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Abrufhemmung

    Eine Abrufhemmung – retrieval inhibition – ist wohl ein Spezialfall einer ekphorischen Hemmung – und bedeutet im Bezug auf Erinnerungen, dass der Zugriff auf abgespeicherte Episoden zumindest vorübergehend unterbunden ist, ohne dass diese Inhalte dabei jedoch aus dem Gedächtnis gelöscht wären. Daher wird episodisches Vergessen meist auf Abrufhemmungen zurückgeführt und weniger als echtes Vergessen. Typisches Beispiel ist, wenn man versucht, sich an den Namen einer vertrauten Person zu erinnern, doch obwohl der Name auf der Zunge liegt, will er partout nicht einfallen. Erst wenn man seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwendet, springt dieser scheinbar mühelos über die Bewusstseinsschwelle. Man vermutet, dass in der Abrufhemmung auch eine Erklärung der Freudschen Verdrängung begründet ist, d. h., Verdrängung ist demnach nichts anderes als eine Abrufhemmung für emotional bedrohliche Erinnerungen.

    John & Aslan (2019) haben in einem Experiment mit Grundschülern gezeigt, dass vermeintliche Gedächtnisstützen die Erinnerung an zuvor Gelerntes durcheinanderbringen können, wobei die Studie zeigte, dass die Beeinträchtigung bei Grundschülern noch gravierender sein kann als bei Erwachsenen, weil sie weniger systematisch lernen. Würden SchülerInnen gefragt, ob sie bei einem Vokabeltest bereits die Hälfte der Wörter vorgegeben haben möchten, würden wahrscheinlich die wenigsten Nein sagen, doch das wäre nur eine vermeintliche Hilfe, denn wird ein Teil einer zuvor auswendig gelernten Liste im Test bereits vorgegeben, führt das entgegen der Erwartungen zum Vergessen der restlichen Begriffe. Die Probanden erinnern sich an mehr, wenn keine dieser vermeintlichen Erinnerungshilfen gegeben werden. Der nachteilige Effekt auf die Gedächtnisleistung bei Erwachsenen wird dabei durch zwei unterschiedliche kognitive Prozesse verursacht und zwar abhängig davon, wie gut im Vorfeld gelernt wurde. Wurde die Vokabelliste nur einmal gelernt, werden die einzelnen Wörter noch wenig zusammenhängend im Gedächtnis gespeichert. Die Vorgabe eines Teils der Vokabeln beim Test hat dann zur Folge, dass ein aktiver Hemmungsprozess ausgelöst wird, der den Abruf der eigentlich zu erinnernden restlichen Vokabeln aus dem Gedächtnis verhindert, die Abrufhemmung. Dieser Effekt wirkte langfristig, denn bei einem neuerlichem Test, in dem keine Vokabeln mehr vorgegeben wurden, war die Gedächtnisleistung weiterhin beeinträchtigt. Gibt es jedoch die Möglichkeit, die Wörter beim Lernen mehrfach anzuschauen und zwischendurch den Lernstand zu überprüfen, werden die Vokabeln eng miteinander verbunden und in einer festen Reihenfolge im Gedächtnis gespeichert. Die vorgegebenen Vokabeln stören dann lediglich diesen vorgefertigten Abrufplan und führen zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung durch eine Strategiestörung (strategy disruption). Die Beeinträchtigung ist aber nur von kurzer Dauer, weil die Vokabeln wieder in der zuvor gelernten Reihenfolge erinnert werden, wenn keine Informationen mehr vorgegeben werden.

    Jüngere Kinder hingegen lernen offenbar nicht strategisch genug, wobei diese in Situationen, in denen sie die Gelegenheit zum mehrfachen Lernen bekommen, die Informationen kaum in einer festen Abrufreihenfolge organisieren. Bei jüngeren Kindern hat also die Vorgabe von Informationen womöglich auch dann eine dauerhafte nachteilige Auswirkung auf die Gedächtnisleistung der Kinder, wenn sie wiederholt gelernt werden. Man ließ zur Überprüfung Zweit-, Viert- und Siebtklässler eine Liste mit verschiedenen Begriffen entweder nur einmal oder aber mehrfach lernen. In beiden Lerngruppen wurde in einem ersten Test überprüft, ob sich die Vorgabe einiger Begriffe beim Test nachteilig auf die Erinnerungsleistung für die verbleibenden Begriffe auswirkt. In einem zweiten daran anschließenden Test wurde dann überprüft, ob der nachteilige Effekt dauerhaft oder vorübergehend ist, wenn keine Begriffe mehr vorgegeben werden. Wurde nur einmal gelernt, kam es in allen Altersgruppen zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung, die auch dann noch zu finden war, wenn im zweiten Test keine Begriffe mehr vorgegeben wurden. Wurde mehrfach gelernt, führten die Hinweise zunächst ebenfalls in allen Altersgruppen zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung, aber nur die Siebtklässler konnten sich im finalen Test von dieser Beeinträchtigung erholen. Bei den Grundschülern hingegen kam es zu dauerhaftem Vergessen. Diese Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass es bei den älteren Kindern zu einem kurzfristigen Strategiestörungsprozess kommt, der bei den jüngeren Kindern noch nicht zum Tragen kommt. Weil Grundschulkinder noch wenig systematisch lernen, hat die Vorgabe von bereits gelernten Informationen vermutlich gravierendere Folgen für die Gedächtnisleistung und führt auch nach wiederholtem Lernen zu dauerhaftem Vergessen.

    Literatur

    John, Thomas & Aslan, Alp (2019). Age differences in the persistence of part-list cuing impairment: The role of retrieval inhibition and strategy disruption. Journal of Experimental Child Psychology, 191, doi:10.1016/j.jecp.2019.104746.
    Pressemitteilung der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg vom 10. März 2020.


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