Bei Probanden, die man ihr Leben erzählen lässt, stammen die Erinnerungen, die sie erzählen, häufig aus der Phase, in der sie ungefähr zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig waren, mit einem Höhepunkt um ihr zwanzigstes Lebensjahr. Übertragen in Histogramme oder Grafiken, sieht man bei Versuchspersonen aus dieser Alterskategorie, wie die Zahl der Erinnerungen ab ihrem zehnten Lebensjahr schnell ansteigt, den Höhepunkt um die zwanzig erreicht und dann Richtung dreißig wieder abflaut. Aus der Phase, in der sie vierzig oder fünfzig waren, erzählen sie im Verhältnis viel weniger. Wegen dieser charakteristischen Erhöhung in der Adoleszenz spricht man von einem Reminiszenzhöcker oder Reminiszenz-Buckel. Dieser Reminiszenzeffekt beginnt, wenn Menschen auf die sechzig zugehen, und wird danach immer stärker, ist bei Achtzigjährigen stärker als bei Sechzigjährigen, und es gibt eine Studie, die gezeigt hat, dass der Reminiszenzhöcker bei Menschen von über hundert Jahren wiederum noch höher ist als bei Achtzigjährigen. Auch Alzheimerpatienten erinnern sich meist besonders gut an jene Zeit des Erwachsenwerdens, weil sich hier große Teile der Identität gebildet haben.
In der Zeitspanne zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr haben Mensch die meisten intensiven Erfahrungen ihres Lebens, die Pioniererfahrungen: das erste Verliebtsein, der erste Liebeskummer, die Reifeprüfung, der erste Arbeitstag. Etwa siebzig Prozent der stärksten Erinnerungen im Leben eines Menschen beziehen sich nach auf das erste Lebensdrittel, in den restlichen zwei Dritteln sind nur noch 30 Prozent der Erinnerungen verortet, wodurch auch das Leben mit zunehmendem Alter schneller zu vergehen scheint. Je mehr Erinnerungen in einem bestimmten Zeitintervall lagern, desto länger scheint im Rückblick dieses Intervall gedauert zu haben, doch je länger dagegen das Leben dauert, desto mehr mangelt es an Überraschungen und Pioniererfahrungen.
Übrigens: Physiologisch macht es keinen Unterschied, ob man etwas erlebt oder es sich nur vorstellt. Aus diesem Grund erzählen Menschen ständig Geschichten, aus diesem Grund hat jede Kultur ihre eigenen Mythen. Man sieht die Dinge nicht, wie sie sind, man sieht sie, wie man sie versteht. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzt jeder Mensch selbst, und je besser er seine Fiktion im Griff hat, desto besser hat er seine Realität im Griff. Allerdings bleiben die Erfahrungen aus manchen Lebensabschnitten besonders stark haften, andere weniger, was zwar sehr individuell ist, jedoch folgt diese Intensität der Erinnerung fast immer derselben Muster, der Erinnerungskurve: Während man sich an die frühe Kindheit kaum erinnert, kommt einem die Jugend, vor allem die Zeit zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr am intensivsten vor, während die mittleren Jahre weniger präsent sind. Da kann man daran erkennen, dass auch in autobiografischen Werken der Reminiszenzeffekt nachweisbar ist. Wer Autobiografien älterer Autoren über siebzig mit denen junger Autoren vergleicht, kann feststellen, dass die älteren dem Muster des Reminiszenzhöckers folgen, denn sie widmen der Zeit, in der sie zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt waren, deutlich mehr Seiten als einer ebenso langen Phase aus ihren mittleren Jahren. Bei jüngeren Autoren ist dieser Höcker zwar auch vorhanden, aber viel weniger ausgeprägt.
Siehe dazu auch den Proust-Effekt.
Literatur
Schüle, C. (2011). Im Bann der Erinnerung.
WWW: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/02/Erinnerung-Forschung/ (11-02-08)