Der Begriff „Sludge Content“ hat seinen Ursprung in der Welt der digitalen Medien und des Internetmarketings, erfährt jedoch seit einigen Jahren eine zunehmende Verwendung in psychologischen und sozialen Kontexten. „Sludge“ beschreibt also Inhalte oder Mechanismen, die unnötig komplex, störend oder irritierend sind und die Nutzer*innen davon abhalten, effizient zu handeln. Diese Inhalte sollen die Nutzer im Internet länger halten, sie verwirren oder ihnen zusätzliche Hürden auf dem Weg zu einer gewünschten Handlung (wie etwa dem Abmelden von Newslettern oder dem Löschen von Accounts) auferlegen. Der Begriff beschreibt demnach Inhalte oder Praktiken, die mit der Intention gestaltet wurden, Menschen in bestimmte Verhaltensweisen zu drängen oder zu manipulieren, die in ihrem eigenen Interesse oder zum Vorteil einer Organisation oder Plattform liegen. Dies erfolgt häufig ohne das Bewusstheit der Betroffenen oder deren Zustimmung.
Sludge Content manifestiert sich sowohl als sichtbares Hintergrundrauschen als auch in einer beinahe künstlerisch anmutenden Bloßstellung der Annahme, dass Aufmerksamkeit ein adäquater Messwert für hochwertige Inhalte sei. Ein Qualitätskriterium, das sich inzwischen überall findet und weit über vermeintlich smartphone-geschädigte Teenager hinausreicht, ist die Verwendung von Trailer-Einblendungen zu Beginn von Netflix-Dokumentationen. Diese Trailer bestehen aus einer Zusammenstellung von Szenen aus dem jeweiligen Film, die einen positiven Eindruck vermitteln sollen, um die Zuschauer dazu zu bringen, nicht umzuschalten. Das Intro ist aus einer Vielzahl von Popsongs verschwunden; stattdessen wird der Fokus auf den Refrain gelegt, um die Hörer:innen auf Spotify nicht zu verlieren.
Sludge Content bedient sich dabei psychologischer Prinzipien, um die Entscheidungsfindung der Menschen zu beeinflussen. Dazu werden Inhalte bewusst so gestaltet, dass sie die Wahrnehmung oder die Entscheidung des Nutzers verzerren. Auf diese Weise wird eine Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Nutzer Entscheidungen treffen, die sie sonst nicht getroffen hätten. Ein exemplarisches Beispiel für die Anwendung dieser Methode ist die Verwendung von sogenannten „Dark Patterns“. Hierbei handelt es sich um eine Art von Design-Patterns, die darauf abzielen, Nutzer in eine Falle zu locken. Dies kann beispielsweise durch die Platzierung von versteckten Abo-Fallen oder durch das Erzeugen von „Entscheidungsmüdigkeit“ geschehen.
Der Sludge Content zielt darauf ab, kognitive Verzerrungen auszunutzen, wie etwa Framing-Effekte, also die Art und Weise, wie Informationen präsentiert werden, welche die menschliche Entscheidungsfindung beeinflusst. Ein Beispiel für die Auswirkung der sprachlichen Präsentation von Informationen ist die folgende Gegenüberstellung: Eine Nachricht, die ein Produkt als „99 % zufriedenstellend“ anpreist, kann eine höhere Zustimmung hervorrufen als eine, die dasselbe Produkt als „1 % unzufriedenstellend“ beschreibt. Der Unterschied ist lediglich semantischer Natur.
Es lässt sich beobachten, dass Menschen dazu neigen, Verluste stärker zu gewichten als Gewinne, was als Verlustaversion bezeichnet wird. Die Gestaltung von Sludge Content kann derart erfolgen, dass den Nutzer:innen das Gefühl vermittelt wird, etwas zu verlieren, wenn sie eine Entscheidung nicht treffen oder nicht sofort reagieren.
Aus der Perspektive der Verhaltensökonomie kann Sludge Content als Beispiel für den sogenannten „Nudge“-Ansatz betrachtet werden, wobei sich dieser Ansatz in seiner Wirkung gegenläufig zu den Intentionen des „Nudging“ verhält. Während „Nudging“ darauf abzielt, Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne ihre Entscheidungsfreiheit einzuschränken, geht Sludge Content darüber hinaus und kann die Wahlmöglichkeiten der Menschen in eine unerwünschte Richtung verschieben oder ihre Fähigkeit, informierte Entscheidungen zu treffen, einschränken.
Eine langfristige Exposition gegenüber Sludge Content kann das Vertrauen der Nutzer in digitale Plattformen untergraben und Gefühle der Entfremdung oder sogar der „Verwüstung“ hervorrufen. Das ständige Gefühl der Manipulation oder der Beeinflussung von Entscheidungen durch Plattformen oder Unternehmen kann das psychologische Wohlbefinden beeinträchtigen und negative Auswirkungen auf das Vertrauen in Online-Dienste haben.
Als Beispiele für Sludge Content können Abonnement-Modelle und automatische Verlängerungen genannt werden. Bei vielen Diensten oder Produkten wird die Kündigung eines Abonnements oder die Beendigung unerwünschter Zahlungen durch den Kunden erschwert. Oftmals werden die Kündigungsoptionen in den Tiefen von Menüs versteckt oder die Kündigungsprozesse absichtlich verkompliziert. Bei der Anmeldung auf Webseiten oder beim Kauf von Produkten werden häufig voreingestellte Optionen verwendet, die den Nutzer dazu bringen, eine Entscheidung zu treffen, die er ohne diese Optionen möglicherweise nicht treffen würde. Dazu gehören beispielsweise das Abonnieren eines Newsletters oder das Aktivieren von Tracking. Des Weiteren bedienen sich Websites häufig taktischer Elemente wie Timern, welche einen „Dringlichkeitsfaktor“ hinzufügen und somit den Eindruck erwecken, dass ein Angebot nur für kurze Zeit verfügbar ist. Dies dient dazu, den Nutzer zu einer schnellen Entscheidung zu drängen.
In der Konsequenz bezeichnet Sludge Content ein Konzept, welches die manipulativen und vielfach unethischen Taktiken beschreibt, die in der digitalen Welt zum Einsatz gelangen, um das Verhalten von Nutzerinnen und Nutzern zu beeinflussen. Es betrifft sowohl die Psychologie des Individuums, indem es dessen Entscheidungsprozesse stört, als auch die ethischen Implikationen von Design und Marketing in der digitalen Ära.
Der Versuch, Aufmerksamkeit zu erzeugen, erfolgt auf sämtlichen denkbaren Ebenen, wobei keinerlei Anspruch oder Botschaft besteht. Dies kann als ein Second-, Third- oder sogar Fourth-Screen-Konsum bezeichnet werden, wobei hier eine Zerstreuung der Zerstreuung stattfindet. Zudem erfolgt eine Erweiterung des Prinzips TikTok durch die Gleichzeitigkeit mehrerer Inhalte. Auch wenn eine Filmszene nicht den eigenen Vorlieben entspricht, besteht doch zumindest das Interesse, ob der Protagonist im Verlauf der Handlung gefasst wird oder ob die Seife vollständig zerschnitten wird.
Die Intention, die sich hinter der Fülle an Sludge-Videos verbirgt, ist bislang nicht gänzlich ersichtlich. Es besteht jedoch die Vermutung, dass es sich hierbei um Content-Farmen handelt. Es besteht die Vermutung, dass die Clips möglicherweise durch KI automatisiert produziert werden. Die laxen Copyright-Kontrollen von TikTok sowie der einfache Video-Editor ermöglichen die Produktion von Sludge Content mit minimalem Aufwand.
Sludge Content entspricht in seiner Ausgestaltung den Maßstäben der Aufmerksamkeitsökonomie in Reinform. Er benötigt keine Follower, weist keine Nische auf und transportiert keine Botschaft. Obwohl er nicht nachgefragt wird, verzeichnet er eine hohe Klickrate. Er wird blitzschnell produziert, reizt alle Sinne gleichzeitig und vermittelt keinerlei Inhalte. Zynisch formuliert, kann er als das perfekte Kulturprodukt unserer Gegenwart bezeichnet werden.
Hinweis: Der Begriff „Sludge Content“ wurde durch den britischen Journalisten George Monbiot geprägt. In seinem 2019 erschienenen Artikel „Sludge: the toxic substance that has infiltrated our online lives“ beschreibt er, wie Online-Plattformen und digitale Dienste bewusst Inhalte und Prozesse gestalten, die Nutzer in ihrem Verhalten manipulieren und ihre Aufmerksamkeit binden sollen – meist zum Zwecke der Maximierung von Werbeeinnahmen oder Engagement. Monbiot prägte den Begriff als eine Art Gegenstück zu „Frictionless Design“ (also der Idee, digitale Nutzererfahrungen möglichst einfach und reibungslos zu gestalten) und stellte fest, dass Sludge zunehmend ein weit verbreitetes und schädliches Phänomen im digitalen Raum sei.