Deep Canvassing – eigentlich intensive (Wahl)Werbung – ist ein aus der Sozial- und Politischen Psychologie stammender Ansatz der zwischenmenschlichen Kommunikation, bei dem es um intensive, empathische und dialogorientierte Gespräche geht, die gezielt darauf abzielen, Einstellungen und Überzeugungen von Personen zu verändern oder zumindest langfristig zu beeinflussen. Anders als traditionelle Formen des Canvassing, bei denen kurze Tür-zu-Tür-Gespräche geführt werden, fokussiert sich Deep Canvassing auf längere, meist 10- bis 20-minütige Interaktionen, in denen ein echter Beziehungsaufbau zwischen den Gesprächspartnern stattfindet. Der Ansatz wurde zunächst im Kontext von Bürgerrechtsbewegungen und später vor allem in Kampagnen zur Unterstützung von Rechten für LGBTQ+-Personen in den USA bekannt (Broockman & Kalla, 2016). Die Grundidee besteht darin, dass Menschen ihre Einstellungen eher überdenken, wenn sie in einem offenen, respektvollen Gespräch auf Augenhöhe über persönliche Erfahrungen, Emotionen und Werte nachdenken können, anstatt durch argumentative Konfrontation oder einseitige Informationsvermittlung.
Zentrale Mechanismen des Deep Canvassing sind aktives Zuhören, Validierung von Emotionen sowie die Einladung, eigene Erfahrungen in Beziehung zu einem gesellschaftlichen Thema zu setzen. Dabei wird gezielt versucht, kognitive Abwehrmechanismen zu reduzieren, die häufig entstehen, wenn Menschen das Gefühl haben, belehrt oder belehrt zu werden. Studien zeigen, dass diese Art von Gesprächen nachhaltige Effekte auf Einstellungen haben kann. So konnten Broockman und Kalla (2016) nachweisen, dass zehnminütige Deep-Canvassing-Gespräche zur Unterstützung gleichgeschlechtlicher Ehe signifikante und über Wochen bis Monate stabile Einstellungsänderungen bewirken können. Diese Veränderungen waren nicht nur kurzfristige Effekte, sondern zeigten auch eine gewisse Resistenz gegenüber späterer Gegenpropaganda. Eine weitere Studie der gleichen Autoren (Kalla & Broockman, 2020) belegt, dass Deep Canvassing auch in Bezug auf Vorurteile gegenüber Transgender-Personen wirksam sein kann, wobei der Mechanismus vor allem über die Förderung von Perspektivübernahme und affektiver Empathie erklärt wird.
Im Gegensatz zu rein argumentativen Strategien wird Deep Canvassing daher als eine Form der Einstellungsänderung verstanden, die stärker affektiv und relational geprägt ist. Psychologisch betrachtet stützt sich das Verfahren auf Prozesse wie Selbstreflexion, Reframing eigener Erfahrungen und die Reduktion von Stereotypen durch persönlichen Kontakt. Es knüpft damit an sozialpsychologische Theorien wie die Kontakthypothese (Allport, 1954) und die Forschung zu Emotionen und Empathie als Motoren sozialen Wandels an.
Kritisch diskutiert wird allerdings, inwieweit Deep Canvassing in größeren gesellschaftlichen Kontexten skalierbar ist, da es zeit- und ressourcenintensiv ist und ein hohes Maß an Gesprächskompetenz erfordert. Dennoch wird es in der psychologischen Forschung wie auch in praktischen politischen Kampagnen zunehmend als wirksames Instrument betrachtet, um Polarisierung zu reduzieren und nachhaltige Veränderung von Einstellungen zu fördern.
Literatur
Allport, G. W. (1954). The nature of prejudice. Addison-Wesley.
Broockman, D. E., & Kalla, J. (2016). Durably reducing transphobia: A field experiment on door-to-door canvassing. Science, 352(6282), 220–224.
Kalla, J. L., & Broockman, D. E. (2020). Reducing exclusionary attitudes through interpersonal conversation: Evidence from three field experiments. American Political Science Review, 114(2), 410–425.