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Bindungstheorie

    Um im Leben Glück und Zufriedenheit zu empfinden, brauchen Menschen Beziehungen, denn soziale Einbindung ist eines der wichtigsten Bedürfnisse von Menschen. Menschen, die gute und tragfähige Beziehungen besitzen, fühlen sich zugehörig und sind dadurch glücklicher als Menschen, die wenig oder gar keine Beziehungen haben. Dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit geht dabei zurück in die Evolution des Menschen, denn Menschen konnten in einer bedrohlichen Umwelt nicht allein überleben, konnten sich nicht allein gegen Feinde wehren und waren nur als Gruppe dazu stark genug. Die Suche nach Gemeinsamkeit, nach Verbundenheit mit anderen steckt tief in den Menschen drin, wobei letztlich soziale Zugehörigkeit überlebenswichtig sein kann. Jeder psychisch gesunde Mensch hat eine Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, wobei allerdings das Ausmaß der Sehnsucht nach der Nähe zu anderen Menschen von Person zu Person individuell ausgeprägt ist.

    Die Bindungstheorie der Psychologie befasst sich mit dieser Neigung des Menschen, enge und von intensiven Gefühlen getragene Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Gegenstand der Bindungsforschung sind also Aufbau und Veränderung enger Beziehungen im Lebenslauf. Bindung lässt sich nach John Bowlby als die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Bezugspersonen (affektives, gefühlsgetragenes Band) bezeichnen. Die heutige Bindungstheorie fußt auf John Bolwby und Mary Ainsworth und entstammt ursprünglich dem ethologischen Denken, wobei sie  traditionell entwicklungspsychologisches und klinisch psychoanalytisches Wissen mit entwicklungsbiologischem Denken verband. John Bowlby untersuchte den spezifischen Zusammenhang von Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie, wobei die psychoanalytischen Theorien Freuds  zugunsten einer ethologischen Erklärung der Mutter-Kind-Bindung aufgegeben werden. Die Bindungsforschung hat sich auch mit misshandelten und vernachlässigten Kindern auseinandergesetzt, wobei als empirisch gut abgesicherten Befunde der Entwicklungspsychologie gilt, dass misshandelte Kinder ein gestörteres, insbesondere aggressiveres Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen zeigen als nicht misshandelte, wobei die Folgen gravierender sind, je früher die Misshandlung beginnt und je länger sie dauert.

    Ausgangspunkt der Bindungsforschung sind daher Fragen, inwieweit Bindung von Mutter und Kind bestimmt wird, inwieweit Bindungsmuster stabil sind, ob diese Muster der Bindung universell gelten bzw. sich dafür eine biologische Grundlage finden lässt, ob etwa Bindungsqualität von der älteren auf die jüngere Generation übertragen wird oder ob andere Erziehungspersonen einen Ausgleich schaffen können.

    Die Bindungstheorie ist ein gut etabliertes Erklärungsmodell in der Psychologie, besonders in der Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse, der kognitiven Psychologie sowie in anderen psychologischen Paradigmen. Sie gilt als wichtige Grundlage der modernen Selbstpsychologie, der modernen Objektbeziehungstheorie, der relationalen und intersubjektiven Psychoanalyse sowie des Konzepts der Mentalisierung. Die Erkenntnisse aus der Bindungstheorie haben sowohl die Verhaltenstherapie als auch die psychoanalytischen Therapien maßgeblich beeinflusst, wobei auf der Grundlage der Bindungstheorie  aber auch eigene Therapieverfahren entwickelt wurden, etwa die Bindungstherapie nach Karl Heinz Brisch, die psychoanalytisches Denken mit der Bindungstheorie verbindet.

    Heute versteht man Bindung eher als ein eigenständiges, primäres menschliches Bedürfnis wie Nahrungsaufnahme und Sexualität. Dieses Bedürfnis bezieht sich auf eine dauerhafte Beziehung zwischen zwei Menschen. Die Theorie wird vor allem in Bezug auf die innerpsychischen Vorgänge hin erweitert und ist auch die Grundlage für unterschiedliche moderne psychoanalytische Ansätze. Mit Hilfe des Mentalisierungskonzepts versucht man bindungstheoretische Erkenntnisse klinisch anzuwenden und Bindungssicherheit effizient herzustellen, z. B. für die Arbeit mit Borderline-Patienten, bei Suizidgefahr und selbstverletzendem Verhalten, für die Arbeit an der Sexualität, für die Arbeit mit Träumen und auch für die Beendigung von Therapien.

    Kritik an der Bindungstheorie

    Die Bindungstheorie wurde n ach Keller (2020) aber auch von Beginn an fundamental kritisiert worden, wobei außer den ursprünglichen Angriffen aus dem eigenen Lager der Royal Society of Medicine es Kritik aus zwei Richtungen gab, und zwar politisch/gesellschaftlich und wissenschaftlich. Aus politisch bzw. gesellschaftlicher Perspektive wurde die Bindungstheorie als Beispiel eines konservativen Programms betrachtet, bei dem unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität konservative Familienpolitik betrieben würde. Heute wird die Bindungstheorie als verantwortlich für das parental burnout betrachtet, das besonders Frauen als Haupterziehungspersonen auch in modernen Familien betrifft. Das parental burnout besteht dabei in der vollständigen Aufgabe der eigenen Bedürfnisse, um den Ansprüchen optimalen elterlichen bzw. mütterlichen Verhaltens, wie es in der Bindungstheorie z.B. mit dem Sensitivitätskonzept vorgegeben ist, zu genügen. Aus wissenschaftlicher Sicht wurde die kulturelle Blindheit der Bindungstheorie bereits in ihren Anfängen von Margret Mead direkt in gemeinsamen Seminaren an John Bowlby gerichtet, von diesem aber ignoriert, wobei in den letzten Jahren die Kritik an der Bindungstheorie und ihren Anwendungen noch intensiver und lauter geworden ist, wobei ethische Implikationen hinzukommen, da die Bindungstheorie immer ein moralisches Urteil über die Qualität elterlichen Verhaltens impliziere.

    Literatur

    Ayline Maier, Caroline Gieling, Luca Heinen-Ludwig, Vlad Stefan, Johannes Schultz, Onur Güntürkün, Benjamin Becker, René Hurlemann and Dirk Scheele: Association of Childhood Maltreatment With Interpersonal Distance and Social Touch Preferences in Adulthood, The American Journal of Psychiatry, DOI: 10.1176/appi.ajp.2019.19020212.
    Bowlby,  J. (1980). Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Stuttgart: Klett-Cotta.
    J. Holmes (2002).  John Bowlby und die Bindungstheorie. München: Reinhardt Verlag.
    Keller, Heidi (2020). Die fundamentalen Irrtümer der Bindungstheorie.
    WWW: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/die-fundamentalen-irrtuemer-der-bindungstheorie/ (20-12-12)


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    Ein Gedanke zu „Bindungstheorie“

    1. Selbstverbundenheit üben

      Es gibt Studien, die zeigen, dass sozialer Kontakt und Verbundenheit mit anderen Menschen wichtige Faktoren für die eigene psychische Gesundheit sind, d.h. nicht nur auf die wohltuende Wirkung von direktem Kontakt zu setzen, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass Menschen auch in schwachen und unsicheren Momenten zusammengehören. Probieren Sie die folgende Übung aus, um diese emotionale Haltung nachempfinden zu können: Wenn Sie mit der U-Bahn fahren, auf einem Fest sind oder demnächst in einer Gruppe von Menschen sitzen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und versuchen Sie, die Menschen, die Sie sehen, nicht zu bewerten, sondern einfach zu beobachten. Schauen Sie sich die Menschen an und versuchen Sie wahrzunehmen, dass jeder dieser Menschen nicht nur Stärken und Schönheit, sondern auch Leid und Schmerz in seinem Gesicht stehen hat. Lassen Sie es auf sich wirken, dass jeder leidet, und versuchen Sie, das Leiden der anderen und auch Ihr eigenes mitfühlend zu betrachten. Beobachten Sie, wie sich dadurch Ihre eigene Haltung verändert. Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie in nächster Zeit unhöflich, verurteilend und hart zu sich selbst sind.

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