Das High-Place-Phänomen bezieht sich auf das Gefühl der Angst, das manche Menschen empfinden, wenn sie sich an einem hohen Ort oder an einem Ort in großer Höhe befinden, wie etwa auf einem Hochhaus, einer Brücke oder einem Berggipfel. Obwohl der Mensch keine konkrete Gefahr wahrnimmt, können intensive, unerklärliche Ängste auftreten, die mit dem Drang verbunden sind, von der Kante oder dem Abgrund zu springen, obwohl dies in den meisten Fällen nicht durch die Absicht oder den Wunsch motiviert wird, sich selbst zu verletzen. Dieses Phänomen ist ein psychologisches und kognitives Erlebnis und wird oft auch als Aspekt der Sicherheitsangst oder der Höhenangst (Akrophobie) verstanden.Dieses Phänomen gehört zur Gruppe der „Call of the Void-Phänomene“ und ist eine Begriff, der in der Psychologie ganz allgemein verwendet wird, um jenes Phänomen zu beschreiben, bei dem Menschen plötzlich den impulsiven Drang verspüren, gefährliche oder selbstschädigende Handlungen auszuführen, obwohl sie eigentlich gar nicht die Absicht haben, dies zu tun. Diese Erfahrung kann mit Gedanken wie dem plötzlichen Wunsch, sich selbst zu verletzen oder sich in gefährliche Situationen zu begeben, verbunden sein. Dieses Phänomen tritt dann meist auf, wenn ein Mensch an Orten ist, an denen er potenziell riskante Handlungen begehen könnte, etwa an einer Klippe, auf einem hohen Turm, in der Nähe von scharfen Gegenständen oder auf einem Bahnsteig beim Einfahren eines Zuges.
Das High-Place-Phänomen kann mit einer Kombination von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren erklärt werden:
Evolutionäre Perspektive: In der Evolution war es wichtig, Instinkte zu entwickeln, die uns in der Nähe von Abgründen vorsichtig machen. Der Mensch hat eine angeborene Tendenz, potenziell gefährliche Situationen zu vermeiden. Auch wenn heutzutage keine unmittelbare Gefahr durch die Höhe besteht, reagieren viele Menschen instinktiv auf diese Unsicherheit, indem sie Angst empfinden.
Angst vor Verlust der Kontrolle: Menschen, die das High-Place-Phänomen erleben, haben häufig das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Dies kann eine Mischung aus der Angst vor dem Abgrund und der Unfähigkeit, die eigene Handlung zu kontrollieren, sein. Diese sogenannte „Gravitationsangst“ kann auch mit der psychischen Vorstellung zusammenhängen, dass man in Versuchung geraten könnte, sich in die Tiefe zu stürzen, obwohl man dies nicht will.
Kognitive Verzerrungen: Ein weiteres erklärendes Modell bezieht sich auf kognitive Verzerrungen wie die „Überbewertung von Gefahr“ und die „Katastrophisierung“. Das Gehirn kann die Wahrscheinlichkeit eines negativen Ereignisses (wie dem Fallen) überschätzen, was zu einer unangemessenen Reaktion führt.
Phobische Reaktionen: Das High-Place-Phänomen könnte auch als eine milde Form der Akrophobie angesehen werden, wobei sich die phobische Reaktion nur dann bemerkbar macht, wenn die Person tatsächlich an einem hohen Ort ist. In dieser Hinsicht könnte es sich um eine situative Angststörung handeln, die durch die spezifische Situation ausgelöst wird. Es gibt einige Studien, die das High-Place-Phänomen und ähnliche Phänomene untersucht haben, insbesondere im Kontext von Angst und Phobien. Die meisten dieser Studien konzentrieren sich auf die Höhenangst (Akrophobie), da sie ähnliche Symptome wie das High-Place-Phänomen zeigt.
Neurobiologische Perspektive: Das High-Place-Phänomen könnte auch mit einer neurobiologischen Reaktion auf Höhen und vertikale Bewegungen zusammenhängen. Studien zu Höhenangst haben gezeigt, dass das Limbische System, insbesondere die Amygdala, eine zentrale Rolle in der Verarbeitung von Angst spielt. Es ist denkbar, dass bei manchen Menschen eine verstärkte Aktivierung dieser Regionen zu einem intensiveren Gefühl der Bedrohung führt, auch wenn objektiv keine Gefahr besteht.
Soziale Einflüsse: Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Wahrnehmung von Gefahr in großen Höhen durch den sozialen Kontext beeinflusst werden kann. Zum Beispiel können andere Menschen die Wahrnehmung der Gefahr verstärken, indem sie in der Nähe von hohen Orten ebenfalls Angst zeigen oder warnten.
Das High-Place-Phänomen ist ein interessantes psychologisches Phänomen, das eine komplexe Mischung aus biologischen, kognitiven und sozialen Faktoren widerspiegelt. Während einige Menschen intensive Angst oder den Drang zu springen verspüren, sind solche Erfahrungen in der Regel auf die psychologische Wahrnehmung von Gefahr und den Verlust der Kontrolle zurückzuführen und nicht auf eine tatsächliche Bedrohung durch die Höhe. Empirische Forschungen zu diesem Thema, insbesondere zu Höhenangst und Akrophobie, bieten wertvolle Einsichten in das Verhalten von Individuen in solchen Kontexten.
Literatur
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https:// lexikon.stangl.eu/37142/call-of-the-void.