Überverantwortung

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In der Psychologie bezeichnet Überverantwortung – Überverantwortlichkeit oder übersteigertes Verantwortungsgefühl – ein stabiles Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster, bei dem Menschen sich für Zustände, Gefühle, Entscheidungen oder Entwicklungen verantwortlich fühlen, die objektiv nur begrenzt oder gar nicht in ihrem Einflussbereich liegen. Betroffene überschätzen systematisch ihre Kontrolle über äußere Ereignisse und das Erleben anderer Menschen und übernehmen Aufgaben, Pflichten oder emotionale Lasten, die eigentlich geteilt oder von anderen getragen werden müssten. Überverantwortung ist dabei weniger eine einzelne Handlung als vielmehr eine grundlegende innere Haltung, die häufig unbewusst wirkt und sozial zunächst positiv bewertet wird.

Charakteristisch für Überverantwortung ist die Annahme, man müsse eingreifen, regulieren oder vorsorgen, um negative Entwicklungen zu verhindern. Dies kann sich beispielsweise darin zeigen, dass Eltern sich für die Stimmung ihrer Kinder dauerhaft zuständig fühlen, Konflikte vorschnell schlichten oder belastende Gefühle wie Wut, Trauer oder Angst nicht zulassen wollen. Auch im beruflichen Kontext tritt Überverantwortung häufig auf, etwa wenn Mitarbeitende sich für den Erfolg eines gesamten Teams verantwortlich fühlen, Aufgaben nicht delegieren können oder glauben, Fehler anderer ausgleichen zu müssen. Im zwischenmenschlichen Bereich äußert sie sich etwa darin, dass jemand meint, für das Wohlbefinden des Partners, die Harmonie in der Familie oder den emotionalen Zustand von Freunden verantwortlich zu sein.

Psychologisch lässt sich Überverantwortung mit verschiedenen Konzepten verbinden. Kognitiv ist sie häufig mit Kontrollüberzeugungen und dysfunktionalen Grundannahmen verknüpft, etwa der Idee, dass eigenes Handeln entscheidend sei, um Leid zu verhindern, oder dass man moralisch verpflichtet sei, stets verfügbar und hilfsbereit zu sein. Lerntheoretisch kann Überverantwortung durch positive soziale Rückmeldungen stabilisiert werden, da überverantwortliches Verhalten oft Anerkennung, Dank oder das Gefühl von Unentbehrlichkeit erzeugt. Tiefenpsychologisch wird sie teilweise als Strategie verstanden, um Angst, Schuldgefühle oder früh erlernte Bindungsunsicherheit zu regulieren, etwa wenn Menschen gelernt haben, früh Verantwortung für andere zu übernehmen.

Kurzfristig kann Überverantwortung als Fürsorge, Engagement oder besondere Empathie erscheinen und sowohl dem sozialen Umfeld als auch dem Selbstbild der betroffenen Person dienen. Langfristig ist sie jedoch mit erheblichen Risiken verbunden. Studien und klinische Beobachtungen zeigen Zusammenhänge mit chronischer Überlastung, Stress, Erschöpfung, Burnout-Symptomen, depressiven Entwicklungen und Angststörungen. Zudem kann Überverantwortung paradoxe soziale Effekte haben, denn wer ständig reguliert, organisiert oder emotional abfedert, nimmt anderen die Möglichkeit, eigene Verantwortung zu übernehmen, Kompetenzen zu entwickeln oder aus Fehlern zu lernen. Dies kann Abhängigkeiten, Widerstand oder verdeckte Konflikte fördern.

Ein zentrales Merkmal von Überverantwortung ist die Vermischung von persönlicher Verantwortung mit der Verantwortung anderer. Psychologisch sinnvoll ist es jedoch, Verantwortung klar zu differenzieren: zwischen dem, was in der eigenen Kontrolle liegt (z. B. eigene Entscheidungen, Grenzen, Reaktionen), und dem, was nicht kontrollierbar ist (z. B. Gefühle, Entscheidungen oder Lebenswege anderer Menschen). Der therapeutische Umgang mit Überverantwortung zielt daher häufig auf Selbstreflexion, die Stärkung von Abgrenzungsfähigkeit und die Entwicklung eines realistischeren Verantwortungsbegriffs. Hilfreich ist es, zwischen Reiz und Reaktion bewusst innezuhalten, automatische Hilfs- oder Kontrollimpulse zu hinterfragen und sich zu erlauben, Verantwortung auch bewusst nicht zu übernehmen.

Überverantwortung ist demnach ein weit verbreitetes, sozial oft anerkanntes, langfristig jedoch belastendes Muster, bei dem Menschen ihre Einflussmöglichkeiten überschätzen und dabei eigene Bedürfnisse, Grenzen und Ressourcen vernachlässigen. Sie ist daher kein Zeichen von Schwäche oder mangelnder Empathie, sondern häufig Ausdruck erlernter Strategien, die in bestimmten Lebensphasen sinnvoll waren, später jedoch angepasst werden müssen, um psychische Gesundheit und tragfähige Beziehungen zu erhalten.

Literatur

Beck, J. S. (2011). Kognitive Verhaltenstherapie: Grundlagen und Praxis (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Bowlby, J. (1988). A secure base: Parent-child attachment and healthy human development. New York, NY: Basic Books.
Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York, NY: Springer.
Roth, G., & Strüber, N. (2015). Wie das Gehirn die Seele macht (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Stöckel, C. (2023). Überverantwortung: Wenn Fürsorge zur Belastung wird. Psychologie Heute, 50(9), 34–37.


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