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Pseudoneglect

    Als Pseudoneglect bezeichnet man die Tendenz von Menschen, die Aufmerksamkeit eher nach links als nach rechts zu lenken. Beim Pseudoneglect handelt es sich um eine optische Wahrnehmungsverschiebung, die dazu führt, dass man beim Sehen Dinge, die man mit dem linken Auge sieht, dominant in das Bild, das man wahrnimmt, eingearbeitet werden. Das führt letztlich dazu, dass Menschen minimal schief sehen.

    Neurologisch gesunde Erwachsene neigen nach einer Übersichtsarbeit von Friedrich et al. (2018) dazu, bei visuell-räumlichen Aufgaben eine zuverlässige linksgerichtete Wahrnehmungsverzerrung zu zeigen. In einer systematischen Übersichtsarbeit wurde dabei die verfügbare Forschung zu Pseudoneglect im späten Erwachsenenalter zusammenzufasst und der Zusammenhang zwischen Alter und einer Ausrichtung auf die linke Hemisphäre diskutiert. Die systematische Suche ergab, dass fünf verschiedene Aufgaben verwendet wurden, um Pseudoneglect bei jüngeren und älteren Erwachsenen zu untersuchen, und dass Teilnehmer über 60 Jahre inkonsistente Wahrnehmungsverzerrungen zeigten, etwa verstärkte Verzerrung nach links, unterdrückte Verzerrung nach links und Verzerrung nach rechts. Auf der Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse konnten zwar einige altersbedingte Tendenzen in der Wahrnehmungsverzerrung innerhalb der einzelnen Aufgaben festgestellt werden, doch lassen sich keine eindeutigen Schlussfolgerungen über die Auswirkungen des Alters auf die Pseudoneglektivität ziehen.

    Archäologen haben jüngst bei jungsteinzeitlichen Siedllungen gezeigt, dass diese minimale Verschiebung auch beim Bau neuer Häuser zu finden ist, liegen diese doch genau in jenem Bereich, der notwendig ist um die Häuser in ihrer optischen Wahrnehmung symmetrisch erscheinen zu lassen. Müller-Scheeßel et al. (2020) haben gezeigt, dass lokale Unterschiede in der Ausrichtung von Häusern in Siedlungen des frühen Neolithikums in Mitteleuropa einen regelmäßigen chronologischen Verlauf widerspiegeln, wobei diese Drehung gegen den Uhrzeigersinn pro Siedlung ein allgemeiner mitteleuropäischer Trend sein dürfte. Die ForscherInnen erklären diese Beobachtung mit einer unbeabsichtigten, unbewussten, aber systematischen Linksabweichung in der Himmelsrichtung der Bauherren, also als Folge des Pseudoneglect. Das bedeutet, dass immer dann, wenn die Häuser in eine bestimmte Richtung und parallel zueinander ausgerichtet werden sollten, ein minimaler Wahrnehmungsfehler auftrat, der eine leichte Drehung gegen den Uhrzeigersinn verursachte. Siedlungen haben sich bei einer Weiterentwicklung deshalb mit der Zeit minimal im Uhrzeigersinn gedreht, sahen aber für die damaligen BewohnerInnen ordentlich strukturiert und symmetrisch aus.

    Pseudoneglect tritt sowohl bei Rechts- als auch bei Linkshändern auf, wobei die Präferenz für die linke Seite bei Rechtshändern aber etwas stärker ausgeprägt ist. Analog zum Menschen konnte auch speziesübergreifend bei zwei verschiedenen Vogelarten, und zwar Tauben und Hühnern, eine Tendenz zur linksseitigen Aufmerksamkeitsverlagerung gezeigt werden, sodass man dahinter einen grundlegenden Mechanismus in der Asymmetrie neuraler Verarbeitung vermutet. Der Begriff leitet sich übrigens vom visuellen Neglect ab, einer Aufmerksamkeitsstörung in Form der Vernachlässigung einer Raum- bzw. Körperhälfte (egozentrisch) und/oder Objekthälften (allozentrisch), also eine auf das Sehen bezogene besondere Form eines Neglects.

    Literatur

    Friedrich, Trista E., Hunter, Paulette V. & Elias, Lorin J. (2018). The Trajectory of Pseudoneglect in Adults: A Systematic Review. Neuropsychology review, 28, 436-452.
    Müller-Scheeßel, Nils, Müller, Johannes, Cheben, Ivan, Mainusch, Wiebke, Rassmann, Knut, Rabbel, Wolfgang, Corradini, Erica & Furholt, Martin (2020). A new approach to the temporal significance of house orientations in European Early Neolithic settlements. Public Library of Science, 15, doi:10.1371/journal.pone.0226082.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudoneglect (17-11-12)


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