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Szenisches Verstehen

    Mit dem szenischen Verstehen bezeichnet man die von Alfred Lorenzer in der therapeutischen Psychoanalyse entwickelte Methode eines tiefenhermeneutischen Interpretierens der Erzählungen der Patientin oder des Patienten, deren latenter Sinn über die Wirkung ihrer Worte auf das Unbewusste des Analytikers erschlossen wird. Alfred Lorenzer fragte sich, wie das bloße Sprechen in der therapeutischen Situation körperliche Symptome beeinflussen, Leiden mildern und sogar Krankheiten heilen kann. Er verknüpfte in seinem eigenen theoretischen Ansatz Psychoanalyse und Soziologie, wobei er in der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse sein Konzept des Szenischen Verstehens prägte. In diesem nimmt der Analytiker am szenischen Spiel des Patienten selbst teil, denn nicht das Verstehen bildet das Zusammenspiel, sondern die Wirklichkeit des szenischen Zusammenspiels konstituiert das Verstehen.

    Es wird beim szenischen Verstehen angenommen, dass der erzählte Text eine Lebenspraxis objektiviert, deren Bedeutung sich in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet. Im Zuge der symbolischen Verständigung über Bedürfnisse, Erwartungen und Regeln werden jedoch Wünsche, Ängste und Phantasien unterdrückt, die unvereinbar sind mit den in dieser Lebenspraxis in Anspruch genommenen Moralvorstellungen. Die sich als sozial anstößig erweisenden Lebensentwürfe widersetzen sich der bewussten Selbstkontrolle der Akteure, indem sie sich hinter dem Rücken des Bewusstseins verhaltenswirksam durchsetzen.

    Da die auf eine latente Bedeutungsebene dieser Lebenspraxis verbannten Lebensentwürfe aus der sprachlichen Selbstverfügung der Akteure ausgeschlossen sind, lassen sich diese dann nur dadurch erschließen, dass Forscherin und Forscher das Interaktionsgefüge der im Text arrangierten Lebenspraxis in seiner sinnlich-bildhaften Gestalt erfassen und es auf das eigene Erleben wirken lassen. Das Erfassen der auf eine latente Bedeutungsebene verbannten Lebensentwürfe wird dadurch erleichtert, dass die Forschenden den verborgenen Sinn der im Text objektivierten Lebenspraxis in einer Gruppe von Interpreten rekonstruieren, in der man über eigene emotionale Reaktionen und sich daraus ergebende Lesarten so lange diskutiert, bis sich aus den verschiedenen Verstehenszugängen eine nachvollziehbare und plausible Deutung des Textes konstruieren lässt.

    Literatur

    Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
    Lorenzer, A. (1986). Tiefenhermeneutische Kulturanalyse (S. 11-98). In H. D. König, Lorenzer, A. et. al., Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer.
    http://www.tiefenhermeneutik.org/glossar/szenisches-verstehen/ (19-11-11)


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