Zum Inhalt springen

Big God-Hypothese

    Die erfolgreichsten Religionen haben eines gemeinsam: moralisierende Götter, die sich darum kümmern, wie Menschen miteinander umgehen und diejenigen bestrafen, die egoistisch oder grausam sind. Aber für den größten Teil der Menschheitsgeschichte waren diese „großen Götter“ die Ausnahme, denn die Vorfahren des heutigen Menschen haben Jahrtausende lang Gottheiten als völlig gleichgültig gegenüber dem menschlichen Handeln empfunden, und zwar dahingehend, ob Menschen sich gut oder schlecht verhalten haben. Durch die Kombination von Laborexperimenten, interkultureller Feldarbeit und der Analyse historischer Aufzeichnungen vermuten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun, dass ein Glaube an urteilende und strafende Gottheiten der Schlüssel für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Menschen war, was letztlich für den Aufbau und die Aufrechterhaltung großer, komplexer menschlicher Gesellschaften erforderlich ist. Denn sobald es große Götter und große Gesellschaften gab, halfen diese moralisierenden Götter der verschiedensten Religionen, sich weiter zu verbreiten, indem sie Gruppen von Gläubigen kooperativer und damit erfolgreicher machten. Kritisch anzumerken ist dabei allerdings, dass man bei einer solchen Analyse unter Umständen moderne Werte und historisch bedingte Ansätze auf alte Kulturen projiziert. Möglicherweise ist auch die Entwicklung eines Glaubens und die Moralisierung von Gottheiten ein Nebenprodukt anderer paralleler sozialer Veränderungen.

    Die Big God-Hypothese besagt demnach, dass es strenge, moralisierende Götter geben muss, damit sich überhaupt Hochkulturen entwickeln können. Während etwa die Sozietäten der Jäger und Sammler so klein waren, dass unmoralisches Verhalten vor anderen Gruppenmitgliedern nicht geheim bleiben konnte, gab es diese Kontrolle in größeren und daher anonymen Gesellschaften nicht mehr. Gewissermaßen als Ersatz für die Sanktionierung durch die Gruppe muss es daher starke Götter geben, die diese moralische Sanktionen übernehmen, etwa in Form eines schlechten Gewissens bei der Übertretung von Regeln der Gemeinschaft. Obwohl schon frühere Forschungen einen solchen Zusammenhang zwischen der Anwesenheit moralisierender Götter und sozialer Komplexität von Gesellschaftssystemen nahegelegt haben, ist die Beziehung zwischen den beiden umstritten, und Versuche, gar eine Kausalität zu ermitteln, wurden durch das Fehlen globaler Daten erschwert. Die Ursprünge von Religion und das Entstehen komplexer Gesellschaften stellen daher noch immer evolutionäre Rätsel dar, wobei die Hypothese der moralisierenden Götter eine Lösung für beide Rätsel anbietet, da sie annimmt, dass sich der Glaube an moralisch übernatürliche Akteure wie starke Götter kulturell deshalb weiterentwickelt hat, um das Zusammenleben in Großgesellschaften zu erleichtern.

    Whitehouse et al. (2019) sammelten nun Datensätze von 414 Gesellschaften, die sich über die letzten zehntausend Jahre aus dreißig Regionen auf der ganzen Welt erstreckten, Messungen ihrer sozialen Komplexität und Messungen der übernatürlichen Durchsetzung der Moral. Die Analyse der Daten erbrachte aber keine eindeutige Bestätigung dieser Hypothese, denn ein starker Gott als sozialer Kitt bildete sich in den meisten Gesellschaften erst dann heraus, wenn eine Kultur die Schwelle zur komplexen Gesellschaft mit mehr als einer Million Menschen schon überschritten hatte. Moralisierende Götter gingen also nicht dem Entstehen komplexer Gesellschaften voraus, sondern sie traten erst rund hundert Jahre später auf. Man vermutet deshalb, dass starke Götter dem sozialen Zusammenhalt dienten, um komplexe wie etwa multiethnische Gesellschaften auf Dauer zusammenzuhalten.

    Literatur

    Atkinsona, Quentin D., Lathamband, Andrew J. Watts, Joseph (2015). Are Big Gods a big deal in the emergence of big groups? Religion, Brain & Behavior, 5/4, 266–342.
    Whitehouse, Harvey, François, Pieter, Savage, Patrick E., Currie, Thomas E., Feeney, Kevin C., Cioni, Enrico, Purcell, Rosalind, Ross, Robert M., Larson, Jennifer, Baines, John, ter Haar, Barend, Covey, Alan & Turchin, Peter (2019). Complex societies precede moralizing gods throughout world history. Nature, doi:10.1038/s41586-019-1043-4.


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl :::