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Langzeitgedächtnis

    Das Langzeitgedächtnis (long-term memory) oder Langzeitspeicher ist der relativ zeitüberdauernde und unbegrenzt aufnahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems, zu dem  Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen gehören. Der Langzeitspeicher hält Information über längere Zeitspannen verfügbar, wobei man fünf relativ unabhängige Systeme unterscheiden kann, die sich in der Evolution entwickelt haben. Die beiden ersten beiden Systeme sind großteils unbewusst, denn im prozeduralen Gedächtnis werden grundlegende Bewegungsabläufe gespeichert, wenn etwa das Neugeborene beginnt, Bewegungsabläufe zu wiederholen. Das perzeptuelle Gedächtnis (sensorischer Cortex) schließlich, das wie die beiden nachfolgenden auch bewusst arbeitet, sorgt dafür, dass man Objekte identifizieren und kategorisieren kann. Fakten ohne Kontext werden im semantischen Gedächtnis gespeichert. Das Priming im assoziativen Cortex führt dazu, dass man bereits Gesehenes unbewusst schneller wiedererkennt. Diese vier Gedächtnissysteme haben Menschen mit Säugetieren und Vögeln gemeinsam, während das episodisch-autobiografische Gedächtnis nur beim Menschen nachweisbar ist, das bewusst erlebte Momente des Lebens speichert.

    Als wichtigste Teilkomponenten werden beim Langzeitspeicher das episodische Gedächtnis (vorrangig rechte Gehirnrinde), das semantische Gedächtnis (vorrangig linke Gehirnrinde) und das prozedurale Gedächtnis (Kleinhirn und Basalganglien) unterschieden. Perioden der Ruhe oder des Schlafes begünstigen dabei die Gedächtnisstabilisierung. Vor allem im Schlaf werden dabei jene Verbindungen in der Hirnrinde gestärkt, die dem Langzeitgedächtnis zu Grunde liegen, wobei die Nervenzellen in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert und dauerhaft miteinander verbunden werden,  um einem bestimmten Gedächtnisinhalt zu entsprechen (neokortikale Repräsentation).  Nach aktuellen Untersuchungen (Viney et al., 2013) wird das Abspielen von komprimierten Informationsinhalten im Tiefschlaf durch einen speziellen Neuronentyp in Gang gesetzt. Es gibt bei einer EEG-Ableitung im Tiefschlaf das Phänomen von sogenannten Ripple-Komplexen, hochfrequente Gehirnwellen, die nur eine Zehntelsekunde dauern, wobei diese von den Axo-axonischen Zellen, initiiert werden. Diese Axo-axonischen Zellen wirken dämpfend auf die Aktivität im Gehirn, wobei sie im Tiefschlaf plötzlich und konzertiert ihre Dämpfung für kurze Zeit stoppen. Dadurch lösen sie die hochfrequenten Ripple-Komplexe und das rasche Abspielen von Informationen aus, wobei dieser Vorgang in komprimierter Form erfolgt, also die vorhandenen Informationen vom Gehirn als relevant ausgewählt, komprimiert und ins Langzeitgedächtnis überführt werden.

    Frische Erinnerungen sehr übrigens sind sehr anfällig für Interferenzen und brauchen daher Zeit , um sich zu stabilisieren, d. h., die Hirnrinde ist ein langsamer Lerner, weil Veränderungen in der cortikalen Synapsenstärke typischerweise Zeit brauchen. Durch die Langsamekeit dieses Prozesses wird daher das Gehirn nicht mit unsinnigen und willkürlichen Informationen überfrachtet. Eine kurzfristige Speicherung von räumlich-zeitlichen Aktivitätsmustern findet vorzugsweise in Strukturen mit schneller Plastizitätsregulierung statt, also in Arealen, die schneller reagieren und sich schneller verändern können als die Synapsenstärke in der Hirnrinde, wobei hier vor allem der Hippocampus aktuelle Erinnerungen abspeichert und  sie reaktivieren kann.

    Beeinflusst Koffein das Langzeitgedächtnis?

    In einer Studie untersuchen Borota et al. (2014) die Auswirkungen von Koffein auf das Langzeitgedächtnis und stellen fest, dass eine bestimmte Koffein-Dosis, die den Teilnehmern kurz nach dem Studium von Bildern verabreicht worden war, die Leistung bei der Bilderkennung einen Tag später verbesserte. Dieses Forschungsergebnis legt nahe, dass Koffein die Gedächtniskonsolidierung unabhängig von anderen kognitionsfördernden Effekten verbessern kann.


    Hat ein Virus zum Langzeitgedächtnis geführt?

    Das neuronale Gen Arc ist für die lang anhaltende Informationsspeicherung im Gehirn von Säugetieren unerlässlich und wird mit verschiedenen neurologischen Störungen in Verbindung gebracht, wobei Arc etwa in der Lage ist, den Transport der RNA von Zelle zu Zelle zu vermitteln. Über die evolutionären Ursprünge von Arc ist jedoch wenig bekannt. Studien von Shepherd (2018) deuten darauf hin, dass es sich bei dem Protein Arc um das Überbleibsel eines Virus handeln könnte. Möglicherweise hat eine zufällige Begegnung mit einem Vorfahren des Retrovirus vor Hunderten von Millionen Jahren dazu geführt hat, dass dieser sein genetisches Material in ein Säugetier injizierte, sodass Arc nun eine zentrale Rolle in der menschlichen Gedächtnisfunktion spielt.


    Meeresbiologen konnten nachweisen, dass Delfine ein lebenslanges soziales Gedächtnis besitzen, denn in einem Experiment wurde einer Delfingruppe ein Pfiff von einem Artgenossen vorgespielt, der vor zwanzig Jahren seine Gruppe verlassen hatte. Die Reaktion der Delfine war so eindeutig, dass man davon ausgehen kann, dass der Pfiff eine Erinnerung an den ehemaligen Artgenossen ausgelöst hat. Delfine lernen von ihren Müttern diesen ganz eigenen Ruf und wandeln ihn dann individuell um, wobei man diesen Identifikationspfiff mit einem Namen vergleichen kann. Delfine haben daher mit großer Wahrscheinlichkeit ein lebenslanges Gedächtnis, erinnern sich also an andere Individuen, mit denen sie dann bei Bedarf eine Allianz eingehen. Delfine formen in freier Wildbahn immer wieder neue Gruppen und Koalitionen, sodass die Erinnerung an einzelne Tiere und ihr Verhalten dabei selektiv von Vorteil ist. Das Gedächtnis der Delfine in diesem Bereich ist damit ähnlich gut wie das des Menschen oder einiger Primaten und deutlich besser als das vieler anderer Tiere. Ähnlich wie Delfine verfügen auch Elefanten über ein lebenslanges Gedächtnis, wobei diese viele Fähigkeiten durch das soziale Miteinander lernen, auch indem sie ihre Rituale pflegen. Stirbt etwa ein wichtiges Leittier einer Elefantenherde, dann kommen weit entfernte Artgenossen zum Abschiednehmen, bedecken den Leichnam mit Ästen und Büschen und verweilen bei ihm. Daher kann man davon ausgehen, dass die Tiere genau wissen, vor wem sie stehen, und auch eine Art von Vorstellung vom Tod haben. Die Redensart, dass jemand ein Gedächtnis wie ein Elefant habe, kommt eben aus der Beobachtung, dass sich Elefanten teilweise über Jahrzehnte hinweg an enorm viele Details erinnern können. Das liegt an der Lebensweise der Tiere, die nicht permanent zusammenbleiben, sondern in einer Fission-Fusion-Gesellschaft leben, bei der sich die Herde oft für Jahre trennt, sodass sie sich bei einem neuerlichen Zusammentreffen wieder aneinander erinnern können müssen – was übrigens vorwiegend über Laute und Gerüche geschieht. Dieses gute Gedächtnis macht auch eine hohe Lebensdauer von bis zu achtzig Jahren möglich, denn sie können sich über Jahrzehnte hinweg an Futter- und Wasserstellen, Wege oder auch an Menschen erinnern, d. h., dieses gute Gedächtnis ist für die Tiere überlebenswichtig. Manche Schimpansen mumifizieren ihre verstorbenen Jungtiere, damit sie diese mehrere Monate mit sich herumtragen können. Um das Erinnerungsvermögen von Fledermäusen (Trachops cirrhosus oder Fransenlippenfledermaus) zu testen, trainierte man wild gefangene Fledermäuse darauf, auf einen bestimmten Klingelton zu reagieren. Dafür ließen sie die Tiere kleine Fische angreifen, die auf einem Lautsprecher platziert waren. Man setzte danach die Fledermäuse wieder in die Wildnis aus und fing acht von ihnen zwischen einem und vier Jahren später erneut ein. In einem Experiment bekamen diese acht Fledermäuse den Klingelton erneut zu hören, wobei sich fast alle zuvor gefangenen Tiere daraufhin auf ihre Beute stürzten, während wild gefangene, untrainierte Fledermäuse nicht reagierten. Offenbar kann das Erinnern an Geräusche selbst nach Jahren den Fledermäusen helfen, seltene Beute zu jagen oder Frösche zu finden, die sich paaren.


    Überschrift eines Zeitungsartikels:

    Wissenschaftler manipulieren Langzeitgedächtnis

    Im Text:

    … bei Fruchtfliegen 😉


    Literatur

    Borota, Daniel, Murray, Elizabeth, Keceli, Gizem, Chang, Allen, Watabe, Joseph M, Ly, Maria, Toscano, John P, Yassa, Michael A. (2014). Post-study caffeine administration enhances memory consolidation in humans. Nature Neuroscience, 17, 201-203.
    Stangl, W. (2001). Im Schlaf lernen.
    WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/SCHLAF/Im-Schlaf-lernen.shtml (01-07-03)
    Shepherd, Jason D. (2018). An endogenous neuronal retrovirus? Seminars in Cell & Developmental Biology, 77, 73-78.
    Stangl, W. (2019, 16. März). Hat ein Virus zum Langzeitgedächtnis geführt? Stangl notiert …
    https:// notiert.stangl-taller.at/grundlagenforschung/hat-ein-virus-zum-langzeitgedaechtnis-gefuehrt/.
    Tim J Viney, Balint Lasztoczi, Linda Katona, Michael G Crump, John J Tukker, Thomas Klausberger & Peter Somogyi (2018). Network state-dependent inhibition of identified hippocampal CA3 axo-axonic cells in vivo. Nature Neuroscience doi:10.1038/nn.3550.
    https://www.br.de/nachrichten/wissen/tierische-faehigkeiten-wie-denken-und-empfinden-tiere (19-12-05)
    https://www.spektrum.de/news/gedaechtnis-fledermaeuse-koennen-sich-klingelton-jahrelang-merken/2035324 (22-06-30)


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    Ein Gedanke zu „Langzeitgedächtnis“

    1. Elefantengedächtnis

      Eine Leitkuh bleibt meist mit den weiblichen Nachkommen zusammen, etwa in Trockenzeiten bilden weibliche Elefanten aber auch Herden mit Hunderten von Tieren. Junge Männchen dagegen verlassen die Mutterherde und leben als Einzelgänger oder in lockeren Bullenherden, d. h., es gibt ein Kommen und Gehen, sodass es sozial von Vorteil ist, wenn Elefanten ihre Artgenossen bei Begegnungen wiedererkennen, auch wenn sie sie Jahre nicht gesehen haben, wobei sie sich besonders gut an Tönen erkennen. Neben dem sozialen Gedächtnis haben Elefanten auch ein sehr gutes geografisches Gedächtnis, denn so finden etwa ältere Leitkühe noch nach Jahren Wasser oder Salzleckstellen wieder, was auch auf Trainings im Zoo übertragbar ist, denn bringt man einem Elefanten bei, den Fuß für die Pflege zu heben, merkt er sich das Kommando über lange Zeit.
      Quelle: Badische Zeitung (21-10-10)

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