höherer Glutamatkonzentration einer größeren Qualitätsverbesserung, bevor sie entschieden, ihren aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen. Im anderen betrachteten Szenario hatten Probanden mit einer im Verhältnis höheren GABA-Konzentration im ventromedialen Präfrontalcortex eine deutlich höhere Entscheidungsgenauigkeit, denn sie wählten zuverlässiger die Option mit dem höheren Belohnungswert. Menschen mit einem höheren Verhältnis von Erregung zu Hemmung im dorsalen anterioren cingulären Cortex benötigen viel mehr Anreiz, um sich von ihrem Status quo zu lösen, während Menschen mit mehr GABA im ventromedialen Präfrontalcortex dagegen bei kurzfristigen Entscheidungen eine höhere Genauigkeit zeigten.
„Die Wiedererkennungs-bzw. Rekognitionsheuristik ist eine von vielen simplen Mechanismen aus dem adaptiven Werzeugkasten, die es dem Menschen ermöglicht, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Die Regognitionsheuristik wird dann angewendet, wenn eine Person eine Entscheidung zwischen zwei Optionen treffen muss. Erkennt sie eine davon wieder, wird sie sich für diese Option entscheiden, ohne nach weiteren Hinweisen zu suchen“ (Manthei, 2010, S. 52).
„Die Rekognitionsheuristik beruht auf der einfachen Unterscheidung, ob ein Objekt wiedererkannt wird oder nicht. Sie kann in Urteilssituationen, in denen wenig Wissen vorhanden ist, zu verblüffend guten Ergebnissen führen“ (Betsch, Funke & Plessner, 2011, S. 52).
Ebenso wird von einer klassischen Studie von Goldstein und Gigerenzer (2002) gesprochen. Hierbei sollten amerikanische und deutsche Studierende die Frage beantworten: „Welche Stadt hat mehr Einwohner: San Diego oder San Antonio?“ Überraschenderweise können nur 62% der Amerikaner San Diego als richtige Alternative auswählen, während es 100% der Deutschen richtig machen. Dafür ist nach Ansicht der Autoren die Rekognitionsheuristik verantwortlich (vgl. Betsch, Funke & Plessner, 2011, S. 52).
„Wenn von zwei Objekten eines erkannt wird, das andere jedoch nicht, hat das erkannte Objekt den höheren Kriteriumswert. Also wähle das erkannte Objekt!“ (Beyer & Gerlach, 2011, S. 130).
Unter Rekognition (Wiedererkennen) versteht man, dass uns bestimmte Personen oder Situationen vertraut sind, ohne dass wir in der Lage wären, diese zu benennen (vgl. Banyard et al., 1995, S. 163).
Heuristiken sind Entscheidungen, von denen man annehmen kann, dass sie die von uns gewünschte Konsequenz nach sich ziehen (vgl. Banyard et al., 1995, S.149).
„Wenn du den Namen der einen Stadt, aber nicht den der anderen erkennst, dann schließe daraus, dass die wiedererkannte Stadt mehr Einwohner hat“ (Gigerenzer, 2007, S. 16).
Literatur
Kaiser, Luca F., Gruendler, Theo O. J., Speck, Oliver, Luettgau, Lennart & Jocham, Gerhard (2021). Dissociable roles of cortical excitation-inhibition balance during patch-leaving versus value-guided decisions. Nature Communications, 12, doi:https://doi.org/10.1038/s41467-020-20875-w.
Klein, Tilmann A., Ullsperger, Markus & Jocham, Gerhard (2017). Learning relative values in the striatum induces violations of normative decision making. Nature Communications, doi:10.1038/ncomms16033.
Lüttgau, L., Tempelmann, C., Kaiser, L.F. & Jocham, G. (2020). Decisions bias future choices by modifying hippocampal associative memories. Nature Communications, 11, doi:10.1038/s41467-020-17192-7.
Manthei, I. (2010). Die Rolle der Anciennität in der Entscheidungsfindung. Eine prozessorientierte Untersuchung anhand rivalisierender Cues. Hamburg: Diplomica Verlag.
Neubauer, Marc Philipp (2018). Untersuchungen zur Bedeutung von Coverversionen bei der Etablierung von Künstlern in der Rock- und Pomusik. Bachelorarbeit, Hochschule Mittweida.
Reutskaja, E., Lindner, A., Nagel, R., Andersen, R. A. & Camerer, C. F. (2018). Choice overload reduces neural signatures of choice set value in dorsal striatum and anterior cingulate cortex. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-018-0440-2.
Rosburg, T., Mecklinger, A., & Frings, C. (2011). When the brain decides: a familiarity-based approach to the recognition heuristic as evidenced by event-related brain potentials. Psychological Science, 22, 1527-1534.