Hirnorganoide, auch als zerebrale oder neurale Organoide oder als Cortex in der Petrischale bezeichnet, stellen dreidimensionale Zellstrukturen dar, welche außerhalb des menschlichen Körpers, in vitro, mithilfe von Stammzellen gezüchtet werden. Diese Strukturen imitieren bestimmte Eigenschaften des menschlichen Gehirns, jedoch ohne die vollständige Ausprägung eines Organs zu erreichen. Hirnorganoide weisen eine ähnliche Zusammensetzung wie das menschliche Gehirn auf, wobei sie aus Nerven- und Gliazellen bestehen. Zudem bilden sie teilweise komplexe Strukturen aus, die denen des sich entwickelnden menschlichen Gehirns ähneln. Die aus menschlichen pluripotenten Stammzellen gewonnenen 3D-Modelle ermöglichen es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Eigenschaften zu untersuchen, die für das menschliche Gehirn charakteristisch sind.
Die Generierung dreidimensionaler Strukturen aus menschlichen Stammzellen, welche derzeit lediglich in Teilen Strukturen und funktionelle Merkmale des Gehirns ausbilden, hat in den vergangenen Jahren die Etablierung innovativer Modellsysteme zur Erforschung der Gehirnentwicklung sowie neurologischer Erkrankungen ermöglicht. Hirnorganoide stellen vielversprechende Modellsysteme in der Gehirnforschung dar, welche neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn versprechen. Sie ermöglichen Wissenschaftlern, die frühen Phasen der Gehirnentwicklung zu untersuchen und die Funktion von Genen in diesen Prozessen zu erforschen. Ein besonderer Vorteil liegt in der Möglichkeit, durch den Einsatz von Hirnorganoiden vergleichende Studien zwischen Menschen und anderen Primaten durchzuführen, wodurch ein besseres Verständnis der evolutionären Aspekte der Gehirnentwicklung erwartet werden kann. Ein weiterer Forschungsbereich, in dem Hirnorganoide zum Einsatz kommen, ist die Untersuchung der normalen menschlichen Hirnentwicklung. Dadurch lassen sich grundlegende Prozesse der Gehirnbildung und -reifung besser verstehen und mögliche Störungen in diesen Prozessen identifizieren.
Hirnorganoide finden ebenfalls Anwendung in der Erforschung neurologischer Erkrankungen, insbesondere solcher, deren Nachbildung in Tiermodellen erschwert ist. Sie ermöglichen die Entwicklung von Krankheitsmodellen sowie die Testung potenzieller Therapieansätze. Dies ist insbesondere von Wert für die Erforschung von Erkrankungen, die spezifisch für das menschliche Gehirn sind oder deren Mechanismen sich zwischen menschlichen und tierischen Modellen unterscheiden.
Bisher wurden als Modelle für die Großhirnrinde die üblichen kugelförmigen Zellkulturen verwendet, die sich allerdings in ihrer Gestalt vom menschlichen Cortex unterscheiden. Die menschliche Großhirnrinde ist jedoch länglich und von hinten nach vorne in verschiedene funktionelle Bereiche unterteilt. Nun ist es einem Forscherteam gelungen, Hirnorganoide zu erzeugen, die entlang der Längsachse in spezifische Bereiche unterteilt sind.
Die Forschung mit Hirnorganoiden wirft auch zahlreiche ethische Fragen auf, insbesondere im Kontext der Transplantation von menschlichen Hirnorganoiden in lebende Tiere. Bislang existieren keine spezifischen Vorgaben für derartige Experimente, was die Relevanz einer sorgfältigen ethischen Evaluierung sowie potenziell neuer regulatorischer Rahmenbedingungen unterstreicht. Gegenwärtig werden zudem spezifische Problematiken erörtert, die sich aus der Entwicklung von Bewusstsein und Schmerzwahrnehmung solcher Organoide in Gewebekulturen oder nach deren Transplantation in das Gehirn von Tieren ergeben könnten. Aufgrund der fehlenden Komplexität aktueller und wohl noch in näherer Zukunft erzeugbarer Hirnorganoide ist davon auszugehen, dass diese Probleme auf absehbare Zeit kaum relevant werden oder zu gesetzgeberischem Handlungsbedarf führen. In Bezug auf mögliche Transplantationen in vorgeburtliche Stadien – und der damit verbundenen Möglichkeit einer weitergehenden Entwicklung und funktionellen Integration menschlicher Zellen in das Tiergehirn – erscheint es dagegen ratsam, zu prüfen, ob die derzeitigen Vorschriften zur Beurteilung und Durchführung solcher Forschung ausreichen.
Literatur
Jürgen Knoblich, Camilla Bosone, Veronica Krenn, Segundo Guzman, Tom Wyatt, Thomas Burkard, Sunanjay Bajaj, Joshua Bagley, Benoit Sorre, Davide Castaldi, Christina Cheroni, Nicolo Caporale, Chong Li, Emanuele Villa, Giuseppe Testa (2024). A polarized FGF8 source specifies frontotemporal signatures in spatially oriented cell populations of cortical assembloids. Nature Methods, doi:10.1038/s41592-024-02412-5