Das Illusion-of-Explanatory-Depth-Syndrom oder Illusion-of-Explanatory-Depth-Paradigma bezeichnet ein kognitives Phänomen, bei dem Menschen glauben, komplexe Sachverhalte deutlich besser zu verstehen, als es tatsächlich der Fall ist. Der Begriff wurde vor allem durch die Arbeiten von Rozenblit und Keil geprägt, die in Experimenten zeigten, dass Menschen ihr Wissen über alltägliche technische oder natürliche Vorgänge – etwa den Mechanismus eines Reißverschlusses, den Betrieb einer Toilette oder die Funktionsweise eines Helikopters – systematisch überschätzen. Erst wenn sie aufgefordert wurden, diese Prozesse im Detail zu erklären, bemerkten sie die Lücken in ihrem eigenen Verständnis und korrigierten ihre Selbsteinschätzung nach unten.
Das Illusion-of-Explanatory-Depth-Syndrom gilt als eine Variante metakognitiver Fehleinschätzungen und wird häufig mit anderen Formen des „overconfidence bias“ in Verbindung gebracht, unterscheidet sich jedoch insofern, als sie sich spezifisch auf kausale und mechanistische Erklärungen bezieht. Typische Beispiele sind das vermeintliche Verständnis darüber, wie Fahrräder funktionieren: Viele Menschen sind überzeugt, dies exakt erklären zu können, scheitern aber bereits daran, die korrekte Position der Kette oder die Rolle des Rücktritts zu beschreiben. Ein weiteres Beispiel betrifft politische oder gesellschaftliche Themen. Studien zeigen, dass Menschen häufig glauben, komplexe politische Maßnahmen – etwa Gesundheitssystemreformen oder Steuerpolitik – im Kern zu verstehen, doch ihr Vertrauen in die eigene Expertise rapide sinkt, sobald sie eine detaillierte, schrittweise Erklärung formulieren sollen.
Dieses Phänomen wird in der Forschung als funktionales Nebenprodukt des menschlichen Alltagswissens interpretiert: Um handlungsfähig zu bleiben, stützen Sse sich oft auf grobe, oberflächliche mentale Modelle und nehmen dabei an, dass diese tiefer reichen, als sie es tatsächlich tun. Dies kann zwar im Alltag nützlich sein, führt jedoch zu Problemen, wenn fundierte Entscheidungen oder differenzierte Urteile erforderlich sind. Die Untersuchungen zu diesem Syndrom liefern deshalb wichtige Hinweise darauf, wie Menschen Wissen verarbeiten, wie oberflächliche Vertrautheit als tiefes Verständnis fehlinterpretiert wird und welche Rolle präzise Erklärungsanforderungen für Lernprozesse spielen.
Literatur
Fernbach, P. M., Rogers, T., Fox, C. R., & Sloman, S. A. (2013). Political extremism is supported by an illusion of understanding. Psychological Science, 24(6), 939–946.
Rozenblit, L., & Keil, F. C. (2002). The misunderstood limits of folk science: An illusion of explanatory depth. Cognitive Science, 26(5), 521–562.