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Anorexie, Anorexia nervosa

    Die Anorexia nervosa ist dadurch gekennzeichnet, dass die betroffenen Frauen sich weigern, ein altersentsprechendes Normalgewicht zu halten (Körpergewicht 15 und mehr Prozent unter dem erwarteten Gewicht bzw. ein Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger). Klinisch unterscheidet man zwei Subtypen der Anorexia nervosa, den Binge-Eating/Purging-Typus und den restriktiven Typus. Beim  Binge-Eating/Purging-Typus kommt es nach einer Zeit des Fastens zu plötzlich auftretenden Heißhungeranfällen, wobei in kürzester Zeit riesige Mengen an kalorienreichen und leicht kaubaren Nahrungsmitteln verschlungen. werden Um der Gefahr einer Gewichtszunahme zu begegnen, wird die Nahrung durch selbstinduziertes Erbrechen, oft mit Hilfe hoher Dosen von Abführmitteln wieder ausgeschieden. Beim restriktiven Typus zeigt die Betroffene kein Purging-Verhalten, d. h., es tritt kein selbstinduziertes Erbrechen oder der Missbrauch von Abführmitteln auf, aber es kommt auch zu keinen regelmäßigen Essattacken. Das niedrige Gewicht bzw. die Gewichtsabnahme wird in erster Linie durch exzessive körperliche Betätigung und durch die Einschränkung der Nahrungsaufnahme erreicht.

    Zentrales Leitmotiv ist der Wunsch nach extremer Schlankheit und Selbstbestimmung. Alle Versuche der Umwelt zu helfen werden als unzulässige Einflussnahme abgewehrt. Bekanntlich sind Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl besonders anfällig für Essstörungen sind, wobei bei der Anorexie schon im Frühstadium der Erkrankung Dünnsein unbewusst mit Attraktivität gleichgesetzt wird: Nur wer dünn ist, ist etwas wert. Manchmal besteht auch eine intellektuelle und körperliche Überaktivität, trotz vorhandener körperlicher Einschränkungen. Allerdings hängt die Haltung von Frauen zum eigenen Körper nur bedingt von ihrer eigenen Wahrnehmung ab, vielmehr messen sie sich selber daran, wie das Urteil von Freunden und Bekannten aus ihrem Umfeld ist, d.h., sie schauen zuerst, ob andere ihren Körper akzeptieren, um dann zu bestimmen, ob sie ihn selbst auch schätzen. Die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie bei Magersucht ist die Einsicht der Betroffenen und der Wille, gesund werden zu wollen. Hierzu bedarf es nicht nur einer Ernährungsumstellung, sondern auch begleitender psychotherapeutischer Maßnahmen.

    Längsschnittstudien haben eine Reihe von Risikofaktoren gezeigt, wie ein ungünstiges Essverhalten bei zehnjährigen Kindern, die sich Sorgen um ihre Figur machen und deshalb anfangen, Diäten zu halten. Sie steigen damit ganz früh in einen Teufelskreis ein, ihren Körper in einen Mangelzustand zu bringen, was gerade in dieser sensiblen Wachstumsphase gravierende Folgen hat, die nur schwer oder gar nicht rückgängig zu machen sind, wenn sich etwa die Knochen nicht richtig aufbauen können. Bei jungen Frauen und Mädchen wurden fünf Jahre, nachdem sie von ihrer Anorexie geheilt waren, eine mangelhafte Knochendichte gemessen, wobei sie in den Wechseljahren eine erheblich stärkere Osteoporose entwickeln. Kalium- und Calciummangel bringen den Elektrolythaushalt ins Ungleichgewicht, was zu Organschäden wie Herz-Rhythmus-Störungen bis hin zum Herzstillstand führen kann. Auch die sekundären Geschlechtsmerkmale können sich nicht richtig ausbilden.

    Ein Kennzeichen der Anorexie ist, dass die kognitive Flexibilität der Betroffenen so eingeschränkt wird, dass sie umso schwerer an ihrem Verhalten leiden, je mehr Verhaltensänderungen von ihnen gefordert sind, d. h., die Betroffenen halten starr an ihren gewohnten Verhaltensweisen fest und können sich nicht so gut auf neue Situationen einstellen. Studien haben gezeigt, dass eine Quelle für den Verlust an Flexibilität im autonomen Nervensystem liegen könnte. Man untersuchte Magersüchtige und Gesunde zwischen 17 und 33 Jahren, wobei die Probanden und Probandinnen in einem Reaktionstest am Computer zwar alle ähnliche Reaktionszeiten zeigten, doch bei den Magersüchtigen änderte sich dabei die Hautleitfähigkeit nicht, wenn sie einmal einen Fehler machten. Das weist darauf hin, dass ihr autonomes Nervensystem nicht adäquat reagiert, d. h., während ein gesunder Mensch erschrickt, wenn er einen Fehler macht und sein Nervensystem hochgefahren wird, um es beim nächsten Mal besser zu machen, geschieht das bei Magersüchtigen nicht.

    Psychische und soziokulturelle Faktoren haben unbestritten erheblichen Anteil an der Entstehung von Essstörungen, wobei das genaue Zusammenwirken der Faktoren und was dabei im Einzelnen vor sich geht, noch relativ ungeklärt ist. So stammen Magersüchtige häufig aus Elternhäusern, in denen Heranwachsende mit übersteigerten Leistungsanforderungen konfrontiert werden, wobei die Kinder und Jugendlichen sich von ihren überfürsorglichen Eltern ständig überwacht und kontrolliert fühlen, sodass Magersucht eine Art Protest darstellt. Es wird auch interpretiert, dass Magersüchtige krampfhaft versuchen, sich ihren kindlichen Körper zu bewahren, um verleugnete sexuelle Wünsche abzuwehren (vgl. Stangl, 2011).

    Im Zusammenhang mit frühen Erfahrungen bricht das Körperschema bei Anorexia nervosa zusammen oder ist noch nie richtig ausgeprägt gewesen, d. h., die Betroffenen erleben einen Körper, der mit der Realität nichts zu tun hat. Die Fehlkodierung des Körperschemas aus der frühen Kindheit kann daher durch eine Psychotherapie kaum kompensiert, die neurobiologische Substanz der Erkrankung nicht beeinflusst werden. Bei der Magersucht ist die Wahrnehmung des eigenen Körperbilds bzw. das Körperbewusstsein gestört, denn Betroffene halten sich für zu dick, obwohl sie in krankhaftem Ausmaß bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht abnehmen. Kogel et al. (2021) haben untersucht, inwiefern störungsspezifisch belohnende Reize auf Bildern eine Bedeutung für diese Essstörung haben, d. h., es geht um die Frage, welche visuellen Stimuli möglicherweise für die Motivation sorgen, immer mehr abzunehmen. Die Bedeutung des Belohnungssystems für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexia nervosa wurde bereits in mehreren Studien mit funktioneller Bildgebung untersucht. So wurde bisher oft von der Annahme ausgegangen, dass vor allem die Betrachtung von Bildern mit untergewichtigen Körpern einen bedeutenden Impuls liefert. Nun wurden in der aktuellen Studie weitere Stimuli ermittelt, die spezifisch für Betroffene mit Anorexie als belohnend analysiert worden waren. Man identifizierte sechs Unterkategorien: Gesundes Essen, Anerkennung durch andere, Disziplin, dünne Körper, Gewichtsverlust und Sport. In der Studie wurde diesen Kategorien entsprechendes Bildmaterial zugeordnet, wobei von Anorexie Betroffene sowie Gesunde diese Bilder ebenso wie neutrale Bilder (etwa Eimer, Locher, Stuhl) bewerten mussten. Es zeigte sich, dass die von Anorexie Betroffenen die störungsspezifischen Reize höher bewerteten als Gesunde, sodass die Konfrontation mit diesen Reizen (Triggern) somit als bedeutsam für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexie erachtet werden könnte.

    An zehn deutsche Kliniken wurde eine aufwendige Vergleichsstudie zur Therapie von Magersüchtigen durchgeführt, die fast zwei Jahre dauerte und an der 242 magersüchtige Frauen teilnahmen. Während die Kontrollgruppe eine herkömmliche Psychotherapie durchlief, ergänzt durch den Einbezug des Hausarztes oder der Hausärztin, wurden zwei Therapieformen, speziell für Essstörungen weiterentwickelt. Die eine war eine kognitiven Verhaltenstherapie, bei der die Betroffenen Informationen über die Folgen ihres Untergewichts bekommen und Techniken erlernen, mit denen sie ihre Magersucht überwinden oder wenigstens lindern können. Die zweite Behandlung war eine fokale psychodynamische Psychotherapie, die sich aus der Psychoanalyse heraus entwickelt hat und auf die Ursachen der Magersucht fokussiert, etwa auf die persönlichen Konflikte in der Familie und in den Beziehungen. Alle drei Therapieformen hatten eine positive Wirkung, dass die Magersüchtigen in dieser Zeit an Gewicht zunahmen. Die Magersüchtigen mit der tiefenpsychologischen Psychotherapie, die sich mit den Ursachen ihrer Krankheit befassten, nahmen auch im Jahr nach Ende der Therapie konstant zu, deutlich mehr als die Kontrollgruppe. Im Vergleich dazu führte die kognitive Verhaltenstherapie zwar zu einer raschen Gewichtszunahme, die sich aber nach Ende der Therapie abflachte. Auch brach knapp ein Viertel der Frauen die tiefenpsychologische Therapie ab, während es bei der Kontrollgruppe 41 Prozent waren. Offensichtlich wirkt sich die enge Zusammenarbeit nicht nur mit den Erkrankten, sondern auch mit ihren Hausärzten und Familien auf die Behandlung aus.

    Siehe dazu Frühe Behandlung bei Anorexie nervsa entscheidend.

    Die atypische Anorexie

    bezeichnet eine Form der Anorexie, bei der alle Symptome und diagnostischen Kriterien einer Anorexia nervosa vorhanden sind, bis eben auf das Körpergewicht, d. h., dass Betroffene nicht untergewichtig sind, sodass diese Essstörung von außen nicht erkenbar ist. Oftmals leiden Jugendliche mit starkem Übergewicht an dieser Essstörung, wobei sie durch restriktive Diäten oder extremes Training einen starken Gewichtsverlust erzielen, der den Körper in einen Stresszustand versetzt. Obwohl sie kein Untergewicht aufweisen, leiden sie jedoch häufig an einer Mangelernährung, die etwa zu Wachstumsverzögerungen, Probleme mit der Knochendichte oder sogar zu Unfruchtbarkeit führt. In der Pubertät, werden die Probleme besonders deutlich, denn dann kann es zur Unterbrechung der Wachstumsphase oder zu irreversiblen Knochenschäden kommen. Bei Mädchen bleibt durch die Mangelernährung häufig die Menstruation aus.

    Neuere Formen der Magersucht

    Thigh Gap oder Oberschenkel-Lücke bezeichnet den bei geschlossenen Beinen auftretende Freiraum zwischen den Oberschenkeln, der meist nur bei sehr schlanken Frauen vorkommen kann, denn bei einer normalgewichtigen Frau berühren sich die Oberschenkel in der Regel bereits oberhalb des Knies. Bei der Bikini Bridge darf das Bikinihöschen nicht den Bauch berühren, sondern soll zwischen den beiden hervorstechenden Beckenknochen eine Stoff-Brücke bilden.

    Männliche Essstörungen

    Dass Männer an einer Essstörung erkranken, ist zwar selten, aber vermutlich sind 10 bis 15 Prozent der Betroffene männlich, wobei sich Männer und Frauen vor allem im Alter der Erkrankung unterscheiden. Der Großteil der Männer erkrankt zwischen dem 18. und 26. Lebensjahr, während Frauen deutlich früher gefährdet sind. Das liegt daran, dass der pubertäre Wachstumsschub von Mädchen früher beginnt und deutlich schneller ist als bei Knaben. Bei den männlichen Patienten steht in der Regel weniger die Angst vor Fett und Kalorien im Vordergrund, sondern der Aufbau von Muskeln und der Wunsch nach einem männlichen Körper.


    Einige Definitionen

    1. Definition
    Anorexie (Magersucht) ist eine Essstörung, bei der die Betroffenen sich selbst wie unter Zwang aushungern. Dabei entwickeln sie eine intensive Angst davor, korpulent zu werden, obwohl sie untergewichtig sind. Anorexia nervosa tritt üblicherweise bei jungen Frauen auf, während sie krank sind bestreiten sie oft überhaupt Probleme zu haben. Auswirkungen dieser „Gewichtsphobie“ sind das Ausbleiben der Menstruation, Störungen des Magens und der Verdauungsorgane, Herzrhythmusstörungen und niedriger Blutdruck und Pulsschlag (vgl. Zimbardo 1995, S. 613).

    2. Definition
    „Anorexia nervosa: Nahrungsverweigerung; oft in Verbindung mit Erbrechen, Obstipation (Stuhlverstopfung) und Völlegefühl. Manchmal wird im Geheimen gegessen. In der Form der Pubertätsmagersucht tritt sie vor allem bei Mädchen in der Pubertät auf und wird u.a. mit der bewussten Ablehnung der körperlichen Reifung in Verbindung gebracht“ (Brunner & Zeltner 1980, S. 17).

    3. Definition
    Anorexie ist eine Essstörung, und zwar die psychisch – krankhafte, suchtähnliche Verweigerungshaltung gegenüber Nahrungsaufnahme. Diese Krankheit tritt vorwiegend bei Mädchen in der Pubertät und bei jungen Frauen auf. Die extreme Nahrungsverweigerung steht oft symbolisch für vielfältige Formen von Verweigerung und Rückzug, zB Furcht vor dem Erwachsenwerden, uvm (vgl. Dieterich & Rietz 1996, S. 32).

    4. Definition
    Anorexie, auch Magersucht genannt, wurde von Sir William Gull erstmals erkannt. Er stellte fest, dass junge Frauen sich häufig weigerten zu essen und erfasste mit großer Genauigkeit diese heute häufige Krankheit. Susie Orbach entwickelte später eine Theorie, nach der Anorexie eine Reaktion bei Mädchen auf deren Rolle als Sexobjekt in der patriarchalischen Gesellschaft sei (vgl. Cohen 1995, S. 29).

    5. Definition
    Anorexie oder auch Anorexia nervosa ist die medizinische Diagnose für organisch nicht begründbare, also „nervöse“ Abmagerung. Zum überwiegenden Teil sind Mädchen in der Adoleszenz betroffen. Anorexie ist eine typische Wohlstandskrankheit, die in Entwicklungsländern kaum auftritt. Die Ursachen sind komplex (vgl. Schmidbauer 1993, S. 23).

    6. Definition

    Bei der Anorexia nervosa (Anorexie) = Magersucht handelt es sich um eine Essstörung in deren Vordergrund der Gewichtsverlust steht. Diesem Ziel wird von den Betroffenen häufig mit einer solchen Konsequenz verfolgt, dass es sogar zu lebensbedrohlichen Zuständen kommen kann. Die Diagnose wird u.a. dadurch gesichert, dass das Körpergewicht des Betroffenen mindesten 15% unter dem einer „normalen“ Vergleichsperson liegt, und dass es zu einer spürbaren Veränderung des Hormonhaushaltes kommt.

    7. Definition

    Die Magersucht (Anorexie) kommt sehr häufig bei jungen Mädchen in der Pubertät vor und tritt fast immer mit Begleiterscheinungen wie Verstopfung und Menstruationsstörungen auf. Die betroffenen Personen empfinden ihre private und berufliche Situation sehr häufig als ausweglos. Die Nicht-Beachtung dieser Essstörung kann zu schweren körperlichen Schädigungen führen (vgl. Michel & Novak, 1991 S. 97).

    8. Definition

    Die Hauptform der Anorexie (Magersucht) ist die Anorexia nervosa, auch Pubertätsmagersucht genannt. Diese Essstörung ist gekennzeichnet durch eine Ablehnung der Nahrungszufuhr oder auch durch absichtliches Erbrechen. Sehr häufig ist diese Erkrankung bei intelligenten, ehrgeizigen, jungen Frauen vorzufinden und wird oftmals als Reifungskrise bezeichnet. Die Betroffenen wollen meist kindliche Körperformen bewahren und nehmen sehr häufig einen lebensgefährlichen Gewichtsverlust in Kauf (vgl. ohne Autor, 1996, S. 29).

    9. Definition

    Unter Anorexie (Magersucht) versteht man Betroffene, die die Nahrungsaufnahme verweigern und mit Gewalt versuchen ihr Körpergewicht zu verringern. Diese Essstörung tritt meist bei jungen Menschen am Beginn der Pubertät auf. Bei einem Teil der Erkrankten verschwindet diese Störung ohne jegliche Behandlung wieder. Bei einem weiteren Teil der Betroffenen kann eine Psychotherapie helfen. Ungefähr ein Drittel dieser Menschen bleibt magersüchtig und einige Menschen sterben auch in Folge dieser Essstörung (vgl. ohne Autor, 1995, S. 108).


    Weibliches Hungern als historisches Phänomen

    Exzessives Fasten z.T. mit Todesfolge als Technik zur Produktion einer bestimmten weiblichen Identität und Subjektivität hat eine lange Geschichte, ohne dass es immer als Anorexia nervosa bzw. überhaupt als Krankheit oder als Problem gesehen wurde. Das Problem entstand eigentlich erst, als sich die Praxis des Hungerns aus den Klöstern in die Privathaushalte verlagerte und damit Frauen und Mädchen jenseits kirchlicher Institutionen die Heiligwerdung für sich beanspruchten, was der damaligen Definition der Frau als genuin sündhaft entgegensprach und somit auch die Rolle der Kirche in Frage stellte. Im christlichen Mittelalter war das Hungern oft weiblich, denn die fastende Heilige folgte im Kontrast zur heutigen Anorektikerin noch keiner medial verbreiteten Anrufung oder medizinisch-wissenschaftlichen Handlungsanweisung innerhalb einer Körperformungsethik, denn ihre körperliche Identität war noch nicht in eine Kultur der Selbstproduktion vermittels des Körpers eingebettet.

    Man kann dieses Hungern von Frauen auch als Zuspitzung der allgemeinen Dämonisierung der Leiblichkeit betrachten, doch wurde dieses nicht als Krankheit problematisiert, sondern es gab entsprechend der mittelalterlich-christlichen Moral zumindest eine Akzeptanz, dieser Form von Selbstkasteiung als religiöse Praktik zu begreifen. Das Entsagen leiblicher Bedürfnisse und Genüsse galt als ein Weg sich Gott zu nähern, der Verzicht auf Nahrung war einer der wenigen Möglichkeiten auch für Frauen, als Heilige anerkannt und ein eigenständiges Subjekt unabhängig von realen männlichen Autoritäten zu werden. Damit wird hier eine körperliche Praxis zur Erschaffung einer eigenen Subjektivität als Ausbruch aus normalen weiblichen Rollenvorstellungen genutzt. Die mittelalterliche Fastende entledigt sich dem an und für sich als sündhaft definierten weiblichen Körper, um ihre Seele überhaupt als rein definieren zu können. Die Fähigkeit auf Nahrung zu verzichten, stellte zur damaligen Zeit also keine Pathologie, sondern eine von Gott gegebene Tugend dar. Auch stand der Betrachtung dieses Phänomens nicht der Körper der fastenden Heiligen im Mittelpunkt, sondern die Eigenschaften der Seele. Später verlagerte sich der typische Ort der heiligen Fastenden im Rahmen der Reformation von den Klöstern in die Privathaushalte zumeist ärmlicher Herkunft, wobei hier der Kampf um die religiöse Macht auch am Körper der fastenden Mädchen und Frauen, die ja keine Nonnen waren, ausgetragen wurde, da diese damals nicht zuletzt Gefahr liefen, als vom Teufel besessen oder als Lügnerinnen gebrandmarkt und bestraft zu werden, um ihnen ihre heilige Identität abzusprechen. Die totale Enthaltsamkeit ist hier auch ein Zeichen vollkommener Untergebenheit unter Gottes Gesetz im Rahmen der Konstruktion des moralischen Subjektes durch die Praxis der Selbstverleugnung unter dem Paradigma der Reinheit, das sich auch in der Idealisierung der Jungfräulichkeit verdeutlicht. Daher wird auch die vollkommene Verweigerung kulinarischer Gelüste nicht mehr nur im Rahmen eines Paradigmas der Ausgeglichenheit problematisiert, sondern als Problem von Wahrheit und Lüge.

    Im Rahmen allgemeiner Säkulariserungsprozesse im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts gerieten die fastenden Mädchen und Frauen und die Frage nach ihrer Wahrhaftigkeit zunehmend vom geistlichen in den Fokus des medizinischen Blickes. Die weibliche Nahrungsverweigerung wurde nun ein Feld, in dem der Wandel der gesellschaftlichen Macht- und Legitimationszusammenhänge zwischen Kirche und Wissenschaft ausgefochten wurden. Diese Tendenz in der Frage, wer nun der Fachmann für die fastenden Frauen war, markiert den Anfang eines langen historischen Prozesses der Medikalisierung menschlichen Verhaltens. Die Ursachen für die Appetitlosigkeit wurden von der medizinischen Disziplin in den Organen des Körpers gesucht, und ließ sich dort nichts Entsprechendes finden, wurden die Mädchen und Frauen auch von dieser Seite der Lüge bezichtigt. Die Problematisierung des Phänomens lag also weiterhin in einer Frage nach Wahrheit, und zwar danach, ob die Mädchen und Frauen ihren Körper tatsächlich so asketisch führten, wie sie vorgaben. Doch nun ging es dabei nicht darum, ob sie entsprechend heilig zu sprechen seien oder nicht, sondern ob ihre Aussagen und ihr Verhalten den neuen Begriffen der Rationalität und Vernunft entsprachen. Die Medizin argumentierte mit der biologischen Unmöglichkeit ohne Nahrung zu überleben, und reproduzierten in ihrem Bild der aufmerksamkeitserheischenden fastenden Lügnerin misogyne Stereotype einer manipulativen und unehrlichen Weiblichkeit. Im Unterschied zu heutigen Problematisierungen von Anorexia nervosa aber, wurden die fastenden Mädchen damals nicht als Massenphänomen und Bedrohung einer ganzen Generation gesehen. Dennoch geschah mit der Konfiszierung der fastenden Mädchen durch den ärztlichen Blick in der sich gerade entwickelnden Psychiatrie eine Transformation, die einen klaren Schritt in die Richtung der heutigen Problematisierungsweise Essstörungen/Anorexia nervosa bedeutete. Die hegemoniale Deutung des freiwilligen Hungerns verschiebt sich von der religiösen Selbstaufgabe zur Geisteskrankheit, die Anorexia nervosa wird Symptom und Schwester der Hysterie. Für ihre Entstehung wird, wie bei der Hysterie auch, ein für junge Mädchen unangebrachter Lebensstil gekennzeichnet, etwa durch zu viel verwirrende Lektüre oder durch eine allgemeine mentale Vulnerabilität des weiblichen Wesens. Zusammengefasst nach Schmechel (2014).


    Siehe auch Bulimia nervosa, Bulimie, Binge Eating, psychogene Hyperphagie, Magersucht, Essstörung

    Literatur

    Brunner, R. & Zeltner, W. (1980). Lexikon zur Psychologie und Schulpädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag.
    Cohen, D. (1995). Lexikon der Psychologie. München: Wilhelm Heyne Verlag.
    Dieterich, R. & Rietz, I. (1996). Psychologisches Grundwissen für Schule und Beruf. Ein Wörterbuch. Donauwörth: Auer Verlag.
    Michel, C. & Novak, F. (1991). Kleines Psychologisches Wörterbuch. Freiburg: Herder.
    Kogel, A.-K., Herpertz, S., Steins-Loeber, S. & Diers, M. (2021). Disorder specific rewarding stimuli in anorexia nervosa. International Journal of Eating Disorders, doi:10.1002/eat.23526.
    Ohne Autor, (1995). In Lexikon-Institut Bertelsmann (Hrsg.), Lexikon der Psychologie (S. 108). Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag.
    Ohne Autor, (1996). In Meyers Lexikonredaktion (Hrsg.), Schüler Duden. Die Psychologie (S. 29). Mannheim: Dudenverlag.
    Interview in der Badischen Zeitung vom Montag, 16. April 2012 mit Brunna Tuschen-Caffier und Jennifer Svaldi (Institut für Psychologie der Freiburger Universität).
    Schmechel, C. (2014). Von Sorgen, Sünden und Süchten. Eine genealogische Betrachtung der Problematisierung diätischer Körperpraxen und ihrer Vergeschlechtlichung. Masterarbeit. Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät. Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Humboldt-Universität zu Berlin.
    Schmidbauer, W. (1993). Lexikon der Grundbegriffe. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
    Stangl, W. (2011). Magersucht – Anorexia Nervosa.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/SUCHT/Anorexie.shtml (11-08-21)
    Zimbardo, P.G. (1995). Psychologie. Berlin Heidelberg: Springer Verlag.


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