Zum Inhalt springen

Suizidalität

    Annähernd zwei Drittel aller Suizide werden von Männern begangen, Suizidversuche werden hingegen zu zwei Dritteln von Frauen begangen. Suizidversuche sind in der Regel einen Schrei nach Hilfe, so dass man davon ausgehen kann, dass Frauen eher als Männer auch in zugespitzten Situationen in der Lage sind, um Hilfe zu rufen. Männer scheinen demgegenüber ihrer klassischen Rolle zu erliegen und seltener Hilfe in Anspruch nehmen. Sie kommen auch deutlich seltener in Beratungseinrichtungen und greifen eher zu Mitteln, die Helfern weniger Chancen lassen. Der Männerbericht 2013 der Stiftung Männergesundheit zeigte, dass die Suizidrate bei Männern um ein Vielfaches höher ist als bei Frauen (2011: 7 646 Männer und 2 498 Frauen). Männer haben eine andere Art, psychisches Leiden auszudrücken als Frauen, etwa durch Alkoholmissbrauch, erhöhte Aggressivität, exzessiven Sport. Männer suchen auch seltener Hilfe, denn nach wie vor sind psychische Erkrankungen unter Männern ein Stigma. Männer haben bekanntlich auch mehr Vorurteile gegenüber Menschen mit seelischen Schwächen, wobei Depressionen in Männerkreisen immer noch häufig als Ausdruck persönlichen Versagens gelten.

    Zwei Drittel aller Jugendlichen kennen Suizidgedanken, wobei Suizidgedanken Teil einer gesunden Entwicklung in der Adoleszenzphase sein können. In dieser Lebensphase stellt sich die Frage: „Warum soll ich die Kindheit verlassen? Warum soll ich erwachsen werden? Warum lebe ich?“ Suizidgedanken haben manchmal eine lebensstabilisierende Funktion, wenn sie in eine Stärkung des eigenen Selbst münden. Wenn diese Phantasie ins Leere geht, wenn sich bei einem Kind oder Jugendlichen nicht das Gefühl einstellt, dann werden meine Eltern um mich traurig sein, dann werden meine Eltern alle Ungerechtigkeiten, die sie mir angetan haben, spüren und bereuen, können sich die zunächst noch unklaren Gedanken verdichten, um in der Praxis die Reaktion der Eltern zu überprüfen, ob sie über den Tod des Kindes wirklich traurig sind. Es kommt zunächst häufig zu Auffälligkeiten, wie viel zu spät sie von der Schule zurückzukommen, um die Reaktion der Eltern oder anderer Beziehungspersonen zu überprüfen. Warten sie wirklich auf mich oder sind sie froh, wenn ich weg bin? Wenn auch hier die Antwort nicht zu finden ist, verdichten sich die Gedanken schließlich in ein „liebt ihr mich, so rettet mich – ansonsten will ich lieber sterben“.

    Die Weltgesundheitsorganisation bittet in ihrem in Genf veröffentlichten ersten „Welt-Suizid-Report“ darum, verantwortlich mit den von ihnen erhobenen Daten umzugehen, denn der Organisation zufolge nehmen sich jedes Jahr mehr als achthunderttausend Menschen weltweit das Leben, wobei zusätzlich mehrere Millionen Menschen pro Jahr zumindest einen Suizidversuch unternehmen. Obwohl die Selbsttötung ein globales Phänomen darstellt, unterscheidet sich doch die Rate derer, die sich das Leben nehmen oder zu nehmen versuchen, im internationalen Vergleich stark, je nachdem, in welche Region der Erde man lebt, denn es ereignen sich drei von vier registrierten Selbsttötungen in ärmeren Staaten. Für das Jahr 2012 konnte die WHO eine Reihe von Ländern ermitteln, deren Suizidrate dramatisch hoch ist, d. h., sie liegt bei mehr als zwanzig Fällen pro einhunderttausend Einwohnern. Burundi, Guyana, Kasachstan, Litauen, Mosambik, Nepal und Nordkorea gehören dazu wie Südkorea, Sri Lanka, Surinam und Tansania. In Deutschland entschließen sich neun von hunderttausend Menschen, sich selbst das Leben zu nehmen. Auffällig ist, dass in einkommensstarken Ländern wie Deutschland etwa dreimal so viele Männer Suizid begehen wie Frauen, während in eher einkommensschwachen Ländern die Diskrepanz zwischen Männern und Frauen geringer ist, denn dort kommen auf ein Frau, die sich das Leben nimmt, statistisch gesehen nur anderthalb Männer. Der Suizid ist nach WHO-Angaben in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen die zweithäufigste Todesursache überhaupt. Weltweit gesehen sind die Hälfte aller durch Gewalteinwirkung verursachten Tode bei Männern Suizide. Bei den Frauen sind es sogar 71 Prozent. Auffällig ist auch die ermittelte Altersstruktur: Die höchsten Suizidraten gibt es – für fast alle Regionen der Welt – bei Männern und Frauen über 70 Jahren. Es ist zu beachten, dass ein bereits gescheiterter Suizidversuch der größte Risikofaktor für einen weiteren Versuch darstellt, denn auch auf Grund der gesellschaftlichen Stigmatisierung nach einem Fehlschlag unternehmen die Betroffenen häufig einen weiteren Versuch. Ursachen für für einen Suizid sind häufig schwere mentale Probleme wie Depressionen, aber auch übermäßiger Alkoholkonsum führt zu psychischen Problemen. In etwa 25 Prozent bis 50 Prozent aller Suizide spielen Alkoholismus oder Drogenmissbrauch eine Rolle, hinzu kommen Berufs- und Finanzprobleme, aber auch das allgemeine Gefühl der Hoffnungslosigkeit, chronische Schmerzen oder Krankheiten können den Anstoß zu der Entscheidung geben, sich das Leben zu nehmen. Ein vorangegangener Suizid im engsten Familienkreis sowie genetische und biologische Faktoren erhöhen das persönliche Risiko, sowie körperlicher oder sexueller Missbrauch (Jimenez, 2014).

    In westlichen Staaten geht übrigens die Zahl der Suizide stark zurück, denn etwa in Deutschland ist sie seit Anfang der achtziger Jahre ungefähr um die Hälfte gesunken. Jeden Tag nehmen sich dort rund zwanzig Menschen weniger das Leben als noch vor dreißig Jahren. Die Zahl der Suizide sinkt demnach seit Jahrzehnten, während in wirtschaftlich aufstrebenden Staaten wie Indien diese steigt. Allerdings sterben jährlich noch immer mehr Menschen durch Selbsttötung als durch illegale Drogen, Mord, Totschlag und Verkehrsunfälle zusammen.

    Viele Menschen stellen sich die Frage, ob ein Suizid verhindert werden kann bzw. wie kann man einem Menschen helfen, der keinen Sinn mehr im Leben sieht. Dazu ist es nach Ansicht von Arno Drinkmann (Professor für Psychologie an der Katholischen Universität Eichstätt) wichtig, das Thema Suizid aus der der Tabuisierung im öffentlichen Diskurs herauszuholen. Für Laien gibt es eine einfache Regel, nämlich mit den Betroffenen zu reden. „Wenn man bei einem anderen etwas merkt, ist es ratsam, denjenigen direkt anzusprechen, wie etwa: ‚Hast du schon mit dem Gedanken gespielt, dir das Leben zu nehmen?‘ Viele Menschen haben die Befürchtung, dass so eine Frage negative Konsequenzen haben könnte, und man denjenigen, der mit diesen Gedanken spielt, in seinen Phantasien bestärkt. Das ist aber ein Mythos, der widerlegt ist. Im Gegenteil: die meisten Menschen, die Suizid-Gedanken haben, sind froh darüber, angesprochen zu werden.“ Wichtig ist dabei immer, sein Gegenüber ernst zu nehmen und ihn nicht vorschnell zu einer professionellen Stelle wegzuschicken, denn es geht zunächst immer darum, auf der persönlichen Ebene ehrliches Mitgefühl zu zeigen und auch Hoffnung. Bei etwa 60 Prozent der Suizidverstorbenen sind im Vorfeld psychische Erkrankungen bekannt, wobei eine Depression in ihren Auswirkungen mit organischen Krankheiten vergleichbar ist und mit dem Tod enden kann. „Psychische Störungen, insbesondere Depressionen, werden oft als Makel gesehen. Man hat keine ganz neutrale Haltung wie gegenüber körperlichen Erkrankungen. Und das ist falsch. Da muss sich gesellschaftlich etwas tun, das muss aus der Tabuzone geholt werden. Da muss man eigentlich genauso darüber sprechen können wie über Diabetes oder andere körperliche Erkrankungen. Erst dann wird es den Betreffenden leichter fallen, sein Problem gegenüber Freunden und Kollegen zu thematisieren.“

    Siehe auch Suizidalität im Jugendalter und das Phänomen Call of the Void. „Call of the Void“ – im Französischen „l’appel du vide“ – oder „Ruf der Leer “ beschreibt das Phänomen, dass Menschen plötzlich den impulsiven Drang verspüren, gefährliche oder selbstschädigende Handlungen auszuführen, obwohl sie dies eigentlich nicht beabsichtigen. Dieses Erleben kann mit Gedanken wie dem plötzlichen Wunsch, sich selbst zu verletzen oder sich in gefährliche Situationen zu begeben, verbunden sein. Dieses Phänomen tritt am häufigsten auf, wenn sich eine Person an Orten aufhält, an denen sie potenziell gefährliche Handlungen begehen könnte, z. B. an einer Klippe, auf einem hohen Turm, in der Nähe von scharfen Gegenständen oder auf einem Bahnsteig, wenn ein Zug einfährt.


    1. Definition
    „Ein neu entstandener Begriff für die krankhafte Selbstmordgefährdung“ (Dorsch, 1998, S. 593).

    2. Definition
    „Neigung zum Selbstmord“ (Ohne Autor, 1991, S. 2251).

    3. Definition
    Nur dem Mensch gegebene Neigung, unabhängig von der Zeitepoche und dem Gesellschaftstyp, Selbstmord zu begehen (vgl. Grubitzsch & Weber, 1998, S. 618).

    4. Definition
    „prinzipielle Bereitschaft zum Selbstmord“ (Ohne Autor, 1984, S. 139).

    5. Definition
    Neu entstandener Oberbegriff, der sowohl Suizid, als auch den Suizidversuch und die Neigung zum Suizid umfasst. Übernommen wurde der Begriff vom lateinischen sui cidicum = Tötung seiner selbst. Wegen seiner Wertneutralität, im Gegensatz zum negativ behafteten Selbstmord, wird er durchgängig in der Fachliteratur verwendet (vgl. Ryffel, 2006, S. 428).


    Mythen und Vorurteile zum Thema Suizid

    • Wer von Suizid spricht, tut es nicht.“ 80% der Menschen, die einen Suizid begehen, kündigen diesen vorher an, d. h., solche Ankündigungen sind immer ernst zu nehmen!
    • Werden Suizidabsichten angesprochen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung.“ Gespräche sind für Betroffene entlastend, d. h., die Sorge, durch Nachfragen eine Verschlimmerung herbeizuführen, ist unbegründet.
    • Wer sich wirklich das Leben nehmen will, ist nicht aufzuhalten.“ Die meisten Suizide erfolgen im Rahmen von Krisen, d. h., professionelle Krisenbewältigung kann Suizide verhindern.
    • Ein Suizidversuch ist nur Erpressung.“ Jeder Suizidversuch ist ein Hinweis auf die Not der Betroffenen, wobei ebenfalls professionelle Hilfe das familiäre und soziale Umfeld entlastet.
    • Ein Suizid geschieht ohne Vorzeichen.“ Bei fast jedem Suizid ist nachweisbar, dass er sich im Vorfeld abgezeichnet hat, nur gab es niemanden, der diese Zeichen wahrgenommen oder ernst genommen hat.
    • Wer an Suizid denkt, ist verrückt.“ Je nach Alter haben 40-80% aller Menschen schon einmal an Suizid gedacht, d. h., Gedanken über das Leben und den Tod sind normal.

    Literatur

    Dorsch, F. (1976). Psychologisches Wörterbuch. Bern: Verlag Hans-Huber.
    Grubitzsch, S. & Weber, K. (1998). Psychologische Grundbegriffe. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlts Verlag.
    Jimenez, F. (2014). Alle 40 Sekunden bringt sich ein Mensch um. Die Welt vom 25. September 2014.
    Ohne Autor (1991). Suizidalität. In W. Arnold (Hrsg.), Lexikon der Psychologie Band 3. Freiburg: Herder Verlag.
    Ohne Autor (1984). Suizidalität. In G. Wahrig (Hrsg.), Brockhaus Wahrig Deutsches Wörterbuch. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
    Ryffel, C. (1998). Suizidalität. In R. Pausset (Hrsg.), Beltz Handwörterbuch für Erzieherinnen und Erzieher. Weinheim: Beltz Verlag.
    Smoliner, Hans (o.J.). Einführung in die Krisenberatung und Krisenbegleitung Teil II. Lebenskrise – Adoleszenz. Unterlagen für Akademielehrgang für SchülerberaterInnen an Allgemein bildende Höhere Schulen.
    http://www.suizidpraevention-stmk.at/mythen (17-08-02)
    https://www.br.de/nachrichten/kultur/wohin-mit-wut-und-trauer-selbsthilfe-bei-suizid,RPK9z1l (19-05-08)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert