Unterlassungseffekt

Der Unterlassungseffekt, auch als Omission Bias, Präferenz für Unterlassen oder Handlungsaversionsverzerrung bezeichnet, ist ein kognitiver Verzerrungseffekt, bei dem Menschen dazu neigen, Handlungen, die schädliche Konsequenzen haben, moralisch negativer zu bewerten als gleich schädliche Unterlassungen. Das bedeutet, dass Schäden, die durch aktives Handeln entstehen, als schlimmer oder verantwortungsvoller wahrgenommen werden als Schäden, die durch Nicht-Handeln verursacht werden, selbst wenn die Konsequenzen objektiv gleich oder sogar schlimmer sind.

Der Unterlassungseffekt wird insbesondere im Kontext von Moralpsychologie, Entscheidungsforschung, Medizinethik und Risikowahrnehmung diskutiert. Dieses psychologische Phänomen zeigt sich besonders deutlich in moralischen Dilemmata, Entscheidungsfindung unter Unsicherheit und Risikobewertung. Menschen bevorzugen in vielen Situationen das Nichtstun, selbst wenn dies zu schlechteren Ergebnissen führt, weil sie sich durch aktive Entscheidungen stärker verantwortlich fühlen würden. Dieser Effekt hat weitreichende Konsequenzen, etwa in der Medizin (z. B. bei Impfentscheidungen), im Rechtssystem, in der Politik oder im Umweltschutz.

Ein klassisches Beispiel ist das Impfparadoxon: Eltern könnten sich gegen eine Impfung entscheiden, weil die Vorstellung, durch eine bewusste Handlung (Impfung) Nebenwirkungen auszulösen, belastender erscheint als das Risiko, durch Unterlassen (Nichtimpfung) eine Krankheit zuzulassen – auch wenn die Wahrscheinlichkeit schwerer Konsequenzen durch das Unterlassen höher ist (Ritov & Baron, 1990). Die emotionale Aversion gegenüber aktiven Fehlern übersteigt oft die Bewertung passiver Fehler. Auch in der Pädagogik und Umweltpsychologie findet der Effekt Beachtung, da unterlassene Interventionen (z. B. bei Mobbing oder Umweltverschmutzung) anders bewertet werden als aktive Vergehen.

Der Unterlassungseffekt wird häufig mit Verantwortungsdiffusion und Verlustaversion erklärt. Aktive Handlungen erfordern eine bewusste Entscheidung, die mit einer stärkeren Zurechnung von Schuld oder Verantwortung einhergeht. Passives Verhalten hingegen wird eher als naturgegeben oder unausweichlich angesehen. Dieses psychologische Muster steht in engem Zusammenhang mit anderen Entscheidungsfehlern, etwa dem Status-quo-Bias (die Tendenz, den aktuellen Zustand beizubehalten) oder dem Framing-Effekt (je nachdem, ob ein Problem als Verlust oder Gewinn dargestellt wird, beeinflusst dies die Entscheidung).

Neuere Forschung zeigt, dass der Unterlassungseffekt nicht nur auf moralischen Erwägungen basiert, sondern auch durch emotionale und kognitive Prozesse beeinflusst wird. Emotionale Reaktionen wie Angst, Schuld oder Reue spielen eine entscheidende Rolle bei der Abwägung zwischen Handlung und Unterlassung. Gleichzeitig wirken soziale Normen und die Wahrnehmung von Handlungskonsequenzen als Verstärker dieses Effekts. Der Unterlassungseffekt stellt insgesamt eine Herausforderung für rationales Entscheiden dar, insbesondere in komplexen ethischen, medizinischen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Literatur

Baron, J., & Ritov, I. (2004). Omission bias, individual differences, and normality. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 94(2), 74–85.
Gigerenzer, G. (2013). Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München: Bertelsmann.
Greifeneder, R., Bless, H., & Fiedler, K. (Hrsg.). (2011). Kognitive Gefühle und Urteilsbildung: Grundlagen und Anwendungen (S. 157–178). Springer.
Falk, A., & Fischbacher, U. (2006). Eine Theorie des normativen Verhaltens mit Anwendungen auf moralische Dilemmata. In F. Heinemann & C. Watrin (Hrsg.), Wirtschaftsethik und ökonomische Theorie (S. 161–182). Mohr Siebeck.
Ritov, I., & Baron, J. (1990). Reluctance to vaccinate: Omission bias and ambiguity. Journal of Behavioral Decision Making, 3(4), 263–277.
Spranca, M., Minsk, E., & Baron, J. (1991). Omission and commission in judgment and choice. Journal of Experimental Social Psychology, 27(1), 76–105.
Traut-Mattausch, E., & Jonas, E. (2005). Moralische Entscheidungsfindung: Der Einfluss von Emotionen auf moralisches Urteil und Verhalten. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 36(1), 37–47.


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