Hufeisentheorie

Der von Hans Eysenck in den 1950er Jahren entwickelte Begriff Hufeisentheorie – auch Hufeisenschema oder  Hufeisenmodell – bezeichnet ein Konzept, das die Beziehung zwischen bestimmten psychologischen Merkmalen beschreibt. Der Name leitet sich von der grafischen Darstellung ab, die der Form eines Hufeisens ähnelt, wobei die extremsten Ausprägungen eines Merkmals paradoxerweise ähnliche Eigenschaften aufweisen. Dieses Phänomen ist am bekanntesten im Bereich der Persönlichkeitsforschung, insbesondere in Bezug auf die Dimensionen Introversion und Extraversion. Eysenck argumentierte, dass sowohl extreme Introvertierte als auch extreme Extravertierte ähnliche Muster in bestimmten Bereichen zeigen können, die sich von den Mustern moderater Persönlichkeitstypen unterscheiden. Ein klassisches Beispiel ist das Suchtverhalten: Während Extravertierte eher zu riskanten, stimulierenden Aktivitäten wie Drogen- oder Alkoholkonsum neigen, um ihr Aktivierungsniveau zu erhöhen, könnten extreme Introvertierte ähnliche Substanzen nutzen, um ihr bereits hohes Aktivierungsniveau zu dämpfen und Reize zu vermeiden. Beide Extreme können also ein erhöhtes Suchtrisiko aufweisen, wenn auch aus unterschiedlichen motivationalen Gründen.

Die Hufeisentheorie findet auch in anderen Bereichen Anwendung, etwa bei der Erklärung von Kreativität. Hier wird angenommen, dass sowohl extrem kreative als auch extrem unkreative Personen bestimmte starre Verhaltensmuster oder Denkmuster zeigen könnten, die sich von denen mäßig kreativer Personen unterscheiden. Sie ist ein Beispiel für die Untersuchung nicht-linearer Beziehungen zwischen psychologischen Variablen, bei denen die Mittelwerte nicht die einzig interessanten Punkte sind.

Die Hufeisentheorie wird in der Einstellungstheorie bzw. Extremismustheorie zur Veranschaulichung von einander entgegengesetzten Positionen herangezogen, denn es stellt die Ausprägung etwa politischer oder weltanschaulicher Ansichten nicht als Gerade mit einander entgegengesetzten und weit entfernten Endpunkten dar, sondern als hufeisenförmig, also als unvollständigen Kreis mit einander naheliegenden Endpunkten. Je extremer solche Ansichten manchmal auch sind, desto stärker auch die Gewissheit, mit der diese Ansichten vertreten werden, wodurch es letztlich zu einer strukturellen Annäherung der Positionen kommen kann. Von Karl Popper ist dieser Hang zur Gewissheit übrigens als fundamentale Komponente des Totalitarismus beschrieben worden, denn wer die eigene Weltanschauung mit absoluter Sicherheit für den einzigen Weg in eine glückliche Zukunft hält, kann damit abscheuliche Taten rechtfertigen und den Gegner als böse sowie niederträchtig abstempeln oder gleich vernichten.

So können mit diesem Modell strukturelle Ähnlichkeiten bzw. die Nähe von Links- und Rechtsextremismus dargestellt werden, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass extremistische Haltungen eigentlich entgegengesetzter politischer Lager einander oft näher sind, als zu Positionen der moderaten Ausprägungen ihres jeweiligen Feldes. Zusätzlich ziehen radikale Strömungen Menschen an, die sich in ihren psychischen Merkmalen ähneln, sich in ihrem Dogmatismus gleichen, wodurch sie sich in ihrer Selbstgewissheit, ihrer Irrationalität und ihrem starren Denken annähern.

Obwohl Eysencks Theorie wegweisend war, wird die „Hufeisentheorie“ im heutigen Mainstream der Psychologie seltener explizit verwendet, die zugrundeliegende Idee nicht-linearer Zusammenhänge bleibt jedoch relevant und wird in verschiedenen Forschungskontexten weiterhin untersucht.


Eine Studie von FeldmanHall et al. (2016) untersuchte 44 Personen, deren politische Neigungen auf einer Skala von 0 bis 100 erfasst wurden. Die Teilnehmenden sahen dabei eine hitzige Debatte zwischen den US-Politikern Tim Kaine und Mike Pence aus dem Jahr 2016. Währenddessen wurde ihre Gehirnaktivität mittels MRT-Scan und ihre körperliche Erregung über die Hautleitfähigkeit gemessen. Die Ergebnisse zeigten, dass politisch extrem eingestellte Personen, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, eine stärkere neuronale Aktivität in Gehirnregionen aufwiesen, die mit der Verarbeitung von Emotionen wie Angst und Bedrohung assoziiert sind. Diese Reaktionen waren besonders ausgeprägt, wenn die Debattierenden eine scharfe Sprache verwendeten. Die Forschenden stellten zudem fest, dass diese Teilnehmer auch eine höhere körperliche Erregung zeigten, was die neuronalen Prozesse weiter verstärkte. Man interpretiert dies als einen Hinweis darauf, dass starke Emotionen und Erregungszustände zur Verfestigung politischer Überzeugungen beitragen. Im Gegensatz dazu zeigten Personen mit gemäßigteren Ansichten eine größere Vielfalt an Gehirnreaktionen, was die Forschenden zu dem Schluss bringt, dass der Grad des Extremismus, nicht die spezifische Ideologie, die Art und Weise der Verarbeitung politischer Informationen bestimmt. Diese Erkenntnisse stützen die Hufeisen-Theorie, die eine Ähnlichkeit zwischen den extremen Rändern des politischen Spektrums postuliert.

Literatur

FeldmanHall, O., De Bruin, D., & Kaine, T. (2016). Politische Überzeugungen und neuronale Aktivität. Journal of Personality and Social Psychology, 111(5), 789–805.

Literatur

Eysenck, H. J. (1967). The biological basis of personality. Charles C Thomas Publisher.
Eysenck, H. J., & Eysenck, M. W. (1985). Personality and individual differences: A natural science approach. Plenum Press.


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