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Gehorsam

    Mit Gehorsam wird in der Sozialpsychologie und Pädagogik ein Verhalten bezeichnet, das Befehlen oder Anforderungen einer in der Hierarchie höher stehenden Person (Autorität) nachkommt. Sozialpsychologische Untersuchungen zum Gehorsam beziehen sich vornehmlich auf situative Einflussfaktoren, die zur Varianzbreite möglicher menschlicher Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Gehorsam beitragen.  In der Persönlichkeitsforschung versteht man unter Gehorsam unveränderliche innerpsychische Dispositionen, die zu einer bestimmten Ausprägung des Gehorsams führen, siehe etwa Theodor W. Adornos Theorie des autoritären Charakters, der auch durch die Neigung definiert ist, sich Autoritäten zu unterwerfen.

    Mit dem Begriff des Gehorsams wird in der Psychologie vor allem Stanley Milgram in Verbindung gebracht, der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufsehenerregende Experimente durchführte. In einem Forschungssetting wurden Probanden angewiesen, einer Versuchsperson scheinbar zunehmend intensivere elektronische Schocks als Strafe zu verabreichen, wenn diese bei einer Prüfung nicht gewisse Standards erreichten. Die lernende Versuchsperson war für die mit der Strafe beauftragten Probanden nicht zu sehen, wohl aber zu hören. Zwei Drittel der Versuchspersonen straften bis zur allerhöchsten Ladung von 450 Volt, so dass sie als vollumfänglich gehorsam gelten können. Milgrams Experiment wurde vielfach wiederholt und in allen Fällen ließ sich ein signifikantes Maß an Gehorsam feststellen. So wurde das Experiment z.B. in Australien, Jordanien, Spanien und Deutschland wiederholt, und überall reagierten die Menschen ähnlich wie in Milgrams Versuch. Des weiteren zeigte sich, daß Frauen sich ebenso gehorsam verhalten wie Männer.

    Es gibt nach wissenschaftlichen Studien einige generelle Faktoren, die die Gehorsamsbereitschaft eines Menschen erhöhen:

    •     wenn die Autorität eine legitimierte Machtposition besitzt
    •     wenn die Autorität Belohnungen gewähren kann
    •     wenn die Autorität Zwang einsetzen kann
    •     wenn die Expertise der Autorität erwiesen ist
    •     wenn der Wunsch besteht, sich mit der Autorität zu identifizieren
    •     wenn die Autorität über überlegene Informationen verfügt

    Menschen gehorchen einer Autorität auch eher, wenn diese die moralische Verantwortung für die Handlungen und Handlungsfolgen übernimmt bzw. sich als Entscheidungsträger autorisiert hat. Die Gehorchenden empfinden sich dann nicht mehr für ihr Handeln verantwortlich und zeigen selbst bei schädlichen Auswirkungen kein Schuldbewusstsein. Auch innerhalb einer etablierten Routine fällt Gehorsam leichter, wenn die Gehorchenden in ihrer Aufgaben aufgehen, sodass die Möglichkeit reflektierenden Denkens bzw. moralischer Verantwortungsbereitschaft beträchtlich reduziert ist.

    Neuere Studien in der Nachfolge Milgrams von Reicher et al. (2012) zum Gehorsam zeigen, dass Obrigkeitshörigkeit möglicherweise gar nicht die entscheidende Einflussgröße für den Ausgang der Versuche gewesen war, sondern die Identifikation mit dem Studienleiter, der die Befehle gab, das Prozedere fortzusetzen. Befragungen von Sozialpsychologen und Studenten zu verschiedenen Varianten des Milgram-Experiments legen die Vermutung nahe, je mehr sich Probanden mit dem Studienleiter identifizieren konnten, desto eher waren sie gewillt, seinen Befehlen zu folgen.


    Lengersdorff et al. (2020) haben ebenfalls ein Experiment mit Elektroschocks durchgeführt, wobei es ihnen aber nicht darum ging, die Autoritätshörigkeit zu überprüfen, sondern das prosoziale Verhalten, also die Neigung, etwas zum Nutzen anderer zu tun. In dieser Studie mussten die Versuchspersonen wiederholt zwischen zwei Symbolen wählen. wobei eines der beiden sehr oft einen schmerzhaften Elektroschock auslöste, während das andere nur selten zu einem Schmerz führte. Durch wiederholtes Ausprobieren sollten die Versuchspersonen lernen, durch welche Auswahl sie die Anzahl der schmerzhaften Schocks reduzieren konnten. Im ersten Teil der Versuche mussten die Versuchspersonen diese Entscheidungen treffen, um für sich selbst Elektroschocks zu vermeiden, im zweiten Teil hingegen mussten sie die Entscheidungen für einen zweiten Versuchsteilnehmer treffen, den sie vor dem Experiment kennengelernt hatten. Im Schnitt erwiesen sich die Probanden als effizienter beim Vermeiden von Stromstößen, wenn diese anderen Studienteilnehmern drohten, wobei die Probanden sensibler zwischen dem besseren und dem schlechteren Symbol unterschieden, wenn ihre Auswahl einen Mitmenschen betraf. Auch in deren Gehirn spiegelte sich dies in einer erhöhten Aktivität im ventromedialen präfrontalen Cortex wider, jenem Gehirnareal, das unter anderem für die Bewertung von Umweltreizen und Handlungsoptionen zuständig ist. Zudem kommunizierte dieses Hirnareal während Entscheidungen für die andere Person verstärkt mit dem rechten temporoparietalen Cortex, das für soziale Kognitionen verantwortlich ist wie der Perspektivenübernahme. Prosoziale Entscheidungen könnten daher durch ein Zusammenspiel von Gehirnregionen entstehen, die einerseits Bewertungsprozesse, andererseits auch soziale Informationen verarbeiten. Man schließt aus den Ergebnissen, dass prosoziales Verhalten spontan auftreten kann. Menschen sind offenbar besser darin, andere vor Schmerzen zu bewahren, als sich selbst zu schützen, was letztlich bedeutet, dass Menschen nicht immer egozentrisch handeln.


    Stanley Milgram hat nicht nur dieses berühmte Experiment zum Gehorsam durchgeführt, sondern auch etwa dieses zu sozialen Normen beim Schlangestehen. Milgram et al. (1986) ließen Assistenten in verschiedenen Warteschlangen dreist vordrängeln, d. h., diese reihten sich mit den Worten der Entschuldigung vor der vierten Person in die Schlange ein und zogen sich nach einer Minute wieder zurück, sofern sie nicht schon vorher vertrieben worden waren. Interessanterweise waren die Wartenden überwiegend tolerant, denn nur in zehn Prozent der Fälle versperrten sie dem Eindringling den Weg, lediglich in der Hälfte der Fälle protestierte überhaupt jemand, meist nur mit einer resignierenden Geste oder einem bösen Blick. Gesellte sich jedoch ein zweiter Vordrängler dazu, dann stieg der Protest auf über neunzig Prozent. Offenbar tolerieren Menschen einen Abweichler von der Norm, mehrere Abweichler jedoch nicht.


    Literatur

    Lengersdorff, Lukas L., Wagner, Isabella C., Lockwood, Patricia L. & Lamm, Claus (2020). When implicit prosociality trumps selfishness: the neural valuation system underpins more optimal choices when learning to avoid harm to others than to oneself. The Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.0842-20.2020
    Milgram, Stanley (1993). Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbeck: Rowohlt.
    Milgram, Stanley, Liberty, Hilary J., Toledo, Raymond & Wackenhut, Joyce (1986). Response to intrusion into waiting lines. Journal of Personality and Social Psychology, 51, 683-689.
    Reicher, Stephen D., Haslam, S. Alexander & Smith, Joanne R. (2012). Working Toward the Experimenter: Reconceptualizing Obedience Within the Milgram Paradigm as Identification-Based Followership. Perspectives on Psychological Science (doi: 10.1177/1745691612448482).
    Stangl, W. (1998). Die Milgram-Experimente.
    WWW: http://testexperiment.stangl-taller.at/experimentbspmilgram.html (11-03-21)
    Wieser, D. (2007): Gehorsam.
    WWW: http://www.social-psychology.de/sp/konzepte/gehorsam (11-08-04)

     


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