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hyperthymestische Syndrom

    Das hyperthymestische Syndrom oder  Hypermnesie ist ein Begriff der Kognitionswissenschaft, wobei Personen mit hyperthymestischem Syndrom ihr Leben von Tag zu Tag nachzeichnen können, weil bei ihnen das episodische Gedächtnis besonders stark entwickelt ist, d.h., sie können sich in der Regel nur an das selbst Erlebte erinnern. Die Betroffenen verbringen ungewöhnlich viel Zeit damit, über ihre Vergangenheit nachzudenken, und haben eine außergewöhnliche Fähigkeit der Erinnerung an eigene Erlebnisse. Im Gegensatz zu Gedächtniskünstlern verwenden die Betroffenen keinerlei Gedächtnistechniken und ihre Fähigkeiten sind auch nicht kontrollierbar, sondern ihr Gedächtnis funktioniert ganz natürlich etwa wie eine Videokamera, die jede Sekunde des Lebens aufzeichnet. Oft erscheinen Bruchteile von Bildern und Stimmungen der Vergangenheit zwanghaft und unkontrollierbar, indem sie an äußere Auslöser anknüpfen. Dieses Phänomen wird im englischen Sprachbereich als highly superior autobiographical memory (HSAM) bezeichnet.

    Eine Studie hat gezeigt, dass die Gehirne dieser Menschen anatomisch anders strukturiert sind, denn Untersuchungen zeigen gewisse Unterschiede im Gehirn von Betroffenen im Vergleich zu anderen Menschen, etwa Veränderungen an der Amygdala und an jenen Arealen, die an der Verarbeitung und dem Erinnern von Emotionen beteiligt sind. Offenbar gibt es aber nicht eine einzige Region, die an diesem besonderen Gedächtnis beteiligt ist, und es ist auch nicht klar, ob die Menschen sich auf diese Weise erinnern, weil ihr Gehirn anders funktioniert, oder ob deren Gehirn sich erst in der Folge ihres speziellen Erinnerungsvermögens mit der Zeit so spezifisch entwickelt hat. Durch die Betonung des Emotionalen sind die Erinnerungen bei den Betroffenen ähnlich wie bei Menschen mit traumatischen Ereignissen, d. h., sie durchleben immer wieder Szenen aus ihrer Kindheit, die andere Menschen längst vergessen haben.

    Allerdings dürfte das Gehirn eine ausgefeilte Speicherstrategie entwickelt haben, denn  Vergessen bildet üblicherweise einen wesentlichen Aspekt des menschlichen Gedächtnisprozesses, denn kein biologischer Organismus wäre theoretisch überlebensfähig, wenn er nicht überzählige Information loswerden könnte. Welche Inhalte behalten und welche vergessen werden, hängt allerdings von vielen Faktoren außerhalb des eigentlichen Gedächtnisses ab, etwa vom Interesse oder der Emotionalität des Inhaltes. Das Vergessen wird von biologischen Systemen genau gesteuert, wodurch laufend Kapazitäten für andere kognitive Prozesse frei werden. So können Menschen mit ausgeprägt guten Gedächtnisleistungen oft weniger gut abstrahieren und sich nicht so leicht auf die genaue Bedeutung von Gesagtem konzentrieren. Das hyperthymestische Syndrom wirft für die Kognitionswissenschaft allerdings die Frage auf, ob das menschliche Gehirn prinzipiell nicht vielleicht doch alle Informationen speichert, man aber nur nicht in der Lage ist, diese abzurufen bzw. zu erinnern.

    Neurowissenschaftler der Universität Basel haben 2022 ein Gen entdeckt, das eine entscheidende Rolle beim Prozess des Vergessens spielt, wobei man das eben mit Hilfe von Menschen mit dem Hyperthymestischen Syndrom entdeckt hat. James McGaugh hatte DNA-Proben von sechzig HSAM-Probanden in den USA sichergestellt, wobei sich im Genom dieser Menschen mit dem Hyperthymestischen Syndrom eine Auffälligkeit eines ganz bestimmten Gens fand. Bekanntlich ist Vergessen keine Fehlleistung des Gehirns, sondern ein Prozess, der ständig abläuft, d. h., das Gehirn ist darauf angelegt zu vergessen, denn nur so kann das Gedächtnis die Balance zwischen Erinnern und Vergessen halten und funktionieren. Aber dieser Prozess des Vergessens verbraucht Energie, doch bei Menschen mit dem Hyperthymestischen Syndrom scheint das anders zu sein. Dieses noch nicht benannte Gen könnte jener molekulare Schalter sein, der den Prozess des Vergessens reguliert. Man vermutet, dass durch dieses spezielle Gen Proteine produziert werden, die bewirken, dass an den Synapsen im Gehirn Vergessen stattfinden kann bzw. es wird das automatisierte Vergessen bei den Betroffenen verhindert.

    James McGaugh (University of California, Irvine) fand eine Patientin mit einem hyperthymestischen Syndrom. Die 40-jährige Frau wird vom Forscher beispielsweise nach allen Osterfeiertagen seit 1980 gefragt. Binnen zehn Minuten schreibt die Patientin die Datumsangaben und ihre Erlebnisse an diesen Tagen nieder. Auch zwei Jahre später liefert sie identische Resultate. Ihre Erinnerungen sind sehr persönlich, also auf das eigene Leben und auf für sie interessante Erlebnisse bezogen. Allerdings tut sich die Patientin mit dem Auswendiglernen schwer und erbrachte auch in der Schule keine überdurchschnittlichen Leistungen. Ihr Leben mit diesem perfekten Gedächtnis beschreibt die Frau als „endlosen Film in meinem Kopf“. Sie hat ihr Leben in der Autobiografie „The Woman Who Can’t Forget“ beschrieben, doch tröstlich war die Aufarbeitung ihres ungewöhnlichen Lebens in Buchform jedoch nicht. In ihrem Buch schreibt sie schon auf der ersten Seite von der Tyrannei ihrer Fähigkeit, denn sie sieht sich als Gefangene ihres Gedächtnisses, weil sie keine Kontrolle darüber hat, welche Erlebnisse in ihrem Kopf auftauchen. Nicht einmal ihre Eltern hätten verstanden, wie es ist, ständig von Erinnerungen geplagt zu werden, und zwar auch von negativen Gefühlen, die bei anderen Menschen im Laufe der Jahre verblassen.

    Rebecca Sharrock, eine ebenfalls von diesem Syndrom Betroffene, schreibt selber Bücher über dieses Phänomen: ‚Streams of Memories‘ (Strom der Erinnerungen) und ‚My Life Is A Puzzle‘ (Mein Leben ist ein Rätsel).

    Die Schauspielerin und Produzentin Marilu Henner (Titanic, Two and a Half Men) kann sich an jede Szene, die sie jemals gedreht hat, bis heute noch genau erinnern und vergisst seit ihrem zwölften Lebensjahr keinen Moment ihres Lebens. 2012 veröffentlichte sie daher ein Buch mit dem Titel „Total Memory Makeover“. Ihr Gehirn funktioniert nach eigenen Angaben so ähnlich wie ein Inhaltsverzeichnis, das sie bewusst nutzt, um sich schöne Ereignisse ihres Lebens immer wieder in Erinnerung zu rufen. Sie betrachtet ihr Gedächtnis als eine Absicherung gegen den Verlust.


    Im übrigen ist es für Menschen gar nicht wünschenswert, sich an jedes Detail aus ihrem Leben zu erinnern, denn es ist auch wichtig, dass Menschen vergessen können, denn wenn man sich an sehr viel auf einmal erinnert, ist es oft schwer, Prioritäten zu setzen, denn man erinnert sich normalerweise nur an das, was für eine Entscheidung wichtig sein könnte.

    Vergessen ist daher als ein aktiver Prozess im Gehirn unbedingt notwendig, denn würde sich das menschliche Gehirn alles merken, sähe es darin aus wie in einer Rumpelkammer, so wie eben bei Menschen, die am Hyperthymestischen Syndrom leiden, denn diese können sich an jeden Tag ihres Lebens erinnern, und sind nicht in der Lage, diesen Prozess abzuschalten.


    Literatur

    Stangl, W. (2011). Neuropsychologische Gedächtnisstudien. [werner stangl]s arbeitsblätter].
    Neurocase, Vol. 12(1), pp 35-49. (11-02-21)
    https://www.boredpanda.com/woman-remember-every-day-rebecca-sharrock/ (17-20-30)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Marilu_Henner 89 (16-11-21)
    https://www.swr.de/wissen/odysso/auf-der-spur-des-vergessens-100.html (22-04-22)


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