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Physiognomik

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Als Physiognomik bezeichnet man die Versuche, aus dem physiologischen Äußeren des Körpers, besonders des Gesichts, auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen, insbesondere dessen Persönlichkeit bzw. Temperament, zu schließen. Ausgangspunkt der Physiognomik ist die fälschlich Aristoteles zugeschriebene Schrift Physiognomika aus dem zweiten Jahrhundert, die nur an aristotelische Gedanken anknüpft und auf peripatetischen Schriften beruht. In dieser dienten Tierköpfe mit charakteristischen Parallelen zur menschlichen Gesichtsformen als Ansätze, wobei sich auch Leonardo da Vinci damit beschäftigt und Skizzen hinterlassen hat. Neuzeitliche Ausweitung erfuhr die Physiognomik vor allem durch Johann Caspar Lavater mit den Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe.

    Im wissenschaftlichen Sinne erhielt die Physiognomik ihre Ausformung durch C. G. Carus (Symbolik der menschlichen Gestalt), durch Darwin (Über den Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren), durch Duchenne (Physiologie der Bewegungen) und Piderit (Mimik und Physiognomik). Nachdem sie seit der Antike als Geheimwissen zirkulierte und im Zeitalter der Aufklärung zu einer populärwissenschaftlichen Blüte kam, wurde sie im 19. und 20. Jahrhundert als wissenschaftlicher Unterbau für Rassismus und Eugenik herangezogen.

    In der Psychologie versteht man unter Physiognomik ganz allgemein die Lehre von der Signatur der Dinge und damit das Erschließen innerer Zusammenhänge, etwa der Wesensart aus äußeren Erscheinungen wie Form und Gestalt. Die Physiognomik ist ein Teilgebiet der Ausdruckspsychologie und hat eine lange Geschichte, die vor allem mit den Bemühungen zusammenhängt, Beziehungen zwischen dem Körperbau und dem Charakter herzustellen, wie es u. a. die Forschungen von Kretschmer und Sheldon belegen (Körperbautypen).

    Auch aktuell gibt es weiterhin weiterhin Versuche, statistische Beziehungen zwischen physiologischen Merkmalen und Charakterzügen herzustellen, wobei diese Methoden auch in der Personalberatung eingesetzt werden. Werner Sarges sagte dazu: „Die Suche nach einem Geheimsystem, mit dem man den Charakter eines Menschen sofort erkennen kann, lässt sich leider nicht ausrotten“. Neuerdings versuchen privatwirtschaftliche sowie staatliche Akteure, Menschen anhand physiognomischer Merkmale zu kategorisieren, wobei neue Analysemethoden wie die computergesteuerte Gesichtserkennung zum Einsatz kommen. In einem einschlägigen Lehrbuch findet man dann folgende Formulierung: „Die Psycho-Physiognomik bietet die Möglichkeit, schnell festzustellen, wie weit das Anforderungsprofil einer Firma und das Persönlichkeitsprofil eines Bewerbers übereinstimmen. Anhand der Gesichtsmerkmale und deren Ausprägungen erkennt der Physiognomiker die Charaktereigenschaften und Talente einer Person“. Hier etwa die wichtigsten Gesichtsmerkmale:

    • An der Stirnregion wird die Beobachtungs- und Auffassungsfähigkeit erkennbar.
    • Kleine Augen deuten auf einen logischen Verstand. Große runde Augen hingegen lassen auf ein intuitives Gefühlsleben schließen.
    • Die Stellung der Ohren sagt etwas über die Konfrontationsbereitschaft aus. Anliegende Ohren weisen auf ein Harmoniebedürfnis hin. Abstehende Ohren zeugen von Kritikfähigkeit.
    • Je prägnanter die Nase eines Menschen ist, desto konsequenter und individueller werden seine Handlungen sein. Eine große Nase steht für Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis und selbstdarstellerische Fähigkeiten.
    • Schmale Lippen stehen für Idealismus und Güte im Umgang mit Menschen. Üppige Lippen sprechen für Kontaktfreude, Kraftbewusstsein und Sinnlichkeit.
    • Das Kinn ist ein Merkmal für Willenskraft und Festigkeit.

    Cesare Lombroso, der im 19. Jahrhundert die kriminalanthropologisch ausgerichtete Kriminologie begründete, vertrat die These, dass die Gesichtsmerkmale eines Mannes auf seine kriminelle Veranlagung schließen lassen. Solche spekulativen Annahmen zur Physiognomie gerieten später zu Recht in Misskredit, doch im letzten Jahrzehnt haben neuere wissenschaftliche Erkenntnisse der Verhaltensendokrinologie, eine Disziplin, die den Zusammenhang zwischen Hormonen und Verhalten untersucht, neue Impulse gesetzt. Einzelne Befunde erweckten dabei den Verdacht, dass Testosteron in der Pubertät sowohl die Entwicklung neuronaler Schaltkreise im Gehirn als auch das Breitenwachstum der Gesichtsknochen prägt. Man vermutetet daher, dass wenn ein hoher Testosteronspiegel in der Jugend die Entwicklung sowohl aggressiv-dominanter Persönlichkeitszüge begünstigt als auch die Gesichtsbreite, dann müsste sich das eine an dem anderen ablesen lassen. Man parametrisierten dabei die Gesichtsbreite als horizontale Distanz zwischen linkem und rechtem Wangenknochen relativ zur Gesichtshöhe gemessen als vertikaler Abstand von Nasenwurzel zum oberem Lippenrand, womit ein Maß definiert wurde, das von der reinen Größe des Gesichts unabhängig ist. In der Folgezeit wurden zahlreiche Studien publiziert, die rein korrelativ zeigten, dass Männer mit relativ hohem Gesichtsbreitenwert von sich selbst und anderen als aggressiver und dominanter eingeschätzt werden, häufiger lügen und betrügen, im Sport auf Grund von Fouls vermehrt Strafen erhalten, in gewaltsamen Auseinandersetzungen weniger häufig unterliegen und im Staat Florida sogar häufiger zum Tode verurteilt werden.

    Windmann et al. (2021) haben nun die Korrelation von Gesichtsbreite und Aggressivität genauer untersucht, wobei in einer Reihe von Experimenten die Perspektive auf das Phänomen gewechselt wurde, indem nicht mehr die mehr oder minder breiten Gesichter von mehr oder minder aggressiven Persönlichkeiten vermessen wurden, sondern umgekehrt Beobachter gebeten wurden, Gesichtsformen gemäß einer Persönlichkeitsbeschreibung zu generieren. Dadurch wollte man erheben, ob Beobachter die Gesichtsbreite als Signal für soziale Bedrohung und Dominanz nutzen. Probanden und Probandinnen wurden gebeten, das Bild eines aggressiv-dominanten Mannes im Vergleich zu einem friedfertig-unterwürfigen Mann entweder frei zu zeichnen, aus einer Auswahl von vorgegebenen Gesichtsmerkmalen verschiedener Größe und Form zusammenzusetzen oder durch Veränderung einer neutralen Vorlage am Computer zu photoshoppen. Die Resultate schienen zunächst das bekannte Muster zu bestätigen, denn die gezeichneten und die foto-editierten Gesichter wiesen für aggressive Männer im Mittel eine breitere Wangenpartie als friedliebende Männer, doch nur bei den Zusammensetzungen fand sich dieser Zusammenhang nicht. Auffällig war allerdings, dass die breiteren Gesichter häufig einen ärgerlichen, wütenden Gesichtsausdruck zeigten, wobei vor allem die Augenbrauen in der Mitte nach unten gezogen waren, wodurch sich das Höhenmaß änderte und damit der genutzte Parameter. In einer weiteren Studie forderte man die Probanden und Probandinnen deshalb auf, die Gesichter als Pokerface, also völlig emotionslos, darzustellen, worauf sich das Verhältnis von Gesichtsbreite zu –höhe reduzierte. Weitere Untersuchungen bestätigten, dass die Verbindung zwischen Gesichtsform und Persönlichkeit so gut wie vollständig von der dargestellten Zustandsemotion abhing, wobei nicht die Breite, sondern die Höhe des Gesichts entscheidend war. Man kann daher davon ausgehen, dass die knochenbasierte Gesichtsbreite in der Vorstellungswelt keine nennenswerte Bedeutung für den Schluss auf die Persönlichkeit hat, sondern überzeugender scheint die Annahme, dass eine geringe Gesichtshöhe mit Zustandsemotionen wie Ärger und Wut verwechselt und dann mit Aggressivität und Dominanz gleichgesetzt wird, und zwar sowohl in der Vorstellung als auch in der Wirklichkeit. Allerdings kann die konsistente Unterstellung von aggressiven Charakterzügen durch Beobachter im Endeffekt dieselbe Wirkung haben wie der ursprünglich vermutete testosteronvermittelte Zusammenhang. Allerdings kann sich auf die Dauer bei Menschen die Unterstellung durch andere, dass man bei tiefer stehenden Augenbrauen ein höheres Aggressivitätspotenzial besitzt, insofern auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken.

    Literatur

    Windmann, S., Steinbrück, L., & Stier, P. (2021). Overgeneralizing Emotions: Facial Width-To-Height Revisited. Emotion, doi:10.31234/osf.io/r84hb.
    https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/physiognomik (17-08-12)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Physiognomik (17-08-12)
    https://heiden-associates.com/dat/Gesichtsdiagnose.pdf (20-06-08)


    Übrigens: Es gibt auch amüsante Versuche in Richtung Physiognomik – ein Zufallsfund auf Facebook:


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