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Aberglaube

    Die menschlichen Gehirne haben sich im Laufe der Evolution so entwickelt, dass sie Sinn in der Welt entdecken möchten, indem sie ständig nach Kausalitäten fahnden, d.h., Menschen neigen von Natur aus dazu, alles so zu interpretieren, als sei es vorherbestimmt, denn alle Dinge müssen doch wohl stets aus einem ganz bestimmten Grund geschehen. Menschen möchten daher in der Regel immer erklären, warum etwas in der Welt geschieht. Daraus entsteht in vielen Fällern letztlich auch der Aberglaube, der Hang zum Übernatürlichen und der Glaube an übernatürliche Phänomene.

    Grundlage des Aberglaubens ist also vermutlich die Tendenz, dass Menschen – wie übrigens alle anderen Primaten auch – nach stimmigen Mustern in ihrer Umwelt suchen. Allerdings können Menschen meist nicht unmittelbar unterscheiden, welche Muster wahr und welche falsch sind, doch haben sie die grundlegende Tendenz, zunächst einmal alle Muster als wahr anzusehen. Bei jenen Mustern, die man nicht richtig einordnen kann, versucht man, sich Gründe und Zusammenhänge zur Erklärung auszudenken, sodass an dieser Stelle Götter, Dämonen, Geister und Verschwörungstheorien ins Spiel kommen. Verschwörungstheorien dienen vorrangig dazu, Wissenslücken zu schließen, die bei Ereignissen, die für den unbeteiligten Einzelnen nicht überschau- und überprüfbar sind, zwangsläufig entstehen.

    Die neurologischen Grundlage des Glaubens sind nach Ansicht von manchen Experten bloß ein Spuk, der sich nur im Kopf diese Menschen abspielt. Eine veränderte Gehirnstruktur führt ihrer Meinung nach dazu, dass gewisse Menschen Übersinnliches wahrnehmen, wo gar nichts ist, denn Menschen neigen dazu, an die Bedeutsamkeit zufälliger Ereignisse zu glauben. Das gilt für banale Koinzidenzen des Alltags, aber auch für grundlegende Fragen etwa nach der Entstehung des Lebens. In Experimenten wurde nachgewiesen, dass es allein die Menschen sind, die Bedeutsamkeit erschaffen, nicht irgendwelche Wesensheiten. Jeder Mensch stolpert in seinem Leben irgendwann über Zufälle, und die Frage ist, wie er damit umgeht. Wer im Zufall kreatives Potenzial sieht anstatt Gottes Willen, dem ist nachweislich auch eher Erfolg im Leben beschieden. Wer sich bewusst ist, dass es keinen Unterschied macht, ob eine schwarze Katze nun von rechts oder links kommt, oder dass nichts Böses droht, wenn man in geschlossenen Räumen Regenschirme aufspannt, wer völlig arglos unter einer Leiter durchgeht, wird mit einer gewissen Gelassenheit belohnt. Der Glaube an paranormale Kräfte hat seinen Ursprung in körperlichen Phänomenen wie etwa den unbewussten Bewegungen beim Pendeln, die ein Laie nicht erklären kann und darum mit allerlei abstrusen Ideen deutet.

    Das Leben in einer komplexen Welt bringt es auch mit sich, dass Menschen vieles durch die Medien erfahren, was sich ihrem unmittelbaren Einfluss und Beurteilungsvermögen entzieht, wobei beim Fehlen entscheidender, plausibler Informationen die Menschen unwillkürlich nach ihnen suchen, und wenn sie diese in der Wirklichkeit nicht finden können, muss eben die Phantasie herhalten und diese fehlenden Informationen gegebenenfalls ersetzen. Offensichtlich ist es ein menschliches Grundbedürfnis, die kausale Struktur der Umwelt zu verstehen, denn Ursachen stellen relevante Konstanten der Umwelt dar und verleihen den eigenen Erfahrungen Bedeutung.

    Hadjichristidis et al. (2017) ließen Studenten verschiedene Szenarien jeweils in ihrer Muttersprache oder auf Englisch beurteilen, in denen gängige Motive auftauchten, die oft als negative Vorzeichen gedeutet werden, wie etwa ein zerbrochener Spiegel oder der Umstand, dass man aus Versehen unter einer Leiter hindurchgegangen ist. Auch wenn alle einen solchen Aberglauben von sich weisen, sind diese Gedanken automatisch präsent und müssen durch aktives Denken unterdrückt werden. Interessanterweise blieb dieser innere Konflikt aus, wenn diese Szenarien in einer Fremdsprache präsentiert wurden. Offenbar erlernen Menschen die Bedeutung solcher Szenarien als negatives Vorzeichen sehr früh in ihrer Sozialisation, wobei der Aberglauben nur in der Muttersprache vorliegt, während er in einer Fremdsprache, die man später im Leben erlernt, wird nur als bedeutungsloser Vorgang betrachtet wird. Das deckt sich mit der Erfahrung, dass Menschen in fremdsprachigen Texten eher Fehler finden und Aussagen weniger leicht glauben.

    Wissenschaft und Bildung haben dazu geführt, dass das Maß an Aberglauben seit dem Mittelalter stark zurückgegangen ist, doch noch immer glauben viele Menschen an Astrologie, Ufos, Tarotkarten oder die Möglichkeit, mit Toten sprechen zu können. Vor allem in Zeiten der Unsicherheit und Krisen glauben Menschen eher an Heilsversprechen, denn dann sehnen sich Menschen nach Struktur in ihrem Leben, aber auch wenn sie unter Stress stehen, suchen sie nach Ordnung, etwa indem sie Rituale des Aberglaubens ausführen oder an übernatürliche Dinge glauben. Ob Menschen auf Talismane vertrauen, um ein Ziel zu erreichen, hängt übrigens auch von den Umständen ab, denn geht es darum, in erster Linie Anerkennung von anderen Menschen zu bekommen, ist Aberglaube verbreitet, ist jedoch das Ziel nur persönlich wichtig, verzichtet man eher auf Talismane. Hamerman & Morewedge (2015) untersuchten in einer Studie solche Leistungsziele und Lernziele, indem sie den Probanden und Probandinnen verschiedene Aufgaben stellten. Wurde dabei die Leistung betont, wählten die Versuchspersonen eher jene Stifte oder virtuellen Avatare, die sich in einem Experiment zuvor bewährt hatten, offenbar im Vertrauen darauf, diese würden ihnen bei der Lösung erneut helfen. Wer einen solchen Glücksbringer nutze, war auch insgesamt zuversichtlicher, sein Ziel zu erreichen. Stand hingegen ein reines Lernziel im Vordergrund, zeigten die Probanden kaum Interesse an Fetischen. Letztlich geht es offensichtlich darum, ein Gefühl der Kontrolle über das Leben oder über die Situationen, die sich an sich nicht beeinflussen lassen, zu entwickeln. Psychologisch betrachtet handelt es sich beim Aberglauben daher um eine Kontrollillusion.

    Die Astrologie gilt bekanntlich als Pseudowissenschaft, für deren Inhalte und Aussagen es aus wissenschaftlicher Sicht keinerlei Beweise gibt, dennoch glauben weltweit viele Menschen daran, dass die Sterne und deren Konstellationen ihr Verhalten beeinflussen kann. Andersson et al. (2021) haben nun untersucht, ob individuelle Persönlichkeitsmerkmale solche erkenntnistheoretisch unbegründeten Überzeugungen vorhersagen können. In einer anonymen Online-Umfrage wurden der Glauben an die Astrologie, die Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften, die Merkmale Narzissmus und Intelligenz erhoben. Die Datenanalyse mittels multipler linearer Regression zeigte, dass Narzissmus der stärkste Prädiktor war, und die Intelligenz eine negative Beziehung zum Glauben an Astrologie hatte. Weiblich und älter zu sein hatte nur geringe Auswirkungen auf den Glauben an die Astrologie. Während Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus keine Effekte zeigten, fanden sich hinsichtlich Verträglichkeit und Extraversion kleinere Effekte. Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Astrologie individuelle Unterschiede sowohl bedingen als auch möglicherweise verstärken kann.

    Vom Gehirn aus betrachtet ist der präfrontale Cortex für Risikoabschätzungen, Planung und Bewertungen verantwortlich, also letztlich für die Reflexion, wobei diese Fähigkeit des Hinterfragens stets mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Ereignissen einhergeht. Das Gehirn hat sich im Lauf der Evolution offensichtlich darauf eingestellt, dass es schwierig sein kann, die Frage nach dem Sinn zu beantworten, wobei unter Umständen Aberglaube das Ergebnis dieser Anpassung des Gehirns an die Unberechenbarkeit der Welt sein kann. Der Aberglaube des Menschen resultiert möglicherweise auch aus dem Versuch, in zufälligen Ereignissen ein Muster, eine Regelhaftigkeit zu erkennen, um die Welt berechenbarer zu machen, als sie eigentlich ist. Dafür hat das Gehirn Mechanismen entwickelt, die nicht bewusst steuerbar sind, denn je unsicherer eine Situation ist, umso mehr sucht das Gehirn nach Hinweisen einer Ordnung. Daher nimmt das Gehirn bei zeitlich zusammenhängenden Ereignissen Ursache und Wirkung an, die eigentlich nicht gegeben sind. In Experimenten, in denen man Probanden Aufgaben stellt, bei denen die Lösung nicht von ihrem Verhalten abhängt sondern allein vom Zufall gesteuert sind, werden die Probanden und Probandinnen später dennoch behaupten, den Ausgang beeinflusst zu haben.

    Siehe dazu Warum sind so viele Menschen abergläubisch?

    Siehe dazu auch die klassischen Experimente zum abergläubischen Verhalten von Tauben durch Burrhus Skinner.

    Zum Aberglauben zählen auch zahlreiche esoterische Praktiken mit der Beschwörung von Schutzengeln – ein amüsantes Beispiel findet sich etwa hier: Ulrichs Schutzengel ist Asaliah.

    Literatur

    Andersson, Ida, Persson, Julia & Kajonius, Petri (2021). Even the stars think that I am superior: Personality, intelligence and belief in astrology. Personality and Individual Differences, doi:10.1016/j.paid.2021.111389.
    Hadjichristidis, C., Geipel, J. & Surian, L. (2017). Breaking magic: Foreign language suppresses superstition. The Quarterly Journal of Experimental Psychology, doi: 10.1080/17470218.2017.1371780.
    Hamerman, E.J. & Morewedge, C.K. (2015). Reliance on Luck: Identifying Which Achievement Goals Elicit Superstitious Behavior. Personality and Social Psychology Bulletin.
    Stangl, W. (2023, 7. März). Warum sind so viele Menschen abergläubisch? arbeitsblätter news.
    https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/warum-sind-so-viele-menschen-aberglaeubisch/.


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    Ein Gedanke zu „Aberglaube“

    1. Woher kommt der Aberglaube?

      Aberglaube komme aus der Seele des Volkes und sei ein Relikt längst vergangener Mythologie, dachte man oft, allen voran die Brüder Grimm. Aberglaube beinhaltet Glaubenssätze und Praktiken, die scheinbar unbegründet sind und dem Kenntnisstand heutiger Kulturen nicht mehr entsprechen. Doch in dem scheinbaren Hokuspokus ist auch abgesunkenes Kulturgut und Wissen unserer Vorfahren verborgen. So hat etwa die Zahl 13 ihr schlechtes Image vermutlich nur deshalb, weil sie einfach nicht in das lange Zeit gängige Duodezimalsystem passt, das Mengen, Maße und Entfernungen in Zwölferschritte einteilt. In diesem System stand die 13 im Weg, weshalb sie fortan nicht nur in christlichen Legenden etwas Ominöses angedichtet bekam. Auf diese Weise entstanden viele Formen des Aberglaubens, die alle ein erklärbaren und nachvollziehbaren Ursprung haben.
      Quelle: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/ethik-und-philosophie/aberglauben-magie100.html (22-10-24)

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