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Dyskalkulie

    Kurzdefinition: Als Dyskalkulie, Rechenschwäche oder Rechenstörung bezeichnet man die Unfähigkeit, selbst einfachste Rechenaufgaben zu bewältigen, wobei auch intelligente Menschen davon betroffen sein können. Schon im ersten Grundschuljahr sollte den Eltern das Problem auffallen, wenn die Kinder Schwierigkeiten beim Erlernen der Grundrechenarten haben, wobei eine Rechenschwäche nicht bedeutet, dass ein Kind auf den Besuch einer höheren Schule verzichten muss. Man vermutet, dass etwa fünf Prozent der Bevölkerung Probleme mit Zahlen hat. Man bezeichnet Dyskalkulie oft auch als unbekannte Schwester der Legasthenie.

    Einleitender Hinweis: Nicht hinter jedem Unwillen beim Rechnen oder schlechten Mathematiknoten steckt eine Dyskalkulie, denn unterschiedliche Begabungen sind bei Kindern und Jugendlichen völlig normal. So können bei auffallend schlechten Mathematikleistungen auch Seh- oder Hörstörungen oder ein mangelhafter Unterricht im Fach Mathematik eine Ursache sein. Daher sind spontane Diagnosen von Eltern oder Lehrern nicht zielführend, denn dafür stehen fachärztliche und psychologische Tests auf Dyskalkulie zur Verfügung (s. u.). Neben diesen Tests untersuchen ÄrztInnen bzw. PsychologInnen beu der Diagnose auch die Vorgehensweise der Kinder durch lautes Denken, etwa wie sie an eine Rechenaufgabe herangehen. Auch Mimik und Körpersprache spielen bei der Diagnose eine Rolle, wobei natürlich die Untersuchung des Seh-, Hör- und Konzentrationsvermögens zu einer ausführlichen Diagnose dazugehört, ebenso die Erhebung möglicher familiärer Belastungen und die Unterrichtsqualität.

    Viele Menschen, die eine starke Abneigung gegen Mathematik empfinden, können sich oftmals selbst nicht erklären, woher ihre Abneigung eigentlich kommt, aber viele fühlen sich dumm oder glauben bald, dass ihnen Mathematik einfach nicht liegt. Rechenschwache Jugendliche und Erwachsene blicken meist immer auf eine jahrelange Leidenszeit mit negativen Auswirkungen auf ihre persönliche, schulische und berufliche Entwicklung zurück. Oft liegt es an einer frühen Kombination aus ungünstigen Einflüssen wie Schulwechsel, psychischem Druck oder Eltern, die selber Probleme beim Rechnen hatten, denn diese können dadurch bei einem Kind den Grundstein für eine Rechenschwäche legen. Schon früh werden Unlust und der Widerwille der Eltern gegenüber Mathematik oder dem Rechen für ihre Kinder spürbar, und können so zu einer Störungsentwicklung beitragen, sodass ein Teufelskreis entsteht: Zunächst gibt es verschiedene negative Einflüsse, es kommt zu einem Unverständnis eines mathematischen Zusammenhangs und das daraus folgende Scheitern an der Aufgabe führt zu einer Abneigung, die wieder einen negativen Einfluss hat, sodass sich ein falsches Verständnis für die Grundlagen der Mathematik entwickelt. Beim Üben von Größenverhältnissen oder Grundrechenarten soll es daher vermieden werden, dass Kinder durch Misserfolge im Unterricht eine grundlegende Angst gegenüber allem entwickeln, was mit Zahlen und Mathematik zu tun hat, denn diese fatale Kopplung an das Furcht– und Angstnetzwerk behindert das Lernen nur noch mehr.

    Tipp: Zwei spielerische Methoden zum angstfreien Erlernen des Einmaleins und des Teilens im Zahlenraum bis 100 findet sich in den Lerntipps: Multiplizieren lernen und Dividieren lernen durch die Dreieck-Methode.

    Viele Kinder verstecken ihr Unverständnis mit Abzählen oder Auswendiglernen, was anfangs noch kein Problem darstellt, doch sobald die Zahlenwerte gesteigert werden oder subtrahiert statt addiert werden sollen, stehen die Kinder vor einem Problem. Auffällig sind dabei auch Kinder, die einmal Gelerntes sehr schnell wieder vergessen, und bald Angst oder sogar Depressionen in Bezug auf den Mathematikunterricht oder mathematische Hausaufgaben zeigen. Rechnen stellt eine Hochleistung des menschlichen Gehirns dar, die nicht wie die Sprache in einem bekannten, umschriebenen Hirnrindengebiet entsteht, sondern nur auf Grund eines komplizierten Zusammenspiels beider Hemisphären möglich ist. Das Rechnen ist also auf eine integrative Zusammenarbeit beider Hemisphären angewiesen, während Sprechen, Lesen, Schreiben vor allem die Leistung einer – im Besonderen der linken Hemisphäre – darstellt.

    Untersuchungen (Qin et al., (2014) haben gezeigt, dass Schulkinder beim Rechnenlernen einen schrittweisen Wandel durchmachen: Zuerst zählen sie selbst einfache Aufgaben an den Fingern ab, später fällt ihnen das Ergebnis automatisch ein. Hinter diesem Wechsel der Strategie steht auch ein Umbau im Gehirn, was auch erklärt, warum manche Kinder mehr Probleme beim Rechnen haben als andere. Die Veränderungen in den arithmetischen Fähigkeiten spiegelten sich auch in der Hirnaktivität wider, denn der Hippocampus war bei den älteren Kindern während des Rechnens aktiver, wobei dieses Hirnareal für die Umwandlung von neu Gelerntem in dauerhafte Erinnerungen verantwortlich ist und neue Informationen in bereits existierendes Wissen einordnet. Der Hippocampus verknüpft sich bei dieser Entwicklung zunehmend stärker mit der Hirnrinde, also jenem Areal, das bei Erwachsenen für das Lösen mathematischer Aufgaben aktiviert wird. Im Laufe der Kindheit verändert sich demnach nicht nur die Strategie, wie mathematische Aufgaben gelöst werden, sondern auch das Gehirn verändert seine für das Lernen der Mathematik wichtigen Strukturen. Je früher und vollständiger diese Veränderung stattfindet, desto leichter fällt den Kindern das Rechnen bzw. desto besser sind später ihre Leistungen in Mathematik. Man vermutet daher, dass bei Kindern, die unter einer Dyskalkulie leiden, diese Umstellung der Strategien nicht vollständig oder deutlich verspätet auftritt.


    Ein Buchtipp:
    Der Ratgeber Dyskalkulie von Silvia Pixner zeigt auf, wie eine detaillierte und umfangreiche Diagnostik der Dyskalkulie gestaltet sein muss, damit die darauf folgenden Fördermaßnahmen möglichst „maßgeschneidert” aufgebaut und in Kooperation mit der Schule umgesetzt werden können. Er richtet sich primär an Eltern, bietet aber auch Therapeuten, Lehrern und anderen Berufsgruppen hilfreiche Anregungen zum Thema.


    Definitionen

    Eine Rechenstörung bezeichnet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, wenn diese nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung, auf das Entwicklungsalter oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Die Symptome einer Dyskalkulie umfassen alle Bereiche des Rechnens, wobei betroffene Kinder unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen. Nicht alle Bereiche müssen daher gleich stark betroffen sein. Rechenschwierigkeiten zeigen sich vor allem im Zählen und beim Transkodieren von Zahlwörtern und arabischen Zahlen, im Lernen arithmetischer Fakten (Einmaleins) und bei der Anwendung mathematischer Operationen. Die Basisfertigkeiten, d. h. das Mengen- und Zahlenverständnis, die Zählfertigkeit sowie einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben. insbesondere das Zahlen- und Mengenverständnis sind bei einer Dyskalkulie in vielen Fällen auch betroffen.

    1. Definition
    „Dyskalkulie ist eine Rechenschwäche, die auf eine differenzierte Wahrnehmung der Zahlen zurückzuführen ist. Manchmal wird sie auch als neuropsychologische Lernstörung bezeichnet“ (Luger-Linke 2005, S. 24).

    2. Definition
    „Rechenstörung, diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Intergralrechnungen benötigt werden“(Lorenz 2003, S. 14).

    3. Definition
    „Als Fachbegriff für Rechenschwäche oder Rechenstörung wird in der Forschung das lateinisch-griechische Fremdwort Dyskalkulie verwendet. Dieses Wort enthält die griechische Vorsilbe „dys-„ was schwer oder schwierig bedeutet und hierbei eine Störung der normalen Funktion bezeichnet. Der Wortteil –kalkulie bezieht sich auf das lateinische Wort calculus welches Steinchen heißt. Ein rechenschwacher Schüler hat also Schwierigkeiten mit Rechensteinchen, oder anders ausgedrückt mit Rechenoperationen im Allgemeinen“ (Helmberger 2007, S. 13).

    4. Definition
    „diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division“ (WHO 2002, S. 23).

    Hinweis: Die Definition nach ICD 10 der WHO ist umstritten, da sie eine Diskrepanzdefinition enthält, d. h., eine Dyskalkulie wird nur anerkannt, wenn die Betroffenen einen bestimmten IQ-Wert aufweisen. Auch werden dabei nur Ergebnisse erfragt, jedoch nicht subjektive Bewältigungsstrategien, fehlerhafte Gedanken, falsche Rechenwege und die schulischen Bedingungen.

    5. Definition
    „Besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“ (Lenart 2003, S. 7).

    Aus neuropsychologischer Perspektive kann die Fähigkeit zu rechnen erst dann entwickelt werden, wenn verschiedene Wahrnehmungsbereiche gereift sind und auch in Kontakt zueinander stehen, also integriert sind. Dabei handelt es sich um die Bereiche der Motorik, der räumlichen Orientierungsfähigkeit, der auditiven Wahrnehmung, der visuellen Wahrnehmung, der Reaktionsgeschwindigkeit, dem Gedächtnis und der Orientierung in der Zeit.

    6. Definition

    Rechenschwäche (Dyskalkulie) ist ein Lernversagen im Grundlagenbereich der Mathematik. Menschen mit Rechenschwäche haben keine hinreichende Vorstellung der Zahlen als Symbole für Menge/Anzahl und vom Rechnen als Mengenhandlung entwickelt. Sie gehen irrtümlich von der Vorstellung eines „Zahlenalphabets“ aus und begreifen Addition und Subtraktion entsprechend als Aufforderung zum Vorwärts- bzw. zum Rückwärtszählen. Auch den Aufbau mehrstelliger Zahlen im Zehnersystem haben sie nicht richtig verstanden. Rechenschwache Kinder interpretieren daher den Lernstoff in der Schule von Anfang an falsch. Ihr „Rechnen“ verharrt im Stadium des Abzählens und wird den wachsenden schulischen Anforderungen immer weniger gerecht.

    7. Defnition

    Bei der Dyskalkulie handelt es sich um eine multikausale Lernstörung, bei der vereinfacht zwei Ursachengruppen zu Grunde liegen. Bei der primären neurogenen Dyskalkulie handelt es sich um die körperlich bedingte, auf einer Hirnleistungsschwäche beruhenden neurogenen Rechenstörung. Diese ist entweder genetisch oder häufig perinatal, also in den letzten Schwangerschaftswochen, während der Geburt oder in den ersten Lebenswochen erworben worden. Ungenügende Sauerstoffversorgung  oder ein akutes Absinken des Blutzuckerspiegels nach der Geburt bzw. Abnabelung kann dabei der Auslöser sein. Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin, Medikamente während der Schwangerschaft  wirken ebenso beeinträchtigend. Ein Großteil primärer Rechenschwächen ist durch perinatale Risikofaktoren bedingt, wobei häufig feinmotorische Koordinationsstörungen, Störungen in der visuellen, in der taktil-kinästhetischen und in der akustischen Wahrnehmungsverarbeitung erkennbar sind. Die sekundäre oder psychogene Dyskalkulie ist eine durch seelische Störungen bedingte Rechenschwäche, wobei ichschwache, unselbständige und ängstliche Kinder sowie Kinder mit Konzentrationsschwächen für diese Form der sekundären Dyskalkulie anfällig sind, auch wenn keine funktionelle Teilleistungsschwäche des Gehirns vorliegt. Dabei können Emotionen, vor allem Ängste  die Rechenvorgänge blockieren, was etwa bei Kindern, die unter starkem Leistungsdruck stehen, der Fall ist.


    Merkmale einer Dyskalkulie sind unverhältnismäßig viele Fehler in den Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Division und Multiplikation im Vergleich zu Gleichaltrigen, obwohl auch sie in anderen Fächern über gute Intelligenzleistungen verfügen und mit den Leistungsansprüchen anderer Gegenstände wenig Probleme haben. Da in der Mathematik jeder Lernstoff mit den Grundrechenarten verknüpft ist, haben rechenschwache Kinder ohne besondere Förderung auch in den aufbauenden Stoffgebieten schwerwiegende Nachteile. Obwohl Checklisten in manchen Bereichen der Psychologie fragwürdig sind, kann diese kleine Aufzählung von typischen Merkmalen einer Dyskalkulie vielleicht einige Hinweise geben, denen man mithilfe eines Fachmannes nachgehen sollte:

    • Das Kind verzählt sich oft um eins.
    • Das Kind zählt statt zu rechnen.
    • Zählhilfen wie etwa die Finger werden häufig gebraucht.
    • Das Kind macht Fehler in allen Grundrechenarten.
    • Das Kind hat Schwierigkeiten beim Zehner- und Hundertersprung.
    • Das Kind hat eine schlechte Raum-Lage-Wahrnehmung (rechts, links, oben, unten).
    • Das Sortieren fällt schwer
    • Das Rückwärtszählen gelingt nur mithilfe der Finger.
    • Die Überschreitung des Zehnerraums bereitet Schwierigkeiten.
    • Probleme mit der richtigen Einschätzung von Mengen.
    • Zwischenergebnisse beim Kopfrechnen werden nicht gespeichert.
    • Rechensymbole werden verwechselt.
    • Vertauschen von Hunderter- und Tausenderraum.
    • Überforderung durch Fragen nach “kleiner”, “größer”, “mehr”, “weniger”.
    • Der Unterschied zwischen Addition und Multiplikation wird oft nicht richtig verstanden.
    • Überforderungen durch Kopfrechungen.
    • Mengen bis drei werden abgezählt und nicht mit einem Blick erkannt.
    • Wiederholtes Üben bringt wenig Erfolg.
    • Ablesen der Uhrzeit bereitet Probleme, vor allem bei einer Digitaluhr.
    • Zahlenreihen werden nicht korrekt weitergeführt.

    Um eine Dyskalkulie nachzuweisen, reichen normale Mathematiktests nicht aus, sondern es müssen wissenschaftlich anerkannte Untersuchungen und Tests durchgeführt werden, die dem Kind erlauben, seinen Rechenweg zu erklären, sodass nicht nur das falsche Ergebnis bewertet wird, sondern auch anhand des falschen Rechenweges herausgefunden werden kann, an welchem Punkt das Unverständnis des Kindes beginnt. Weiterhin müssen die Konzentrationsfähigkeit, das emotionale Befinden und die Intelligenz des Kindes beurteilt werden, um ein rechenschwaches Kind von einem insgesamt weniger intelligenten Kind zu unterscheiden. Von einer Rechenstörung kann man im übrigen auch dann sprechen, wenn nach festgelegten diagnostischen Kriterien die Rechenleistungen des Kind deutlich unter dem Altersdurchschnitt liegen und ein deutlicher Abstand zwischen der diagnostizierten Rechenleistung und den Begabungswerten eines Kindes vorliegt. Rechenschwäche ist nicht die Folge einer Unfähigkeit zu logischem Denken, und verdankt sich auch nicht der Dummheit oder Unwilligkeit eines Kindes oder mangelnder Konzentration, sondern einem Fehlen grundlegender mathematischer Einsichten, ohne die alle Versuche, den Lernstoff durch vermehrtes Erklären und Üben zu bewältigen, zum Scheitern verurteilt bleiben. Das Wiederholen von Unverstandenem hilft rechenschwachen Schülern nicht, ihren Lernaufgaben gerecht zu werden, sondern verstärkt nur deren Widerwillen gegenüber der Mathematik und untergräbt ihr Selbstvertrauen.

    Anschließend muss eine individuelle Therapie erarbeitet werden, die sowohl von Therapeuten als auch von Lehrern und den Eltern gemeinsam mit dem Kind durchgeführt wird, wobei am aktuellen Wissensstand des Kindes anstatt an dessen Schulstand angesetzt werden muss. Dabei werden falsch verstandene Techniken  neu erarbeitet, sodass das Kind das logische Umgehen mit Zahlen von Grund auf neu erlernt. Dies ist ein Prozess, der in der Regel länger dauert als bei nicht rechenschwachen Kindern, aber er bringt den Spaß und die Freude am Lernen zurück und stärkt das Selbstvertrauen. Zur Unterstützung könne das Computerprogramm und verschiedene Spiele eingesetzt werden, die den Kindern ein Gefühl für die Mathematik zurückgeben sollen. Ziel jeder Dyskalkulietherapie ist der nachträgliche Erwerb des Mengen- und Zahlenverständnisses und darauf aufbauend der sichere Umgang mit den Grundrechenarten und den Anwendungen der Mathematik in Alltag, Schule und Beruf. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den zahlreichen Kompensationsstrategien, mit denen sich rechenschwache Schüler behelfen, die sie aber gleichzeitig daran hindern, das Gelernte wirklich zu begreifen, denn solange sich ein Kind im Bereich der einstelligen Zahlen noch zählend bewegt, kann es den Umgang mit zwei- und mehrstelligen Zahlen weder verstehen noch beherrschen. Der Zahlenraum bis Zehn ist für das Verständnis aller anderen mathematischen Themen unverzichtbare Voraussetzung, daher setzt jede Dyskalkulietherapie hier einen ersten Schwerpunkt. Die Dyskalkulietherapie bringt anders als Nachhilfe oder Förderunterricht eine grundlegende Neuorientierung mit sich, denn viele irrtümliche Denk- und Verhaltensmuster müssen verlernt und durch neue tragfähige ersetzt werden.

    Erkennen von Dyskalkulie

    Schüler, die von einer Dyskalkulie oder einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen sind, sehen sich oft von Beginn ihrer Schullaufbahn an kaum zu bewältigenden Leistungsanforderungen ausgesetzt. Viele Kinder versuchen ihre Schwierigkeiten zu verbergen. Sie entwickeln aufwendige Kompensationsstrategien, lernen ganze angekündigte Diktate, Lesetexte oder Rechenaufgaben auswendig und schaffen es so, manchmal sogar über mehrere Jahrgangsstufen hinweg, ihre Deutsch- und Mathematiknoten im durchschnittlichen Bereich zu halten. Bei zunehmendem Anforderungsniveau in höheren Klassen gelingt dies oft nicht mehr, die Schulleistungen der Kinder nehmen rapide ab und die Lese-, Rechtschreib- und/oder Rechenstörung wird erkennbar.

    Frühe Förderung von Kindern mit Rechenschwäche

    Kinder mit Dyskalkulie besitzen kein Gefühl für Ziffern, Zahlen oder für den Zahlenraum, sie sind ihnen völlig abstrakt. Man kann ihnen daher etwas auf dem Papier vorrechnen, doch es hilft ihnen wenig, denn Zahlen sind für sie ein chaotischer Haufen, zu dem sie keinen Zugang finden, um für sich eine klare Ordnung zu finden oder ein System von Beziehungen herzustellen. Sie wissen wirklich nicht, ob eine Zahl größer ist als ein andere, wobei manche von ihnen  dann in ihrer Verzweiflung dazu neigen, Zahlen und Rechenvorgänge als solche auswendig zu lernen, was in der Mathematik ab einem bestimmten Zeitpunkt die falsche Lernmethode darstellt. Häufig wird betroffenen Kindern eine Leistungsverweigerung oder fehlende Intelligenz unterstellt, weshalb es notwendig ist, diese Kinder vor dem Teufelskreis einer sich daraus entwickelnden allgemeinen Lernstörung zu bewahren.

    Die Förderarbeit mit einem rechenschwachen Kind umfasst zunächst den Aufbau eines sinnvollen Zahlen- und Mengenbegriffs, das Erfassen der Struktur des dekadischen Stellenwertsystems in enger Verbindung mit dem Zahl- und Mengenbegriff, wobei die Erarbeitung und Automatisierung sinnvoller, nicht-zählender Rechenstrategien und das Verständnis mathematischer Operationen bei der Analyse und Lösung von Sachaufgaben im Mittelpunkt stehen sollte. Eine Förderung muss auch kleinschrittig erfolgen, denn durch systematisch vermittelter Erfolgserlebnisse in der mathematischen Arbeit ermöglicht man einem Kind die bisher dominante Misserfolgsorientierung zu beenden. Der Ausgangspunkt jeder Förderung ist daher nicht das Defizit, sondern baut auf den Grundlagen und vorhandenen Fertigkeiten auf, die durch eine vorgehende Diagnostik ermittelt werden sollte. Eine Hilfe wird in der Regel bei der Veranschaulichung ansetzen, was am besten über ein spielerisches Rechentraining geschieht, bei dem die Kinder immer wieder über das Abzählen von Mengen und die Mengenverknüpfung mit den dazu gehörenden Zahlen ihre Vorstellungsschwäche überwinden können.

    Notwendig ist dabei auch eine positive Motivation, um mehr Selbstvertrauen im Rechnen und Spaß und Freude bei den Hausaufgaben  aufzubauen. Eltern können ihre Kindern dadurch früh unterstützen, eine Zahlenvorstellung aufzubauen, indem sie ein Kind alles abzählen lassen, angefangen von den Stufen in einem Stiegenhaus, den Kastanien im Park, den Nudeln vor dem Kochen oder Steine und Muscheln am Strand, wobei der Phantasie hier keine Grenzen gesetzt sind.


    Wo im Gehirn gerechnet wird

    Aus Experimenten mit Affen wusste man bereits, dass es bestimmte Areale für arithmetische Operationen gibt. Kutter et al. (2022) untersuchten nun bei Epilepsiepatienten und -patientinnen mit implantierten Elektroden jene Hirnmechanismen, die an einfachen arithmetischen Operationen beteiligt sind, indem sie die Aktivität einzelner Neuronen im medialen Temporallappen aufzeichneten, die Additionen und Subtraktionen durchführen. Sie fanden dabei abstrakte und notationsunabhängige Codes für Addition und Subtraktion in neuronalen Populationen, wobei die neuronalen Codes der Arithmetik in verschiedenen Hirnarealen sich drastisch voneinander unterschieden. Dabei war es nicht so, dass manche Nervenzellen nur auf ein Plus-Zeichen reagierten und andere nur auf ein Minus-Zeichen, sondern auch wenn man die mathematischen Symbole durch Wörter ersetzte, blieb der Effekt derselbe. Wenn die Versuchspersonenetwa die Aufgabe 5 und 3 rechnen mussten, sprangen bei ihnen wieder die Additions-Neuronen an, bei 7 weniger 4 hingegen die Subtraktions-Nervenzellen. Das beweist, dass die gefundenen Zellen tatsächlich eine mathematische Handlungsanweisung kodieren. An der Hirnaktivität ließ sich so mit großer Genauigkeit ablesen, welche Art von Aufgaben die Probandinnen und Probanden gerade berechneten.

    Manche Experten und Expertinnen halten Dyskalkulie für gravierender als eine Lese- oder Rechtschreibschwäche, denn Mathematik und Zahlen sind allgegenwärtig: Ob es darum geht, einen Fahrplan zu verstehen, beim Einkaufen zu bezahlen oder die Uhr zu lesen – immer geht es um Zahlen, Mengen oder zeitliche Abläufe. Wer das nicht versteht, hat Probleme im Alltag, in der Schule und wird immer wieder ausgegrenzt. Der Umgang mit Zahlen und Mengen spielt sich vor allem im Scheitellappen, im Sulcus parietalis ab, d.h. wer an Dyskalkulie leidet, bei dem zeigen bildgebende Verfahren, dass diese Areale weniger aktiv sind, wobei das Scheitelhirn bei einer Rechenaufgabe kaum aktiv ist. Andere Hirnregionen, die eigentlich eher unterstützende Funktionen haben und im vorderen Teil des Gehirns liegen, steuern dagegen zum Beispiel die Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis oder Planungsprozesse. Dyskalkulikerinnen und Dyskalkuliker benötigen für die Lösung einer einfachen Aufgabe viel mehr dieser zusätzlichen Unterstützungsfunktionen als normal rechnende Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Das kostet viel Kraft und Anstrengung, weil Hirnareale, die nicht primär für das Rechnen vorgesehen sind, einspringen müssen, so dass Mathematik für die Betroffenen eine Höchstleistung und damit extrem anstrengend ist.


    Lehrl et al. (2019) haben in einer Studie untersucht, wie sich das Aufwachsen von Kindern in einer Familie, in der sie schon früh zum Lernen angeregt werden, auswirkt. Im Detail wurde untersucht, wie bedeutsam die familiäre Lernumgebung in den frühen Lebensjahren für die Kompetenzentwicklung bis zur Pubertät ist. Dabei zeigte sich, dass Eltern, die ihre Kinder im Vorschulalter dazu anregen, schriftliche, sprachliche und mathematische Fähigkeiten zu entwickeln, etwa durch gemeinsames Würfelspielen oder Bilderbüchern anschauen, in weiterführenden Schulen bessere Lese- und Mathematikfähigkeiten zeigen. Das gilt auch für die Förderung in Kindergärten, denn frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass ErzieherInnen einen positiven Einfluss auf Kinder und deren mathematische und sprachliche Entwicklung haben, wenn diese gemeinsam mit ihnen lesen, alltägliche Situationen sprachlich begleiten oder auch Würfel- und Brettspiele spielen.

    Siehe dazu auch neue Behandlungskonzepte für Rechenschwäche.


    Buchtipp

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Hans Magnus Enzensberger schrieb das Buch „Der Zahlenteufel – Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“, die Geschichte des kleinen Robert, der alles hasst, was mit Mathematik zu tun hat und der dann seine Angst verliert. Robert lernt, dass die Zahlen nicht nur ein Hilfsmittel sind, um sich das Taschengeld einzuteilen, sondern auch Charakter haben. Enzensberger selbst hatte einen Lehrer, der überqualifiziert war, einen Schüler des Physikers und Mathematikers Arnold Sommerfeld, der ihn von der Mathematik überzeugt hatte, weil er sie nicht wie eine Formelsammlung vermittelt hatte, die man abfragen konnte. Nur eine richtige Lösung hinzuschreiben, ohne zu wissen, warum, reichte ihm nicht, sodass sich Enzensberger später auch so sehr ärgerte, dass seine Kinder Mathematik rein mechanisch lernen mussten, also wie man das richtige Ergebnis hat, ohne zu verstehen, warum. Um seiner Tochter die Mathematik zugänglich zu machen, schrieb er später das Zahlen-Buch, das an Aktualität nicht verloren hat und zeigt, dass Zählen und Messen nützlich und gut ist, wenn es als Versuch verstanden wird, das vielfältige Wesen der Realität zu verstehen. Kritik ist nur dort angebracht, wo Zahlen einseitig betrachtet und interpretiert werden, wo Menschen nicht richtig mit ihnen umzugehen wissen. Hans Magnus Enzensberger zählt übrigens zu den renommiertesten Schriftstellern der deutschen Literatur und hat neben seinen vielen Büchern für Erwachsene auch für Kinder und Jugendliche geschrieben.


    Linktipp

    Das Projekt „Mahiko“, kurz für „Mathehilfe kompakt“ nimmt sich der Lernlücken an, die im Fach Mathematik besonders schwerwiegend sein können, denn wer einmal den Anschluss verliert, kommt in Zukunft nicht mehr mit, weil die Grundlagen fehlen. An der TU Dortmund im Rahmen des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik hat man auf der Mahiko-Webseite wissenschaftliche Erkenntnisse speziell für Eltern und andere fachfremde Mathehelferinnen und -helfer aufbereitet und umfangreiches Material entwickelt. Zahlreiche Videos zeigen, wie Eltern – aber auch pädagogisches Personal zum Beispiel aus der Ganztagsbetreuung – Kinder beim Lernen von Mathematik helfen können. Sie erhalten zunächst grundlegende Informationen darüber, wie Kinder lernen und rechnen. Außerdem erfahren sie, welches Material sie einsetzen und wie sie mit Kindern richtig üben können. Aktuell stehen Inhalte für die ersten beiden Schuljahre zur Verfügung, das dritte und vierte Schuljahr folgen in den kommenden Monaten. Kurze Videos erklären die einzelnen Themen und deren Bedeutung für das Mathelernen. Darauf aufbauend werden Übungsideen und -materialien oder geeignete Spiele angeboten. Ergänzt wird das Angebot durch Mahiko-Kids-Lernvideos, die sich speziell an Kinder richten und ihnen Inhalte und Übungen anschaulich erklären.

    Link: https://mahiko.dzlm.de/

    Literatur

    Helmberger, Regina (2007). Förderung lernschwacher Schüler am Beispiel der Dyskalkulie. o.O.
    Kutter, Esther F., Bostroem, Jan, Elger, Christian E., Nieder, Andreas & Mormann, Florian (2022). Neuronal codes for arithmetic rule processing in the human brain. Current Biology, doi:10.1016/j.cub.2022.01.054.
    Lehrl, Simone, Ebert, Susanne, Blaurock, Sabine, Rossbach, Hans-Günther, Weinert, Sabine (2019). Long-term and domain-specific relations between the early years home learning environment and students’ academic outcomes in secondary school.S chool Effectiveness and School Improvement, doi:10.1080/09243453.2019.1618346.
    Lenart, Fredericke (2003). Rechenschwäche Rechenstörung. Graz: Leykam.
    Lorenz, Jens Holger (2003). Lernschwache Rechner fördern. Berlin: Verlag Cornelsen.
    Luger-Linke, Silvia (2005). Rechenschwäche vom Mathefrust zur Mathelust. Putzleinsdorf: Verlag Eigenverlag.
    Qin, Shaozheng, Cho, Soohyun, Chen, Tianwen, Rosenberg-Lee, Miriam, Geary, David C. & Menon, Vinod (2014). Hippocampal-neocortical functional reorganization underlies children’s cognitive development. Nature Neuroscience, doi.org/10.1038/nn.3788.
    Schmassmann, Margaret (1993). Leistungsstörungen im Bereich Mathematik: Prävention und Hilfe. Grundschule, 6, 32-34.
    Schipper, Wilherm (2002). Das Dyskalkulie-Syndrom. Die Grundschul Zeitschrift, 158, 48-51.
    Stangl, W. (2022). Wie das Gehirn mathematische Operationen abbildet. Werner Stangls Psychologie News.
    WWW: https:// psychologie-news.stangl.eu/4058/wie-das-gehirn-mathematische-operationen-abbildet (22-02-16)
    http://www.pte-trier.de (14-04-05)
    http://www.lzr-koeln.de (14-04-05)
    https://www.news4teachers.de/2018/04/legasthenie-und-dyskalkulie-an-den-rand-gedraengt-warum-teilleistungsstoerungen-zu-wenig-beachtung-finden/ (18-04-30)


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    2 Gedanken zu „Dyskalkulie“

    1. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL)

      „Zahlen werden oft nur als reines Symbol verstanden, nicht als Mengenangabe. Damit fehlen den Kindern wichtige Grundlagen, um die Lernschritte in der Mathematik zu verinnerlichen.“

    2. Betroffene

      Obwohl das Kind intelligent ist, hat es oft Probleme und Misserfolge in der Schule. Das Kind hat keine Freude am Lernen und ist zunehmend frustriert. Hausaufgaben werden häufig zum absoluten Tabuthema und verursachen, teilweise in der ganzen Familie, Stress und Panik. Bei einer Rechenstörung hält das Kind oft an einer, wenn auch fehlerhaften, Rechenstrategie fest und möchte von dieser nicht abweichen, da sie ein Sicherheitsgefühl vermittelt. In den ersten Jahrgangsstufen funktioniert diese oft noch ganz gut oder es kann viel durch Auswendiglernen kompensiert werden. Spätestens wenn es in die großen Zahlenräume geht, funktionieren die verinnerlichten Strategien nicht mehr. Deshalb ist es hier besonders wichtig, fehlerhafte Rechenstragien so früh wie möglich zu erkennen und richtige zu fördern, da die Umgewöhnung mit zunehmendem Alter immer schwerer wird. Häufig einher geht auch eine Selbstwertproblematik, da das betroffene Kind sich als dumm erlebt und sich mit FreundInnen, Geschwistern oder KlassenkameradInnen vergleicht.

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