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Parsimonitätsprinzip

    Das Parsimonitätsprinzip, auch bekannt als Ockhams Rasiermesser (Pluralitas non est ponenda sine necessitate), besagt, dass bei der Erklärung von Phänomenen oder der Entwicklung von Theorien die einfachste Erklärung oder Theorie bevorzugt werden sollte, die alle verfügbaren Daten und Fakten erklären kann. Mit anderen Worten, wenn es mehrere mögliche Erklärungen für ein Phänomen gibt, sollte diejenige bevorzugt werden, die die geringste Anzahl von Annahmen oder Entitäten beinhaltet.

    Manchmal findet man auch eine andere Version des Occamschen Rasiermessers: „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem“. Ähnliche Formen finden sich in den Schriften seines Lehrers Duns Scotus. Sogar Aristoteles sagt in der Physik (Buch I, Kapitel vi) Dinge wie „denn das Beschränktere, wenn es angemessen ist, ist immer vorzuziehen“. Oder in (Buch VIII, Kapitel vi): „Denn wenn die Folgen dieselben sind, ist es immer besser, die begrenztere Voraussetzung anzunehmen“. Eine Regel in Wissenschaft und Philosophie, die besagt, dass Entitäten nicht unnötig vervielfältigt werden sollten. Diese Regel wird dahingehend interpretiert, dass die einfachste von zwei oder mehr konkurrierenden Theorien vorzuziehen ist und dass eine Erklärung für unbekannte Phänomene zunächst mit dem versucht werden sollte, was bereits bekannt ist. Auch als Gesetz der Sparsamkeit bezeichnet.

    Das Parsimonitätsprinzip wird in vielen wissenschaftlichen Disziplinen angewendet, von der Physik und Chemie bis zur Biologie und Psychologie. Es hilft Forschern, unnötig komplexe oder spekulative Erklärungen zu vermeiden und sich auf diejenigen zu konzentrieren, die am besten mit den verfügbaren Beweisen übereinstimmen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass das Parsimonitätsprinzip ein Leitprinzip und kein strenges Gesetz ist und dass es in einigen Fällen notwendig sein kann, komplexe oder spekulative Erklärungen zu verwenden, um Phänomene zu erklären, die sonst nicht erklärbar wären. Dieses Prinzip liegt beinahe jeder wissenschaftlichen Modellierung und Theoriebildung zugrunde, denn es mahnt die Wissenschafter und Wissenschaftlerinnen, aus einer Reihe von ansonsten gleichwertigen Modellen eines bestimmten Phänomens das einfachste auszuwählen. In jedem Modell hilft also Occams Rasiermesser dabei, diejenigen Konzepte, Variablen oder Konstrukte wegzuschneiden, die zur Erklärung des Phänomens nicht wirklich erforderlich sind. Auf diese Weise wird die Entwicklung eines Modells viel einfacher, und es besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass Unstimmigkeiten, Mehrdeutigkeiten und Redundanzen eingeführt werden. Occams Rasiermesser ist besonders wichtig für universelle Modelle, wie sier etwa in der Allgemeinen Systemtheorie, in der Mathematik oder in der Philosophie entwickelt werden, weil dort der Gegenstandsbereich von unbegrenzter Komplexität ist. Wenn man von zu komplizierten Grundlagen für eine Theorie ausgeht, die potenziell das gesamte Universum umfasst, sind die Chancen auf ein handhabbares Modell sehr gering. Außerdem ist das Prinzip manchmal die einzige verbleibende Richtschnur, wenn man sich in Bereiche mit einem so hohen Abstraktionsgrad begibt, dass keine konkreten Tests oder Beobachtungen zwischen konkurrierenden Modellen entscheiden können.


    Allerdings quillt besonders die Psychologie von griffigen Eigennamen für kleinteiligste Phänomene über, wobei schon Walter Mischel (Marshmallow-Test) diesbezüglich vom toothbrush problem sprach, dass in der Psychologie es sich mit Theorien wie mit Zahnbürsten verhält: man würde niemals die von jemand anderem benutzen.

    Ein Beispiel aus der Psychologie: Eine der wesentlichen Erkenntnisse der psychologischen Forschung ist, dass die Informationsverarbeitung von Menschen häufig verzerrt ist. Inzwischen sind eine Reihe verschiedener Verzerrungen identifiziert und empirisch nachgewiesen worden. Leider wurden diese Voreingenommenheiten jedoch oft in getrennten Forschungslinien untersucht, so dass gemeinsame Prinzipien nicht erkannt werden konnten. Oeberst & Imhoff (2023) belegen in ihrer Übersichtsarbeit, dass mehrere – bisher meist nicht miteinander verbundene – Vorurteile wie bias blind spot, hostile media bias, egocentric/ethnocentric bias oder outcome bias auf die Kombination einer grundlegenden vorherigen Überzeugung und der menschlichen Tendenz zur glaubenskonsistenten Informationsverarbeitung zurückgeführt werden können. Was sich zwischen den verschiedenen Vorurteilen unterscheidet, ist im Wesentlichen die spezifische Überzeugung, die die Informationsverarbeitung leitet. Die Wisseschaftler schlagen in diesem Zusammenhang vor, dass verschiedene Vorurteile sogar dieselbe zugrundeliegende Überzeugung teilen und sich nur in dem spezifischen Ergebnis der Informationsverarbeitung unterscheiden, das bewertet wird (d. h. die abhängige Variable), und somit verschiedene Manifestationen derselben latenten Informationsverarbeitung anzapfen. Ein einziges Modell könnte demnach ausreichen, um mehrere verschiedene Verzerrungen zu erklären, woraus sich ein einfacherer Ansatz im Vergleich zu den derzeitigen theoretischen Erklärungen für diese Verzerrungen ergibt.


    Zur Person

    Wilhelm von Occam (oder Ockham), 1285-1349?), bekannt als Doctor Invincibilis (lateinisch, „unbezwingbarer Arzt“) und Venerabilis Inceptor (lateinisch, „würdiger Initiator“), englischer Philosoph und scholastischer Theologe, der als der größte Vertreter der nominalistischen Schule gilt, dem führenden Rivalen der thomistischen und schottischen Schule. Ockham wurde in Surrey, England, geboren. Er trat in den Franziskanerorden ein und studierte und lehrte von 1309 bis 1319 an der Universität von Oxford. Von Papst Johannes XXII. wegen gefährlicher Lehren denunziert, wurde er vier Jahre lang (1324-28) im päpstlichen Palast in Avignon, Frankreich, in Hausarrest gehalten, während die Rechtgläubigkeit seiner Schriften geprüft wurde. Nachdem er sich in einem Streit über die franziskanische Armut auf die Seite des franziskanischen Generals gegen den Papst gestellt hatte, floh Ockham 1328 nach München, um den Schutz des römischen Kaisers Ludwig IV. zu suchen, der die päpstliche Autorität in politischen Fragen abgelehnt hatte. Vom Papst exkommuniziert, schrieb Ockham gegen das Papsttum und verteidigte den Kaiser bis zu dessen Tod im Jahr 1347. Der Philosoph starb in München, offenbar an der Pest, während er eine Aussöhnung mit Papst Clemens VI. suchte.

    Ockham erlangte Berühmtheit als strenger Logiker, der mit Hilfe der Logik nachwies, dass viele Überzeugungen der christlichen Philosophen (z. B. dass Gott ein einziger, allmächtiger Schöpfer aller Dinge ist und dass die menschliche Seele unsterblich ist) nicht durch philosophische oder natürliche Vernunft, sondern nur durch göttliche Offenbarung bewiesen werden können. Occams Lehren markieren einen wichtigen Bruch mit der früheren mittelalterlichen Philosophie. Als Anhänger des Nominalismus lehnte er den aristotelischen Realismus des Thomas von Aquin ab und bestritt insbesondere die Existenz von Universalien, außer in den Köpfen und der Sprache der Menschen. Er bestritt die Selbstverständlichkeit der aristotelischen letzten Ursache und der Existenz Gottes und lehnte die Kompetenz der Vernunft in Glaubensfragen ab. Daher vertrat er die Ansicht, dass die Logik außerhalb des Bereichs der Metaphysik studiert werden kann, eine Position, die sich als wichtig für die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung erwies. In der Logik ist Occam für seine Anwendung des Grundsatzes der Parsimonie bekannt, der als „Occams Rasiermesser“ formuliert wurde und der Sparsamkeit bei der Erklärung mit dem Axiom „Es ist vergeblich, mit mehr zu tun, was mit weniger getan werden kann“ anordnete.

    Literatur

    Oeberst, Aileen & Imhoff, Roland (2023). Toward Parsimony in Bias Research: A Proposed Common Framework of Belief-Consistent Information Processing for a Set of Biases. Perspectives on Psychological Science, doi: 10.1177/17456916221148147.
    https://www.stangl-taller.at/paedpsych/INTERNET/ARBEITSBLAETTERORD/PHILOSOPHIEORD/Occam.html (98-03-12)


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