Notizen anfertigen und digitale Speicherung haben das menschliche Gedächtnis für die Codierung und den Abruf von Informationen in der modernen Ära weitgehend ersetzt, begleitet von einem entsprechenden Rückgang der Betonung des Auswendiglernens in der westlichen Ausbildung. In der Ausbildung von Gesundheitsfachkräften gibt es jedoch nach wie vor einen großen Korpus an Informationen, für den das Auswendiglernen das effizienteste Mittel ist, um sicherzustellen, dass der Auszubildende die benötigten Informationen sofort zur Verfügung hat, und dass ein Wissensfundament gelegt wird, auf dem der medizinische Auszubildende während der Weiterbildung mehrere, komplexe Schichten von Detailinformationen aufbauen kann. Eine wichtige Methode im westlichen Kulturkreis ist dabei die Gedankenpalastmethode, die etwa von MedizinstudentInnen häufig eingesetzt wird, wenn es darum geht, lange Listen sicher zu erlernen. Eine weitere Form dieser Gedankenpalast-Methode bzw. Loci-Methode findet sich auch in älteren Kulturen wie die der australischen Aborigines, allerdings in etwas anderer Form als im westlichen Kulturkreis. Jeder Clan besitzt seine eigenen etablierten Geschichten, die lebenswichtiges kulturelles Wissen enthalten und weitergeben, etwa Gesetze, persönliche Rechte und Pflichten, Landnutzung, astronomische und Navigationsinformationen.
Man bezeichnet diese Gechichten als Songlines oder Traumpfade (dreaming track), die bei den Aborigines eine unsichtbare, mythische Landkarte Australiens ergeben, die durch Gesang von Generation zu Generation weitergetragen wird und die Grundlage der Wanderungen der australischen Urbevölkerung sind. Die Pfade der Songlines werden in traditionellen Liederzyklen, Geschichten, Tänzen und Kunst aufgezeichnet und sind oft die Grundlage von Zeremonien, sind daher ein wichtiger Teil der Kultur der Aborigines und verbinden die Menschen mit ihrem Land. Manche Songlines verlaufen daher durch von den Aborigines verehrten Orte mit von ihnen angebrachten Felszeichnungen, wobei heute diese Landkarte von der Zivilisation durch Baumaßnahmen oft so stark verändert wird, dass die kulturellen Wurzeln der Urbevölkerung zerstört werden und für immer verloren gehen.
Solche Songlines weisen auch über mehrere Generationen hinweg kaum Veränderungen auf, d. h., diese können mündlich, durch Tänze, durch Malereien und Petroglyphen oder durch eine Kombination aus all diesen Methoden ausgedrückt werden. Ist eine Information nicht Teil der Songline-Tradition, ist es üblich, eine Geschichte zu konstruieren, die Aspekte der Flora, der Fauna und der physischen Geografie der lokalen Gegend einbezieht. Auf diese Weise können auch äußerst komplexe Informationen weitergegeben und über lange Zeit erhalten werden. Diese Geschichten sind meist sehr persönlich, dadurch anpassungsfähig und können leicht konstruiert oder geändert werden, um neue Informationen aufzunehmen. Benachbarte Clans sind oft miteinander verbunden, weil sich die Song-Zyklen über den ganzen Kontinent kreuzen, wobei alle Aborigines-Gruppen traditionell den Glauben an die Ahnen und die damit verbundenen Gesetze teilen, wobei Menschen aus verschiedenen Gruppen miteinander aufgrund ihrer Verpflichtungen entlang der Songlines interagierten. Übrigens können sich mit einer ähnlichen Methode auch die nordamerikanischen Navajos bis zu siebenhundert Insekten nach ihrem Aussehen, Lebensraum und Verhalten einprägen, die Mangyans auf den Philippinen weit über tausendfünfhundert verschiedene Pflanzen erkennen.
Im Rahmen des Rural Health Curriculums und des Undergraduate Nutrition and Dietetics Programms an der Monash University Faculty of Medicine, Nursing, and Health Sciences testeten Reser et al. (2021) diese australischen Aborigines-Techniken des Auswendiglernens für den Erwerb und den Abruf von neuen Wortlisten durch Medizinstudenten im ersten Jahr. Außerdem untersuchte man die Bewertungen der Studenten über die Verwendung der australischen Aboriginen-Gedächtnistechnik Songlines für das Studium von grundlegendem biomedizinischem Wissen im Unterricht. Dabei wurden qualitative und quantitative Analysemethoden verwendet, die sich auf Blooms Taxonomie für Denk- und Lernordnungen stützen. Erwerb und Abruf von Wortlisten wurden ohne Gedächtnistraining oder nach einem Training entweder in der Gedankenpalast-Technik oder der Erzähltechnik der australischen Aborigines bewertet. Es zeigte sich, dass beide Arten des Gedächtnistrainings die Anzahl der korrekt abgerufenen Items verbesserten und die Häufigkeit spezifischer Fehlertypen im Vergleich zur untrainierten Leistung reduzierten. Die australische Aborigine-Methode führte zu einer etwa dreifach höheren Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung des korrekten Abrufs der gesamten Wortliste im Vergleich zur Gedankenpalast-Technik oder keinem Training bei den Studenten, die zu Beginn nicht alle Listenelemente korrekt abrufen konnten. Die Reaktionen der Studenten auf das Erlernen der Gedächtnistechnik der australischen Ureinwohner im Rahmen der biomedizinischen Ausbildung waren überwältigend positiv, und die Studenten empfanden sowohl das Training als auch die Technik als angenehm, interessant und nützlicher als Auswendiglernen. Diese Daten weisen auch darauf hin, dass diese Methode einen echten Nutzen und eine Wirksamkeit für das Studium der biomedizinischen Wissenschaften und in den Grundjahren der medizinischen Ausbildung besitzt.
Literatur
Reser, David, Simmons, Margaret, Johns, Esther, Ghaly, Andrew, Quayle, Michelle, Dordevic, Aimee L., Tare, Marianne, McArdle, Adelle, Willems, Julie & Yunkaporta, Tyson (2021). Australian Aboriginal techniques for memorization: Translation into a medical and allied health education setting. Public Library of Science, 16, doi:10.1371/journal.pone.0251710.