Neurodivergenz bzw. Neurodiversität oder neurologische Diversität ist kein medizinischer Fachbegriff, sondern der Neologismus wird in der Psychologie dafür verwendet, um Menschen zu beschreiben, die eine neurologische Abweichung oder Unterschiedlichkeit aufweisen. Dies kann sich auf verschiedene Bedingungen oder Zustände beziehen, wie etwa Autismus, ADHS, Dyslexie, Tourette-Syndrom, Legasthenie und andere. In diesem Begriff werden neurobiologische Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert, wobei atypische neurologische Entwicklungen werden als natürliche menschliche Unterschiede eingeordnet unter.
Neurodivergente Menschen weichen in ihrem Denken, Verhalten und Empfinden von der „Norm“ ab, die von der Gesellschaft als akzeptabel oder normal betrachtet wird. Oft haben sie Schwierigkeiten, sich an soziale Normen anzupassen oder auf bestimmte Arten zu kommunizieren, was zu Missverständnissen und Diskriminierung führen kann.
Es ist wichtig zu betonen, dass Neurodivergenz keine Krankheit oder Behinderung ist, sondern einfach eine andere Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert. Es gibt viele positive Aspekte von Neurodivergenz, wie z.B. eine einzigartige Art der Kreativität oder eine tiefere Konzentration auf bestimmte Themen. Es ist auch wichtig, die Bedürfnisse und Rechte von neurodivergenten Menschen anzuerkennen und zu respektieren, um eine inklusive und unterstützende Gesellschaft zu schaffen.
Neurodivergenz oder Neurodiversität bezieht sich auf die Idee, dass es viele verschiedene Arten von Gehirnen gibt, die alle auf einzigartige Weise funktionieren. Menschen mit neurodivergenten Gehirnen haben oft unterschiedliche Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wahrnehmungen als Menschen mit neurotypischen Gehirnen. Dies kann sich in verschiedenen Formen von neurodiversen Zuständen manifestieren, wie z.B. Autismus, ADHS, Dyslexie, Tourette-Syndrom, Schizophrenie und andere. Jemand, der unter Dyslexie leidet, kann etwa nicht deshalb schlechter lesen, weil er oder sie weniger intelligent ist, sondern weil das Gehirn Buchstaben anders erfasst und zu Worten zusammensetzt. Wenn man liest, denkt man bekanntlich nicht über jeden einzelnen Buchstaben nach, sondern man sieht ein Wort und das Gehirn erfasst diese insgesamt und setzt so die Buchstaben zu einem Wort zusammen.
Neurodivergente Menschen können auf laute Geräusche oder helles Licht intensiver reagieren und so größere Probleme haben, diese zu verarbeiten, d. h., teilweise liegt der Unterschied darin, wie Umweltreize gefiltert und registriert werden. So kann eine neurodivergente Person beispielsweise Probleme damit haben, einem Gespräch zu folgen, wenn neben diesem Gespräch noch andere Gespräche deutlich zu hören sind, weil das Gehirn nicht die anderen Gespräche ausblenden kann, sondern alle Reize gebündelt wahrnimmt. Menschen, bei denen dieser Wahrnehmungsfilter schwach ausgeprägt ist, sind unter anderem anfällig für Reizüberflutung oder haben Probleme damit, relevante Informationen bzw. Reize von irrelevanten zu unterscheiden.
Neurodivergenz ist also kein Fachbegriff, sondern es ist ein Begriff, der wertungsfrei beschreiben soll, dass das Gehirn mancher Menschen anders funktioniert was üblicherweise als normal angesehen wird. Wenn nämlich neurobiologische Unterschiede als Dispositionen unter anderen betrachtet werden, sind diese Phänomene Bestandteile menschlicher Vielfalt und keine Krankheiten. Neurodiversität ist auch der von manchen vertretene Ansatz, alle psychischen und neurologischen Zustände ganz undramatisch als normal zu sehen, d. h., es wird also nicht von außen gesagt, dass jemand krank oder gestört ist und sich ändern, geheilt werden oder an neurotypische Normen anpassen muss.
Neurodivergenz ist somit ein Begriff dafür, wenn dem Gehirn zugeschriebene Funktionen bei einer Person anders sind, als es den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, also ein Sammelbegriff dafür, wie Menschen auf verschiedenste Arten in Gefühlen, Wahrnehmung, Bedürfnissen und vielem mehr aus dem Rahmen fallen, der in der Gesellschaft als normal oder zu erwarten gilt. Viele neurodivergente Menschen erfüllen die Kriterien psychiatrischer oder neurologischer Diagnosen, aus einer neurodiversen Perspektive sind diese aber nicht das Wichtigste.
Damit stellt das Konzept der Neurodivergenz ein Paradigma der Psychologie infrage, und zwar mit gesellschaftspolitischen Folgen, denn es unterstützt einen Wandel, der sich in den letzten vierzig Jahren ereignet hat: Hinter Bürgerrechtsbewegungen, Frauenemanzipation und queeren Strömungen stehen Gruppen, die aufgrund biologischer oder anderer Merkmale marginalisiert und diskriminiert worden sind. Neurodiversität ist damit ein anderes Wort für Menschlichkeit, weil ein Mensch keine Diagnose ist, sondern ein Wesen mit Stärke, Bedürfnissen und Schwächen.
Neurodiverse Menschen besitzen oft außergewöhnliche Fähigkeiten wie Kreativität, unkonventionelles Denken, Detailgenauigkeit, Spezialinteressen mit tiefem Fachwissen, schnelle Wissensaufnahme und -abruf sowie tiefe Empathie. Um ihr Potenzial voll zu entfalten, benötigen sie häufig angepasste Arbeitsbedingungen. Drei Hauptbereiche stellen für neurodiverse Menschen besondere Herausforderungen dar:
- Wahrnehmungsunterschiede: Sie nehmen Sinneseindrücke und äußere Reize oft intensiver und anders wahr, was zu Über- oder Unterstimulation führen kann.
- Unterschiedliche Wissensverarbeitung: Die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, insbesondere bei sprachlichen und mathematischen Konzepten, kann anders ablaufen. Auch die Art der Kommunikation (mündlich oder schriftlich) kann Herausforderungen darstellen.
- Beziehungsgestaltung: Soziale Interaktionen und das Verstehen ungeschriebener sozialer Regeln können schwierig sein. Viele neurodiverse Menschen entwickeln Maskierungsstrategien, um sich anzupassen, was jedoch zu zusätzlichem Stress führt.
Diese Unterschiede können dazu führen, dass neurodiverse Menschen oft autonomes und abgeschiedenes Arbeiten bevorzugen, um ihre beste Leistung zu erbringen und Stigmatisierung zu vermeiden. Ein Verständnis für diese Besonderheiten ist daher wichtig, um eine inklusive Arbeitsumgebung zu schaffen, die das volle Potenzial neurodiverser Mitarbeiter nutzt.
Ein Beispiel für Neurodiversität zeigt eine Untersuchung der Geschlechtsunterschiede bei der Gehirngröße schon vor der Geburt, denn eine Studie hat mithilfe von MRT-Scans die Gehirne von über 500 Neugeborenen untersucht und signifikante Geschlechtsunterschiede in der Gehirnstruktur bereits in den ersten Lebenstagen festgestellt. Dabei wurde herausgefunden, dass männliche Säuglinge im Durchschnitt ein größeres Gehirnvolumen als weibliche besitzen. Nach Berücksichtigung der Gesamthirngröße zeigen weibliche Gehirne jedoch eine höhere Konzentration an grauer Substanz, die aus Nervenzellkörpern und Dendriten besteht und entscheidend für Wahrnehmung, Lernen, Sprache und Gedächtnis ist. Insbesondere ist die graue Substanz bei Mädchen in Arealen vermehrt, die mit Erinnerungsvermögen und emotionaler Regulation in Verbindung stehen. Männliche Gehirne weisen hingegen mehr weiße Substanz auf, die aus Axonen besteht und Hirnareale verbindet, um die Informationsweiterleitung zu beschleunigen. Bei Jungen sind die Regionen, die für die Koordination von Bewegungen und sensorische Wahrnehmung verantwortlich sind, stärker ausgeprägt. Die festgestellten Unterschiede entwickeln sich bereits im Mutterleib und die Unterschiede im Gehirnvolumen zwischen Jungen und Mädchen bleiben auch nach Berücksichtigung des Geburtsgewichts bestehen. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei den Unterschieden um Durchschnittswerte handelt, die nicht für jedes Individuum gelten, sondern ein Beispiel für Neurodiversität darstellen und zum Verständnis neurodiverser Entwicklungen wie Autismus beitragen könnten.
Neurodiversität zwischen Akzeptanz und Herausforderung einer neuen Normalität
Das Konzept der Neurodiversität hat in den letzten Jahren sowohl in sozialen Medien als auch in gesellschaftlichen Debatten erheblich an Sichtbarkeit gewonnen. Es stellt die grundlegende Annahme infrage, dass neurologische Abweichungen per se pathologisch oder behandlungsbedürftig seien. Stattdessen propagiert Neurodiversität, dass Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen, lernen und interagieren, Teil einer natürlichen menschlichen Vielfalt sind – und somit weder falsch noch krankhaft. Der Ursprung dieses Konzepts liegt in den 1990er-Jahren und geht auf die australische Soziologin Judy Singer sowie den US-amerikanischen Journalisten Harvey Blume zurück. Beide entwickelten den Begriff, um neurologische Unterschiede nicht länger zu stigmatisieren, sondern als gleichwertige Spielarten menschlicher Existenz zu begreifen. Die Idee, dass jedes Gehirn einzigartig ist, wird durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt, denn so verweisen zahlreiche Untersuchungen auf die enorme Komplexität des menschlichen Gehirns mit seinen etwa 86 Milliarden Nervenzellen und zahllosen neuronalen Verknüpfungen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass es kaum zwei identisch funktionierende Gehirne geben kann. In dieser Perspektive ist neurodivergentes Denken nicht defizitär, sondern lediglich ein Ausdruck dieser natürlichen Vielfalt. Menschen, die unter den Begriff „neurodivergent“ fallen, weisen dabei Unterschiede im kognitiven und sozialen Verhalten auf, die häufig mit Diagnosen wie Autismus, ADHS, Tourette-Syndrom, Hochbegabung oder Bipolarität in Verbindung stehen. Ein zentrales Anliegen der Neurodiversitätsbewegung ist die Entstigmatisierung dieser Unterschiede. Betroffene Menschen sollen sich nicht länger als „gestört“ oder „behindert“ fühlen müssen, sondern gesellschaftlich akzeptiert und unterstützt werden – auch wenn sie in ihrem Alltag mit Herausforderungen konfrontiert sind, etwa durch gesellschaftliche Normen oder strukturelle Barrieren in Schule und Beruf. Die Bewegung plädiert daher nicht nur für individuelle Anerkennung, sondern auch für systemische Veränderungen, etwa in Bildungsinstitutionen oder im Arbeitsumfeld, damit sich mehr Menschen mit ihren unterschiedlichen Denk- und Lernweisen zurechtfinden können. Allerdings bleibt das Konzept der Neurodiversität nicht ohne Kritik. Besonders aus medizinischer Perspektive wird hinterfragt, ob der Begriff nicht zu einer Verharmlosung ernstzunehmender Beeinträchtigungen führen könnte, denn nicht wenige warnen davor, dass das medizinisch notwendige Instrumentarium zur Diagnose und Behandlung schwerer Ausprägungen etwa von Autismus oder ADHS durch eine zu breite Anwendung des Begriffs verwässert werden könnte. Zudem verweist man darauf, dass bestehende gesetzliche Definitionen bestimmter neurologischer Zustände als Behinderungen eine wichtige Grundlage für Hilfe und Schutz darstellen – etwa beim Anspruch auf Nachteilsausgleiche im Bildungswesen oder bei der Beantragung eines Schwerbehindertenausweises.
Es sollte nicht übersehen werden, dass medizinische Diagnosen weiterhin notwendig bleiben – insbesondere für Menschen, die durch ihre neurodivergente Wahrnehmung belastet sind. Gleichzeitig kritisiert er, dass die derzeitigen Unterstützungsmaßnahmen oft unzureichend seien. Der Anspruch auf verlängerte Prüfungszeiten beispielsweise helfe betroffenen Studierenden mit ADHS nur bedingt, wenn bereits die Standardprüfung eine Überforderung darstellt. Vielmehr müsse die Gesellschaft insgesamt ein differenzierteres Verständnis für neurologische Vielfalt entwickeln. Zwar leistet das Konzept der Neurodiversität einen wichtigen Beitrag zur Inklusionsdebatte, indem es neurobiologische Unterschiede als gleichwertige Ausdrucksformen menschlicher Existenz anerkennt. doch e fordert vor allem dazu auf, gesellschaftliche Strukturen so zu verändern, dass sie für eine größere Bandbreite an Denk- und Lernweisen offen sind. Dennoch ist Wachsamkeit geboten, damit die berechtigte Forderung nach Akzeptanz nicht zu einer Bagatellisierung echter Beeinträchtigungen führt. Neurodiversität bedeutet nicht, dass medizinische Hilfe obsolet wird – vielmehr geht es um die gleichzeitige Anerkennung von Verschiedenheit und Unterstützungsbedarf.
Literatur
Khan, Y. T., Tsompanidis, A., Radecki, M. A., Dorfschmidt, L., Adhya, D., Ayeung, B., … & Baron-Cohen, S. (2024). Sex Differences in Human Brain Structure at Birth. Biology of Sex Differences, 15, 81.
Stangl, W. (2025, 1. März). Geschlechtsunterschiede bei der Gehirngröße schon vor der Geburt. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5646/geschlechtsunterschiede-bei-der-gehirngroesse-schon-vor-der-geburt.
https://nibi.space/neurodivergenz (23-04-25)