Social distancing bzw. räumliche Distanzierung, räumliche Trennung oder physische Distanzierung,ist nicht zu verwechseln mit dem Konzept der sozialen Distanz in der Psychologie, die die subjektiv erlebte Entfernung zu einer Person oder Gruppe bezeichnet. Social distancing bedeutet hingegen eine Reihe von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zur Infektionskontrolle, die die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit stoppen oder verlangsamen sollen. Die Maßnahmen bezwecken, den Kontakt zwischen Menschen zu verringern und so die Anzahl von Infektionen, etwa durch Tröpfcheninfektionen, zu verringern. Dabei geht es nicht um eine soziale Isolation von Individuen, sondern um die räumliche Distanzierung von möglicherweise infizierten zu nicht infizierten Menschen.
Social distancing über einen längeren Zeitraum bringt eine Belastungssituation mit sich, die sich bei nicht wenigen Menschen auch auf die Psyche auswirkt. Das größte Problem besteht oft darin, dass man nicht weiß, wie lange man sozial distanziert leben muss, denn soziale Distanzierung beschneidet zahlreiche menschliche Grundbedürfnisse. Menschen als soziale Wesen benötigen Kontakt, brauchen Beziehungen und das Gefühl eingebunden zu sein in eine Gemeinschaft. Ist der Zeitraum klar umrissen, kann man sich darauf einstellen, doch Unsicherheit über die Dauer einer solchen Phase ist extrem unangenehm und daher ein Zustand, den man meiden und reduzieren möchte. Aus Sicht der Psychologie ist es daher wichtig zu lernen, mit Ungewissheit zu leben, statt nach Sicherheiten zu suchen, die es in manchen Fällen etwa in Bezug auf Epidemien oder Pandemien nicht gibt.
Tomova et al. (2020) haben die Folgen untersucht, wenn Menschen gezwungen sind, sich voneinander zu isolieren. In einem Experiment mit funktioneller Magnetresonanztomographie wurden die neuronalen Reaktionen nach zehn Stunden Fastens oder völliger sozialer Isolation auf Nahrung und soziale Signale gemessen. Nach der Zeit der Entbehrung zeigte man ihnen Fotos von ihrem Lieblingsessen, von gemeinschaftlichen Aktivitäten und neutrale Bilder als Kontrollbedingung. Nach der Isolation fühlten sich die Menschen einsam und sehnten sich nach sozialer Interaktion, wobei die Mittelhirnareale nach dem Fasten und nach der Isolation eine erhöhte Aktivierung auf Essenssignale und auf soziale Signale zeigten. Diese Reaktionen korrelierten dabei mit dem selbstberichteten Verlangen. Neuronale Muster als Reaktion auf Essenssignale, wenn die Teilnehmer hungrig waren, verallgemeinerten sich nach der Isolation offenbar auch auf soziale Signale. Offenbar verursacht soziale Isolation soziales Verlangen ähnlich wie Hunger, sodass Sozialkontakte vermutlich ein menschliches Grundbedürfnis wie Nahrungsaufnahme darstellt. Die Probanden und Probandinnen fühlten sich übrigens einsam, obwohl sie wussten, dass die Isolation zeitlich begrenzt bleiben wird. Man kann auch vermuten, dass soziale Isolation durch Belohnungen anderer Art kompensiert werden dürften, also vermehrte Nahrungsaufnahme.
Da Menschen in Krisensituationen wie einer zwangsweisen Quarantäne einerseits viele Informationen verarbeiten und gleichzeitig ihre Emotionen regulieren müssen, kann das bei manchen zu psychischen Belastungen führen, im Extremfalls sogar zu Stress. Zwar ist Information in einer solchen Zwangslage ein Schlüsselbedürfnis, denn Menschen in Quarantäne wollen ihre Situation verstehen können, doch andererseits kann eine Fülle an Informationen den Einzelnen überfordern und Angst erzeugen. Daher sind längere Phasen des social distancing mit zahlreichen Nebenwirkungen verbunden, die von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen über akute Erschöpfungszustände, emotionale Instabilität, verringerte Konzentrationsfähigkeit, bis hin zu Angst und Schlaflosigkeit reichen können. Nicht zuletzt können Menschen durch inadäquate Kompensationsmuster, die sie während einer solchen Krise entwickeln, wie Alkoholkonsum oder andere Substanzen langfristig Schaden nehmen.
Wichtig ist für die Betroffenen ist es, mit Menschen, Freunden oder der Familie über technische Hilfsmittel oder Briefe in Kontakt zu bleiben, denn das lenkt ab, wobei Ablenkung eines der wichtigsten Mittel darstellt, gedanklich nicht ständig um die eigene Situation kreisen zu müssen. Dabei sollte man allerdings sensibel sein für die Gereiztheit der anderen, die ja nur ein Ausdruck für Sorgen und Ängste ist. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit oder soziale Isolation belasten besonders dann, wenn solche Maßnahmen unfreiwillig sind, doch nur wer zu dem Schluss kommt, dass diese Maßnahmen im eigenen Interesse und im Interesse einer Gemeinschaft als Ganzes passieren, wird das als nicht so belastend empfinden. Wenn man daher eine solche Situation als kontrollierbar und vorhersehbar erlebt, dann macht sie weniger Probleme als wenn man nicht versteht, was los ist, und es nichts gibt, was man in diser Lage tun kann.
Eine durch medizinische oder andere Erfordernisse angeordnete räumliche Distanzierung unterscheidet sich dabei grundlegend von Fernbeziehungen, bei denen es sich um eine Partnerschaft von Menschen handelt, deren räumliche Lebensmittelpunkte nicht gleich beziehungsweise in unmittelbarer Nähe zueinander sind. Hierbei ergibt sich die Problematik, dass die zur Aufrechterhaltung einer Beziehung typischen Merkmale des Austauschs von Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen für bestimmte Zeiträume erschwert möglich sind. Durch die Ausbreitung des Internets und seiner globalen Kommunikationsmöglichkeiten entstehen übrigens immer mehr Fernbeziehungen, in denen die Partner so weit voneinander entfernt wohnen, dass sich deren gemeinsame Zeit auf wenige Tage pro Jahr reduziert.
Literatur
Stangl, W. (2018). Stichwort: ‚soziale Distanz‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/6725/soziale-distanz/ (18-04-04)
Tomova, Livia, Wang, Kimberly, Thompson, Todd, Matthews, Gillian, Takahashi, Atsushi, Tye, Kay & Saxe, Rebecca (2020). The need to connect: Acute social isolation causes neural craving responses similar to hunger. Nature Neuroscience, doi:10.1101/2020.03.25.006643.
https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%A4umliche_Distanzierung (18-04-04)