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Kurzzeitgedächtnis

    Das Kurzzeitgedächtnis ist das aktivierte Gedächtnis, das einige Informationsinhalte für kurze Zeit festhält wie z. B. die Ziffern einer Handynummer, um sie dann entweder abzuspeichern oder zu vergessen. Die Speicherdauer des Kurzzeitgedächtnisses bzw. Arbeitsgedächtnisses beträgt bis zu zwanzig Sekunden, was bedeutet, dass alle Informationen, die man über einen relativ kurzen Zeitraum wie eine halbe Stunde gespeichert hat, schon im Langzeitgedächtnis sein müssen, wenn man sich an sie erinnern kann. Das Kurzzeitgedächtnis ist also kein Computerchip, auf den Informationen kurzfristig geschrieben und wieder gelöscht werden, sondern ein neuronaler Schaltkreis, in dem bestimmte aufgenommene Informationen für eine bestimmte Zeit zirkulieren und wieder verblassen oder ganz verschwinden, wenn sie nicht wiederholt und verstärkt werden. Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet auch als Filter und sorgt dafür, dass man Unwichtiges schnell wieder vergessen kann, doch vermag das Gehirn manchmal nicht zu differenzieren, so dass auch mancher Lernstoff schnell in der Kategorie „unwichtig“ landet und bald vergessen ist.

    Bekanntlich hat das Kurzzeitgedächtnis ein begrenztes Aufnahmevermögen, im Durchschnitt liegt dieses bei Menschen bei etwa 7 Informationseinheiten, wobei es im Grunde für die Bestimmung dieser Grenze irrelevant ist, ob es sich dabei um Ziffern, Buchstaben, Wörtern, Bewegungen oder Farben handelt. Auch für das Lösen von Denkaufgaben bestimmt der begrenzte Umfang des Kurzzeitgedächtnisses häufig den Schwierigkeitsgrad, da bei manchen Aufgaben der normale Arbeitsspeicher nicht groß genug ist, um alle zur Lösung relevanten Informationen aufzunehmen und deren Relationen im Gedächtnis zu bilden. Ein kleines Beispiel: Franz ist kleiner als Werner. Erich ist größer als Max. Franz ist größer als Erich. Wer von ihnen ist der Größte?

    Fast alle höheren geistigen Fähigkeiten wie das Erkennen oder Wiedererkennen ergeben sich aus einem komplexen Zusammenspiel von spezialisierten neuronalen Netzen an verschiedenen Stellen im Gehirn. Nach neuesten Untersuchungen 2012 des Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen beruht das Kurzzeitgedächtnis auf synchronisierten Gehirnschwingungen. Nikos Logothetis untersuchte mit seinem Team simultan die elektrische Aktivität in einer visuellen Region und im frontalen Gehirnbereich an Affen, wobei man den Tieren in kurzen Abständen identische oder unterschiedliche Bilder zeigte, wobei die Tiere dann angeben mussten, ob das zweite Bild dem ersten entsprach oder nicht. Die beiden daran beteiligten Gehirnregionen waren durch oszillatorische Schwingungen im Bereich des Theta-Bandes synchron aktiv, denn je stärker diese Regionen synchron aktiv waren, desto besser konnten sich die Tiere an das erste Bild erinnern.

    Kritisch setzt sich auch Rohracher (1984) mit dem Begriff des Kurzzeitgedächtnisses auseinander: „Vielleicht kann man mit dem Begriff der Einprägung den Unterschied zwischen den beiden Gedächtnisarten am klarsten darstellen: Kurzzeit-Gedächtnis ist Wiedergabe ohne Einprägung, Langzeitgedächtnis ist Wiedergabe auf Grund von Einprägung. Wenn man will, kann man statt von Einprägung von Speicherung sprechen. (…) Der Begriff Kurzzeit-Gedächtnis wäre entbehrlich, weil die Annahme eines eigenen Kurz-Speichers mit begrenzter Kapazität nicht bewiesen und überdies überflüssig ist. Man wird diesen Begriff aber nicht mehr aus der Psychologie verbannen können – halbrichtige verwirrende Begriffe mit Schlagwortcharakter halten sich mit erstaunlicher Kraft. Wenn man ihn verwendet, dann am besten in der Bedeutung Gedächtnis ohne Einprägung“ (S. 276 f.).

    Übrigens nimmt das Kurzzeitgedächtnis der Drosophola melanogaster, bekannt als Fruchtfliege, Obstfliege oder Essigfliege, mit dem Alter ab, wobei diese im mittleren Alter zwischen 30 und 40 Tagen altersbedingte Gedächtnisprobleme bekommen. Generell haben Fruchtfliegen ein verhältnismäßig gutes Gedächtnis, denn sie können sich etwa gut daran erinnern, wohin sie eigentlich wollten, wenn sie von ihrem Ziel kurzzeitig abgelenkt werden. Das visuelle Arbeitsgedächtnis der Fruchtfliege speichert diese Information für etwa vier Sekunden. Neuere Untersuchungen zeigen nun, dass sich das visuelle Arbeitsgedächtnis mit dem Alter verschlechtert, wobei bei diesem Gedächtnisabbau das auch beim Menschen bekannte Amyloid-Vorläuferprotein eine wichtige Rolle spielt. Die Art und Weise, wie das Vollprotein von den Enzymen zu Fragmenten gespalten wird, erfolgt bei der Fruchtfliege ganz ähnlich wie bei Menschen, bei denen es zu der bei Alzheimer nachweisbaren Bildung von Plaques kommt.


    Illusionen des Kurzzeitgedächtnisses

    Die Wahrnehmung kann bekanntlich durch Erwartungen beeinflusst werden, was zu Wahrnehmungstäuschungen führen kann, wobei auch das Langzeitgedächtnis so geformt werden kann, dass es den Erwartungen entspricht, was dann zu falschen Erinnerungen führen kann. Im Allgemeinen wird jedoch davon ausgegangen, dass das Kurzzeitgedächtnis für Wahrnehmungen, die nur ein oder zwei Sekunden zurückliegen, die Wahrnehmungen genau so wiedergibt, wie sie zum Zeitpunkt der Wahrnehmung waren. Otten et al. (2023) konnten zeigen, dass Erwartungen auch Wahrnehmungsrepräsentationen auf kurzen Zeitskalen – also auch in Bezug auf das Kurzzeitgedächtnis – umgestalten können, was die Forscher als Illusionen des Kurzzeitgedächtnisses bezeichnen. Diese Illusionen traten dabei auf, wenn die Teilnehmer eine Gedächtnisanzeige sahen, die echte und Pseudobuchstaben – hier gespiegelte Buchstaben – enthielt. Innerhalb von Sekunden nach dem Verschwinden der Gedächtnisanzeige stiegen die Erinnerungsfehler mit hohem Vertrauen erheblich an. Diese Zunahme der Fehler im Laufe der Zeit deutet darauf hin, dass die Fehler mit hohem Vertrauen nicht nur aus einer falschen Wahrnehmungscodierung der Gedächtnisanzeige resultieren. Darüber hinaus traten Fehler mit hohem Vertrauen vor allem bei Erinnerungen an Pseudo-Buchstaben auf und viel seltener bei Erinnerungen an echte Buchstaben, was darauf hindeutet, dass die visuelle Ähnlichkeit nicht die Hauptursache für diesen Erinnerungsfehler ist. Stattdessen scheint Weltwissen, also welche Ausrichtung Buchstaben normalerweise haben, diese Täuschungen zu steuern. Diese Ergebnisse unterstützen eine prädiktive Sichtweise der Gedächtnisbildung und -erhaltung, bei der alle Gedächtnisphasen, einschließlich der Illusionen des Kurzzeitgedächtnisses, die Integration von Bottom-up-Gedächtnisinput mit Top-down-Vorhersagen beinhalten, so dass vorherige Erwartungen Gedächtnisspuren formen können. Diese Experimente haben daher eindrucksvoll gezeigt, dass illusorische Erinnerungen auch dann auftreten können, wenn die zu erinnernden Gegenstände gerade erst aus dem Blickfeld verschwunden sind


    Probleme als Indikator für Demenz

    Übrigens können frühe Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis ein Indikator für eine spätere Demenz sein, wobei der subjektive kognitive Abbau nachweislich eine Vorstufe der Demenz darstellt, wobei der Zusammenhang zwischen subjektivem kognitivem Abbau und Demenz jedoch hauptsächlich bei Menschen über 65 Jahren untersucht wurde. Möllers et al. (2022) haben den Zusammenhang zwischen subjektiven Gedächtnisschwierigkeiten im Alter von 50-75 Jahren und Demenz insgesamt sowie Demenz-Subtypen in einer gemeindebasierten Kohorte mit Langzeit-Follow-up untersucht. Über sechstausend Menschen (51 % weiblich) im Alter von 50 bis 75 Jahren (mittleres Alter 62), die in den Jahren 2000-2002 an einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung (bei insgesamt 684 Allgemeinärzten) im Saarland teilnahmen, wurden für eine gemeindebasierte Kohortenstudie rekrutiert. Insgesamt entwickelten knapp fünfhundert Studienteilnehmer während des Beobachtungszeitraums von 17 Jahren eine Demenz, sodass subjektiv wahrgenommene Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis daher schon bei Menschen ab einem Alter von 50 Jahren auf ein erhöhtes Risiko einer Demenz hinweisen können, und das bereits viele Jahre vor der Diagnosestellung. Wer zusätzlich zu Störungen des Kurzzeitgedächtnisses auch noch unter einer Depression litt, hatte den Ergebnissen zufolge ein noch höheres Risiko einer späteren Demenz. Für die klinische Alzheimer-Krankheit wurde ein signifikanter Zusammenhang nur innerhalb der ersten sechs Jahre festgestellt, und es gab keine Zusammenhänge zwischen langfristigen Gedächtnisschwierigkeiten und irgendeiner Art von Demenz. Subjektive Schwierigkeiten mit dem Kurzzeitgedächtnis sagen daher sowohl das mittel- als auch das langfristige Risiko einer vaskulären Demenz und einer Demenz aller Ursachen voraus, selbst bei Erwachsenen im späten mittleren Alter. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von Präventionsmaßnahmen gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen lange vor dem Alter für die Erhaltung der kognitiven Gesundheit.


    Kurioses: Frau ohne Kurzzeitgedächtnis

    Miriam Ludewig ist Klientin der Stiftung Eben-Ezer und lebt ohne funktionierendes Kurzzeitgedächtnis – eine Herausforderung, die sie mit Unterstützung anderer, ihrem Handy und viel Leidenschaft meistert. Umso bemerkenswerter sind ihre Fähigkeiten und Aktivitäten, denn die Sopranistin gestaltet gemeinsam mit der Kantorin und Musikpädagogin Anna Ikramova die musikalischen Beiträge in Gottesdiensten und wirkt als Solistin bei Konzerten mit. Wenn sie Stücke einstudiert, macht Miriam Ludewig das ohne Noten, denn die konnte sich die 37-Jährige aufgrund ihrer Behinderung nie einprägen. Stattdessen hört und sieht sie sich Ton- und Videoaufnahmen an, auch von ihren eigenen Proben, denn ein Stück muss sie nur ein- oder zweimal hören, dann kann sie es mit ihrer Stimme wiedergeben. Wenn es um Musik geht, hat sie ein fantastisches Gedächtnis, auch für die schwierigsten Werke, die viel Gedächtnis erfordern. Anna Ikramova spricht von einer einzigartigen Gabe. Melodien, Rhythmen und Texte vergisst sie im Gegensatz zu anderen Informationen nicht.

    Literatur

    Möllers, Tobias, Stocker, Hannah, Perna, Laura, Rujescu, Dan, Holleczek, Bernd, Schöttker, Ben & Brenner, Hermann (2022). Subjective short-term memory difficulties at ages 50–75 predict dementia risk in a community-based cohort followed over 17 years. Age and Ageing, 51, doi: 10.1093/ageing/afac113.
    Otten, Marte, Seth, Anil K. & Pinto, Yair (2023). Seeing Ɔ, remembering C: Illusions in short-term memory. Public Library of Science, 18, doi:10.1371/journal.pone.0283257.
    Rohracher, H. (1984). Einführung in die Psychologie. Wien: Urban & Schwarzenberg.
    Stangl, W. (2022, 16. Juni). Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis ein Indikator für eine spätere Demenz. arbeitsblätter news.
    https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/probleme-mit-dem-kurzzeitgedaechtnis-ein-indikator-fuer-eine-spaetere-demenz/.
    http://www.uni-mainz.de/presse/aktuell/4349_DEU_HTML.php (19-03-07)
    https://www.bethel.de/aktuelles/sein-antrieb-ist-die-veraenderung/wie-eine-sopranistin-ohne-kurzzeitgedaechtnis-zurechtkommt (23-11-28)

    Alles über das Kurzzeitgedächtnis siehe Das Gedächtnis.


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