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dissoziative Identitätsstörung

    Eine dissoziative Identitätsstörung bzw. dissoziative Persönlichkeitsstörung ist eine seltene Form einer dissoziativen Störung, bei der eine Person zwei oder mehr voneinander unterscheidbare und einander abwechselnde Persönlichkeiten zeigt. Früher bezeichnet als multiple Persönlichkeitsstörung und im alltäglichen Sprachgebrauch als gespaltene Persönlichkeit. Siehe auch Dissoziation. Wenn ein Mensch früh ein schweres Trauma erlebt, kann sich seine Persönlichkeit in verschiedene Teile aufspalten, etwa wenn jemand schwersten und wiederholten Erfahrungen von Gewalt ausgesetzt war. Die dissoziative Identitätsstörung ist dabei eine Abspaltung von Wahrnehmen und Bewusstsein von einem als unerträglich empfundenen Hier und Jetzt. Grundsätzlich ist das Gehirn aller Menschen in der Lage, zu dissoziieren, doch bei Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung hat sich dieser Zustand manifestiert. Kinder sind besonders anfällig, da die Identität vor dem sechsten Lebensjahr noch nicht vollständig ausgebildet ist, wobei für diese die Spaltung der Persönlichkeit eine Schutzfunktion darstellen kann, um das Leid auf mehrere Schultern zu verteilen, d. h., psychisch zu überleben.

    Für die meisten Menschen bilden die eigenen Gedanken, Gefühle und Erinnerungen eine Einheit – also deren Identität, wobei dieses Gefühl von Identität eine Leistung des Gehirns darstellt. Im Laufe der ersten Lebensjahre baut das Gehirn aus den genetischen Anlagen und Erfahrungen mit der Umwelt ein Grundgerüst der Persönlichkeit auf, das sich in Form eines Kontinuums mit jeder weiteren Erfahrung anpasst. In der Hauptsache basiert die Identität auf dem autobiografischen Gedächtnis, sodass man weiß, wer man ist, weil man Erinnerungen an seine Vergangenheit besitzt. Bei wenigen Menschen funktioniert diese Zuordnung von Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen zu einem einheitlichen Ich nicht, sodass deren Identität in viele Persönlichkeitsanteile zerfällt, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen, jeweils mit einem eigenen Namen, Geschlecht und Alter. Oft unterschieden sich auch die Stimmen, Gesten und Mimiken der verschiedenen Persönlichkeitsanteile deutlich, wobei diese Anteile sogar einen individuellen Puls, Blutdruck und eigene Allergien besitzen können. Im Rahmen der dissoziativen Identitätsstörung werden sogar Fälle beschrieben, bei denen die einzelnen Persönlichkeiten verschiedene körperliche Krankheiten hatten, die aber verschwinden, wenn die andere Persönlichkeit übernimmt. Die einzelnen Persönlichkeiten können übrigens kontrastierend variieren, d. h., sie stehen in einem antagonistischen Verhältnis zu einem anderen Selbst der Betroffenen. Ist etwa dieses ursprünglich eher schüchtern und zurückhaltend, agiert die anderen Persönlichkeit sehr selbstbewusst und dominant.

    Früher verwendete man für diese psychische Erkrankung den Begriff der multiplen Persönlichkeitsstörung, der in der Zwischenzeit vom Begriff der dissoziativen Identitätsstörung abgelöst wurde, da zum einen eine wirkliche Kernpersönlichkeit bei den Betroffenen nicht vorhanden ist, und zum anderen die Dissoziation das markanteste Kennzeichen darstellt, wobei Dissoziation das Gegenteil von Assoziation bedeutet, also ein Trennen und Auflösen. Pierre Janet erkannte im 19. Jahrhundert, dass es sich bei dieser Persönlichkeitsstörung um eine mangelnde Integration der Lebenserfahrungen handelt, wobei zusammen erlebte Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen unabhängig und isoliert voneinander im Gehirn abgespeichert werden. Das Problem der „gespaltenen“ oder „multiplen Persönlichkeit“ war in den Jahren von 1840 bis 1880 eines der von Psychiatern und Philosophen häufig diskutierten Themen. Janet prägte den Begriff der Dissoziation als Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins und beschrieb das bis heute gültiges Diathese-Stress-Modell, die Aufnahme in die psychiatrischen Manuale erfolgte erstmals 1980 in das DSM III, 1991 auch in die ICD-10). Der ursprüngliche Begriff der multiplen Persönlichkeit hat verschiedene Umbenennungen erfahren; inzwischen hat sich aber die Bezeichnung der dissoziativen Identitätsstörung  durchgesetzt. In der Definition im internationalen ICD-Katalogist dabei auch nicht von verschiedenen Persönlichkeiten die Rede, sondern von mindestens zwei verschiedenen Persönlichkeitszuständen eines Menschen. Bei einem Wechsel zwischen diesen Persönlichkeitszuständen verändern sich demnach die Wahrnehmung und das Identitätserleben, wobei auch ein Gedächtnisverlust auftreten kann. Betroffene nehmen sich also selbst als jeweils andere Persönlichkeit wahr und verhalten sich auch anders, wobei die Erinnerung an eine Handlung getrübt oder nicht mehr vorhanden sein kann, wenn diese in einem anderen Persönlichkeitszustand ausgeführt worden war.

    Die dissoziative Persönlichkeitsstörung wird auf Grund der Symptomatik häufig mit der Schizophrenie verwechselt wird, was daran liegt, dass bei beiden Erkrankungen oft Stimmen gehört werden, doch während das bei der Schizophrenie Halluzinationen darstellen die Stimmen irrationale Aussagen machen, sind es bei dissoziativen Persönlichkeitsstörung die Stimmen der anderen Teilpersönlichkeiten, die meist ansprechbar und rational nachvollziehbar sind. Viele Betroffene weisen gleichzeitig eine posttraumatische Belastungsstörung auf, da beiden Erkrankungen traumatische Erfahrungen zugrunde liegen können. Eine Hypothese ist, dass der Organismus die Dissoziation in bestimmten Situationen als Schutz bzw. Notfallplan nutzt, und zwar besonders dann, wenn eine Erfahrung unerträglich ist, sodass der Betroffene diese traumatische Erinnerung ausblendet und vorübergehend besser mit ihr umgehen kann.

    Manche Menschen mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung haben in frühester Kindheit traumatisierende Erfahrungen gemacht, oft schon vor dem fünften Lebensjahr, wobei es sich um massive Vernachlässigung oder lang anhaltende sexuelle und körperlicher Gewalt gehandelt haben kann, oft auch innerhalb der Familie. Bei solchen Erfahrungen werden belastende Alltagserlebnisse in Komponenten aufgespalten, um das Leben überhaupt ertragen zu können. Solche Menschen entwickeln daher keine zusammenhängenden und kohärenten biografischen Erinnerungen, die die Grundlage für die Identität bilden, sondern nach und nach bilden sich Teilpersönlichkeiten aus, die je nach Situation die Kontrolle übernehmen, wobei jede für sich nur beschränkten Zugang zu den Erinnerungen hat und daher nur einen Teil der Belastung tragen muss. Den Persönlichkeitszuständen bei einer Dissoziativen Identitätsstörung lässt sich oft ein anderes Alter zuordnen, d. h., eine Frau von fünfzig Jahren kann zum Identitätserleben eines 17-jährigen Jugendlichen oder eines Kindes wechseln. Die Erinnerung an eine Missbrauchserfahrung in der Kindheit kann dann bei dem jüngeren Teil der Persönlichkeit vorhanden und bei dem älteren unterdrückt sein. Wie häufig ein Wechsel des Zustandes stattfindet, ist jeweils unterschiedlich, und auch die Trennung zwischen den Persönlichkeitszuständen kann unterschiedlich stark ausfallen. In einigen Fällen gibt es eine Art Co-Bewusstsein, das bedeutet, die Persönlichkeitszustände stehen im Austausch miteinander und die Betroffenen wissen in jedem Zustand, dass es diesen anderen gibt. In manchen Fällen sind sie aber völlig abgespalten, und zwar so sehr, dass Handlungen, die in einem Persönlichkeitszustand ausgeführt werden, von einem anderen nicht oder nur unvollständig erinnert werden kann. Oft werden den Persönlichkeitszuständen auch Namen zugeordnet, wobei es sich um Namen handeln kann, die die Täter bei ihren Misshandlungen gewählt haben. So können Täter sogar versuchen, Persönlichkeitsspaltung bei ihren Opfern bewusst herbeizuführen (siehe Gaslighting), denn Opfer mit gespaltener Identität haben nur bruchstückhafte Erinnerungen, und es ist später schwierig, über das Geschehene auszusagen und vor Gericht als Zeugen ernst genommen zu werden.

    Kritiker der dissoziativen Identitätsstörung behaupteten, dass Therapeuten ihren Patientinnen und Patienten die Störung eingeredet hätten, oder dass die Zustände bewusst gespielt seien, und nicht wirklich erlebt würden. Inzwischen gibt es einige Untersuchungen, die zeigen, dass in den verschiedenen Persönlichkeitszuständen tatsächlich andere neuronale Netzwerke aktiv sind. Dennoch gibt es aber tatsächlich auch falsch positive Diagnosen, d. h., Patienten oder Patientinnen, die von der Krankheit gehört haben und sich bewusst so verhalten, als seien sie betroffen. Ein wichtiger Unterschied zu echten Betroffenen ist, dass diese die dissoziative Identitätsstörung Zustände normalerweise nicht zur Schau tragen und deshalb im Alltag gar nicht immer als psychisch Kranke auffallen. Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung schämen sich oft dafür und versuchen, diese zu verbergen, wobei sie oft eine hohe Anpassungsfähigkeit zeigen. Nicht selten wird eine echte dissoziative Identitätsstörung nicht gleich erkannt, denn wenn etwa Betroffene Wahrnehmungsstörungen haben und Stimmen hören, wird bei vielen von ihnen zunächst eine Schizophrenie vermutet, und diese werden dann mit Neuroleptika behandelt, antipsychotischen Medikamenten, die aber bei einer dissoziativen Identitätsstörung nicht wirksam sind. Medikamente können zwar auch bei einer dissoziativen Identitätsstörung unterstützend eingesetzt werden, vor allem angstlösende oder schlaffördernde Mittel, doch sind meist Verfahren der Traumatherapie anzuwenden, um die verschiedenen inneren Zustände in Einklang zu bringen. Ist zum Beispiel ein Teil der Persönlichkeit ein traumatisiertes Kind geblieben, dann helfen die Behandelnden dem Patienten oder der Patientin dabei, diesen Teil in das Hier und Jetzt zu holen, um die innere Spaltung aufzuheben. In einer Therapie bemüht man sich dann darum, die einzelnen Persönlichkeitsanteile einander näher zu bringen und zu integrieren, sodass eine Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen beginnen kann. Menschen mit einer dissoziative Identitätsstörung leiden außerdem meist an weiteren Krankheiten, die behandelt werden müssen, wie etwa Ess-, Zwangs- oder Angststörungen. In diesem Fall sind unter anderem auch Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen sowie das Lernen von Selbstfürsorge Teil eines Therapiekonzepts – siehe dazu den Kommentar: Drei Schritte zu mehr Selbstfürsorge.

    Literatur

    Habich, I. (2022). Gespaltene Persönlichkeit: Gibt es das wirklich?
    WWW: https://www.rnd.de/gesundheit/psychologie-gespaltene-persoenlichkeit-gibt-es-das-wirklich-AU4SHTDSNFGABHVUWYN3YCXAIM.html (22-02-05)
    http://www.welt.de/gesundheit/article13720582/Wenn-ein-Mensch-zum-Schutz-viele-Ichs-entwickelt.html (11-11-17)


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    Ein Gedanke zu „dissoziative Identitätsstörung“

    1. Drei Schritte zu mehr Selbstfürsorge

      Suchen Sie dazu einen durchschnittlichen Tag der vergangenen Woche.
      Erster Schritt: Fragen Sie sich selbst: Wie haben Sie sich an diesem Tag behandelt? Was haben Sie zu sich selbst gesagt? Waren Sie in der Lage, sich selbst wohlwollend zu behandeln? Oder waren Sie hart, wütend, ungeduldig mit sich selbst? Beobachten Sie, ohne zu urteilen. Wenn Sie feststellen, dass Sie in der Situation nur ein wenig Mitgefühl für sich selbst aufbringen konnten, befinden Sie sich in guter Gesellschaft: So geht es den allermeisten Menschen.
      Zweiter Schritt: Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn Sie diese Situation nicht selbst erlebt hätten, sondern wenn jemand, der Ihnen nahe steht, in einer sehr ähnlichen Situation gewesen wäre: Wie würden Sie emotional reagieren, wenn Ihr Kind, Ihr Partner, Ihr bester Freund oder ein naher Verwandter etwas Ähnliches beschrieben hätte? Was würden Sie fühlen? Welche mitfühlenden Gesten oder Worte würden Sie ihm oder ihr spontan geben wollen? Was würden Sie am liebsten tun oder sagen, wenn Sie die andere Person, die Ihnen wichtig ist, in dieser Lage sehen würden? Spüren Sie das Mitgefühl und die Fürsorge, die Sie für diese Person empfinden. Wenn Sie mehr Mitgefühl und Fürsorge für die Person in dieser Situation empfinden als für sich selbst, dann geht es Ihnen wie den meisten Menschen: Es fällt uns oft leichter, anderen gegenüber mitfühlend zu sein, als uns selbst gegenüber.
      Dritter Schritt: Spüren Sie noch einmal deutlich das Gefühl des guten Willens und des Mitgefühls, das Sie für die andere Person aufgebracht haben. Wenn Sie können, konzentrieren Sie sich noch mehr darauf, verstärken Sie es. Wenn Sie diesen inneren Zustand der Fürsorge bewusst spüren, versuchen Sie jetzt, die wohltuenden Gefühle auf sich selbst zu lenken. Auch wenn es paradox klingt: Wenn Sie die Qualität der Fürsorge spüren, kommt das sofort auch Ihnen selbst zugute.

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