Achtsamkeit bedeutet, alles, was im Augenblick geschieht, bewusst wahrzunehmen, ohne es gleich zu beurteilen, ob es uns jetzt oder in Zukunft nützlich sein kann. Menschen verlieren im Alltag häufig den gegenwärtigen Augenblick aus den Augen, auch wenn das die einzige Zeit ist, in der man handeln und die man tatsächlich erleben kann. Wenn sich die Gedanken jedoch nur mit der Zukunft oder der Vergangenheit befassen, ist es nicht mehr möglich, wirklich im Augenblick präsent zu sein, weder bei kleinen noch bei großen Ereignissen, d.h., das Leben braust förmlich an den Menschen vorbei, ohne von ihnen gelebt zu werden.
Achtsamkeit ist dabei mehr als nur Konzentration, denn Konzentration heißt, sich auf einen Gedanken oder ein Objekt zu fokussieren, sie wird z.B. gebraucht beim Lösen von Rechenaufgaben. Achtsamkeit hingegen brauchen Menschen bei neuen oder kreativen Aufgaben, wenn sie sich nicht auf Bekanntes beziehen können. Achtsam sind Menschen sich dann nicht, wenn sie mehrere Dinge gleichzeitig oder automatisiert erledigen, wenn eingeschliffene Gewohnheiten sie steuern oder sie Lösungswege nur aus einer Quelle beziehen.
Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabatt-Zinn von der Universitätsklinik Massachusetts das Achtsamkeitstraining zunächst für stressgeplagte Patienten: Mindfullness Based Stress Reduction. Wird der Geist sanft und immer wieder in den jeweiligen Moment (zurück-)geführt, die Körperwahrnehmung geschult, eine beobachtende Geisteshaltung angenommen, dann wird der Mensch am Ende auch entspannter und gelassener, Stresssymptome nehmen ab. Auf Achtsamkeit basierende Verfahren sind Bestandteil verschiedener Methoden der Psychotherapie, Medizin und Pädagogik, wobei Achtsamkeit eine sehr hilfreiche Methode im Umgang mit anderen Menschen und ganz besonders auch im Umgang mit sich selbst darstellt, um Burn-Out, Erschöpfung oder psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Zahlreiche Störungen werden daher inzwischen mit der Achtsamkeitstherapie behandelt, darunter Depressionen, Borderline-Störungen, Burnout, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder das chronische Erschöpfungssyndrom.
Kontraindiziert sind nach Ansicht der APA Achtsamkeitsübungen jedoch bei manchen psychische Störungen, denn es gibt zahlreiche Berichte oder Studien über Achtsamkeits- oder Meditationserfahrungen, die eine zusätzliche Behandlung nach sich zogen. Vor allem bei Menschen mit Traumata und speziellen Depressionen kann Meditation zu Flashbacks oder einer unbewältigbaren Wahrnehmung der eigenen inneren Vorgänge führen, so dass es zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit kommen kann. Auch bei einigen anderen psychischen Störungen können manche Achtsamkeitsübungen negative Auswirkungen haben und psychiatrische Probleme verschlimmern. Zwar ist unbestritten, dass es vielen Menschen hilft, Rituale in ihren Alltag zu integrieren, die sie in einen Austausch mit sich selbst führen, denn Journaling (moderne Form des Tagebuchschreibens), Atemübungen, Meditieren, regelmäßige Pausen oder das Tempo zu reduzieren und nachzufühlen, was in de eigenen Gedanken los ist, kann in zahlreichen Fällen, das Lebensgefühl verbessern und sich positiv auf die Selbstwahrnehmung oder Zufriedenheit auswirken, aber durch die dabei stattfindende Vertiefung kann man sich das Leben auch manchmal schwerer und komplizierter machen als notwendig und sich dadurch selbst ausbremsen.
Durch Übungen zur Achtsamkeit soll es möglich werden, im Moment innezuhalten und die Atmung, den Körper und die Gedanken, also sich als Ganzes, aufmerksam wahrzunehmen, ohne sie gleich zu beurteilen oder verändern zu wollen. Dadurch entsteht ein tieferes Verständnis für sich selbst, wenn man erkennt, dass man auch in belastenden oder kritischen Situationen wach und aufmerksam handeln kann, ohne sich in der Situation zu verlieren und nur noch automatisch zu handeln, weil man bestimmte Dinge in der Zukunft erreichen oder auch vermeiden will. Achtsamkeit als Aufmerksamkeit für sich selber in diesem Augenblick fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität der Gegenwart zu akzeptieren, wobei auch klar wird, dass das Leben aus einer Folge von solchen Augenblicken besteht. In je mehr solcher Augenblicke man völlig gegenwärtig ist, kann man erst erkennen, was im Leben am wertvollsten ist. Durch mehr Achtsamkeit beginnt der Reichtum und die Tiefe der Möglichkeiten zu wachsen und letztlich beginnt man sich zu verändern. Übungen zur Achtsamkeit sind eine einfache und zugleich hochwirksame Methode, sich bewusst in den Fluss des Lebens zu integrieren.
Test zur Messung der Selbst-Achtsamkeit
Achtsam sein bedeutet, innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit zu beobachten und „das ganze Bild“ aufnehmen, und basiert auf folgenden Voraussetzungen:
- Über-Bewusstheit: Wir verlieren uns nicht in einer Tätigkeit, sondern sind uns bewusst, dass wir etwas Bestimmtes tun
- Nicht abgelenkt sein: Unsere Wahrnehmung wird nicht beeinträchtigt durch Grübeleien, Zukunftssorgen, Gefühle oder andere Störungen
- Neutralität: Wir beurteilen oder bewerten nicht das Wahrgenommene, auch wenn uns etwas bereits bekannt vorkommt und wir gerne auf Vorurteile oder Erfahrungen zurückgreifen möchten. Wir registrieren die Geschehnisse, ohne Gedanken oder Gefühle einzuklinken
- Perspektivenwechsel: Wir sind uns bewusst, dass unsere Sichtweise falsch, beschränkt oder einengend sein kann, weil Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können
Achtsamkeit ist mehr als nur Konzentration: Konzentration heißt, sich auf einen Gedanken oder ein Objekt zu fokussieren, sie wird z.B. gebraucht beim Lösen von Rechenaufgaben. Achtsamkeit dagegen brauchen wir bei neuen oder kreativen Aufgaben, wenn wir also nicht auf Bekanntes beziehen können. Achtsam sind wir nicht, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig oder automatisiert erledigen, wenn eingeschliffene Gewohnheiten uns steuern oder wir Lösungswege nur aus einer Quelle beziehen. Die Möglichkeit von Veränderung wird dabei ausgeblendet. Wenn wir glauben, etwas schon zu wissen, sind wir nicht mehr präsent. Achtsamkeit ist das zentrale Thema im Zen, d.h., im Augenblick zu leben, ohne ihn zu beurteilen, den Geist zu beruhigen, konzentriert zu handeln, nichts erreichen zu wollen und unabhängig von allem zu sein. Achtsamkeit lässt sich am besten erreichen, wenn man von vornherein vermeidet, unachtsam zu sein. Um Unachtsamkeit zu vermeiden, müssen wir uns klar machen, dass die Wahrheit jeder Information von ihrem Kontext abhängt. Wenn wir also etwas wahrnehmen, sollte uns bewusst sein, dass es sich nie um eine absolute Tatsache handelt. Um achtsam zu bleiben, müssen wir einen gesunden Respekt vor Unsicherheit kultivieren. Um einer Sache achtsam zu begebnen, sollten wir aktiv und bewusst nach Unterschieden suchen. Das tun wir nicht, sobald wir glauben, ein Ding, einen Ort oder einen Menschen bereits in- und auswendig zu kennen. Die Erwartungen von etwas Neuem dagegen hält uns wachsam und achtsam.
Neuere Untersuchungen untersuchten die Auswirkungen des Achtsamkeits-basierten Meditationsverfahrens Mindfulness-Based-Stress-Reduction (MBSR) mittels Gehirnscans, wobei sich deutliche Veränderungen in der Hirnstruktur zeigten: Weniger Dichte der grauen Substanz an der Amygdala, die für die Verarbeitung von Stress und Angst wichtig ist, mehr Dichte dafür im Hippocampus und Regionen, die für Selbstwahrnehmung und Mitgefühl zuständig sind. Diese Effekte verschwinden jedoch wieder, wenn das Meditieren nicht weiter gemacht wird.
Schindler et al. (2019) haben in einigen Studien untersucht, welchen Effekt Achtsamkeitsübungen auf moralisch motiviertes Verhalten haben. Sie vermuten, dass Achtsamkeit die eigene Aufmerksamkeit auf Eindrücke und Gefühle richtet, ohne diese sofort zu bewerten, sodass normale moralische Handlungen, die aus einer unkontrolliert emotionalen Reaktion heraus erfolgen, dann abgeschwächt werden. In Bezug auf Fleischkonsum konnte diese Vermutung bestätigt werden, wobei Achtsamkeit das Mitgefühl mit Tieren abschwächte und damit den Impuls, das eigene Verhalten zu ändern.
Sebastian Herrmann berichtet in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Dezember 2019, dass sogar schon Politiker auf Achtsamkeitsmeditation setzen. So wird im britischen Unterhaus seit 2013 über Parteigrenzen hinweg ohne Fraktionszwang gemeinsam meditiert, und auch in Schweden, den Niederlanden, in Frankreich und sogar im US-Kongress haben Abgeordnete in den vergangenen Jahren Achtsamkeitsinitiativen gestartet. Eine bisher einzige Studie fand allerdings keine Indizien für einen versöhnenden Effekt der Achtsamkeit.
Aus einem Interview
von Katja Irle mit Vera Kaltwasser zu „Achtsamkeit“ und Stressabbau in der Schule:
Dann stellen Sie sich eine klassische Stresssituation vor: Sie kommen in eine Klasse, die Sie komplett ignoriert. Was tun Sie als achtsame Pädagogin?
Eine Klasse reagiert selten so „komplett“, sie besteht ja aus unterschiedlichen Individuen. Wenn Sie zunächst zu den einen Blickkontakt aufnehmen und das „Ignorieren“ der anderen nicht persönlich nehmen, dann stellt sich schnell Ruhe ein. Schüler merken, ob da jemand vor ihnen steht, der etwas zu sagen hat und der sie wertschätzt.
Hört sich simpel an. Aber was macht ein Pädagoge, wenn er das nicht hinkriegt?
Ein Neurologe und Psychotherapeut hat in einem Vortrag vor Lehrern mal etwas nicht sehr Schmeichelhaftes, aber sicherlich Zutreffendes gesagt: Wenn zum Beispiel ein junger, unerfahrener Lehrer mit Angst vor eine Klasse trete, dann „riechen die Schüler Beute“. Das hört sich biologistisch an, ist aber so gerade nicht gemeint. Allerdings vergessen wir allzu leicht, dass wir eine „biologische Grundausstattung“ haben, die unser Verhalten mitbestimmt.
Wie macht sich das in der Schule bemerkbar?
Die Stressreaktion kann bei akuter Gefahr lebensrettend sein, aber wir versetzen unseren Körper auch durch abwertende Gedanken in einen chronischen Dauerstress. Gerade in der Schule sind viele Ängste im Spiel. Hier ist das Einfalltor für das, was man in der Psychologie Achtsamkeit nennt: ein Gespür für Körper, Geist und Gefühle zu entwickeln.
Wie verhält sich denn ein achtsamer Lehrer? Hat der etwa keine Angst?
Er ist vielleicht eher in der Lage, seine Gefühle und Einschätzungen wahrzunehmen und dann zu überprüfen, ob sie der Situation angemessen sind. Und er wird darauf achten, sich und den Schülern Raum zur Selbstbesinnung zu schaffen.
Was heißt das konkret?
Bleiben wir bei der Situation nach dem Eintreten in die Klasse: Der Lehrer sollte genau beobachten, was passiert. Das heißt: Er ist mit seinen Gedanken weder bei der eben geschriebenen Mathearbeit der Parallelklasse, noch ist er gedanklich schon mit der nächsten Unterrichtsminute beschäftigt. Schüler spüren, wenn ein Lehrer so zugewandt ist. Das schließt nicht aus, dass er auch Kritik übt, Regeln setzt und Leistung einfordert – aber auf dem Boden der persönlichen Wertschätzung.
Sie bringen auch Schülern Achtsamkeit bei. Den Stress bei der Mathearbeit bekommen sie aber allein durch Meditation nicht weg. Sie müssen den Test ja trotzdem schreiben – und bestehen.
Es hilft aber schon, wenn Schüler sich ihrer eigenen Gedanken und deren Folgen bewusst werden. Viele bringen ihr Schwitzen, den schnellen Puls oder die Bauchschmerzen ja gar nicht direkt in Verbindung mit der Mathe-Angst. Oder sie machen sich selbst die Hölle heiß, indem sie ihre Gedanken immer um das mögliche Versagen kreisen lassen, statt sich Mut zuzusprechen. Sie sollten deshalb lernen, sich der eigenen Verhaltensmuster bewusst zu werden. Ich nenne das Forschen in eigener Sache.
Was meinen Sie damit?
Schon Kinder folgen festgefahrenen Mustern. Sie sagen zum Beispiel: „Ich bin eben eine Stille, deshalb melde ich mich nie.“ Der Hirnforscher Gerald Hüther nennt das „neuronale Autobahnen“: Ich verhalte mich in einer bestimmten Situation immer gleich, weil es einfacher ist, die eingefahrene Strecke zu benutzen, anstatt neue Wege zu testen.
Würde der neue Weg denn auch in besseren Noten münden?
Wer gelernt hat, Stressfaktoren zu entschärfen, erhöht seine Leistungsfähigkeit und den Mut, eigene Wege zu gehen. Aber Achtsamkeit ist kein Allheilmittel. Sie kann aus einer Sechs keine Eins machen, aber sie befähigt den Einzelnen, sich des eigenen Verhaltens und Fühlens bewusst zu werden.
Wie funktioniert das im Unterricht?
Wichtig ist das kontinuierliche Üben – etwa kurze, in den Unterricht integrierte Phasen der Stille. Zum Beispiel, einmal 30 Sekunden auf den Atem achten, ohne ihn zu verändern. Ich lasse Schüler auch aufschreiben, was bei ihnen Stress auslöst. Das reicht vom Notendruck bis zum Zeitdruck, weil sie Sport, Hausaufgaben und Klavierstunde nicht unter einen Hut bringen. Vor Klassenarbeiten erinnere ich die Kinder daran, dass sie auch schon Erfolgserlebnisse hatten. Viele Schüler neigen nämlich dazu, nur das zu sehen, was sie nicht können – und vergessen dabei, was sie gut machen.
In den USA ist „Mindfulness in Education“ bereits gut etabliert. Taugt das Modell auch für deutsche Schulen?
Auf jeden Fall. Kinder und Jugendliche sind heute einer Armada von Außenreizen ausgesetzt und kommen von allein kaum zur Ruhe. Es gibt mittlerweile Studien, die belegen, dass Schüler aufmerksamer sind und sich emotional besser regulieren können, wenn im Unterricht Stille, Meditation und Achtsamkeits-Training eine Rolle spielen.
Siehe dazu Vera Kaltwasser: Achtsamkeit in der Schule
Gegen den Achtsamkeitshype
Der Psychologe Jason Linder spricht in einem Artikel für „Psychology today“ von einer Toxic Mindfulness und warnt vor den Gefahren des Achtsamkeitshypes: „Es wird weitestgehend ignoriert, dass bereits in mehr als 20 veröffentlichten Berichten oder Studien Achtsamkeits- oder Meditationserfahrungen beschrieben wurden, die so ernst oder beängstigend waren, dass sie eine zusätzliche Behandlung oder medizinische Aufmerksamkeit nach sich zogen“. Insbesondere bei Menschen mit Traumata und Depressionen kann Meditation etwa aufgrund von Flashbacks oder einer noch intensiveren, überwältigenden Wahrnehmung der inneren Vorgänge, zu einer Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit führen. Auch bei anderen psychischen Störungen ist nicht auszuschließen, dass Achtsamkeitsübungen negative Auswirkungen auf einige Menschen haben. Die American Psychological Association ebenso wie das US-amerikanische National Institut of Health (NIH) weisenin offiziellen Publikationen ausdrücklich darauf hin, dass Meditation gewisse psychiatrische Probleme verschlimmern kann, sodass man einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren sollte, ehe man sich darin versucht. Auch wenn man keine traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten hat und keine psychische Störung diagnostiziert wurde, ist es unwahrscheinlich, dass man allein durch Achtsamkeit glücklicher und entspannter wird. Übertreibt man es mit der Achtsamkeit, besteht zudem die Gefahr, dass man das Leben schwerer und komplizierter macht als nötig und sich dadurch selbst ausbremst. Man muss daher nicht bei jedem emotionalen Impuls aufspringen und eine Atemübung machen oder seitenweise darüber in sein Tagebuch schreiben, man muss nicht jede Stimmungsschwankung verstehen, damit man psychisch gesund bleibt und am nächsten Tag wieder ausgeglichen und gut gelaunt aufwachen kann. Um Probleme wirklich zu lösen und glücklicher zu werden, braucht man in der Regel neben Achtsamkeit weitere Strategien und Fähigkeiten, etwa Mut, ein halbwegs stabiles Selbstwertgefühl, Erfahrung und vieles mehr.
Linda Göcking, eine Hamburger Lehrerin und Autorin, kritisiert in ihrem Weblog schule-neu-denken.de den „Achtsamkeitshype“ und schreibt: „Es gibt einen neuen Unterrichts-Trend, er nennt sich „Achtsamkeit“ für Schülerinnen und Schüler: Konzentrationsübungen, autogenes Training, Body-Scans, Entspannungsübungen – dies alles soll jungen Menschen helfen, sich besser zu konzentrieren, zur Ruhe zu kommen und stressresistenter zu werden. Ich halte von diesem Trend, kurz gesagt, wenig. Denn hier werden nicht nur Symptome behandelt, ohne auf die Ursachen zu schauen, sondern auch ziemlich unachtsam körperliche Grenzen überschritten. Ich folge auf Instagram und Facebook verschiedenen Menschen, denen es darum geht, Schule besser zu machen; und überall lese ich großen Jubel, wenn jemand in seinen Unterricht Meditationen, Traumreisen oder Achtsamkeitsübungen einbindet. Was mich nachdenklich gemacht hat, ist, wie selbstverständlich all diese Übungen und Trainings momentan gehyped werden. Dabei fallen mir direkt zwei Fragen ein, die erst einmal geklärt werden müssten (…): Erstens: Sind die Schüler wirklich unkonzentriert – oder richten sie ihre Aufmerksamkeit vielleicht nur auf etwas anderes, als auf das, worauf sie sie unserer Meinung nach richten sollen? Zweitens: Falls tatsächlich bei jungen Menschen die Konzentrationsfähigkeit schwindet bzw. sich verändert, ist das wirklich ein Grund zur Sorge?“ Im Folgenden beschreibt Göcking zahlreiche dieser Methoden, die für sie mehr oder minder übergriffig sind, denn LehrerInnen bestimmen damit nicht mehr nur darüber, was SchülerInnen wann, wie, mit wem und in welchem Tempo lernen, sondern auch darüber, wann sie sich wie zu entspannen haben. Sie schreibt: „Wie können wir nur auf die Idee kommen, eine so körpernahe, intime Handlung wie „sich gegenseitig massieren“ auf den Stundenplan zu setzen? Wir führen damit etwas, was ja tatsächlich schön sein und für Entspannung sorgen kann, ad absurdum. Wer schon einmal versucht hat, sich auf Kommando zu entspannen, weiß vielleicht, wovon ich rede. Das Schlimmste aber ist, dass es garantiert Kinder gibt, die es nicht mögen, in einem vollen Klassenraum nach vorgegebener Anleitung einen Mitschüler – den man vielleicht noch nicht einmal besonders leiden kann – zu massieren. Auch, wenn ein Betroffener das so vielleicht nicht offen sagen würde. (…) Doch wenn wir behaupten, dass Entspannung immer gut sei und von außen hergestellt werden könne, dass Massagen immer schön und entspannend sind, dass Berührungen, Traumreisen und autogenes Training toll sind und die Konzentration fördern, dass es gut ist, unter fremder Anleitung in den eigenen Körper hineinzuhorchen, dann sprechen wir jungen Menschen ihre eigenen Gefühle und ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung ab.“
Achtsamkeit kann auch egoistischer machen
Achtsamkeit und Meditation reduzieren Stress und Angst und steigern das emotionale Wohlbefinden von Menschen, doch sind die zwischenmenschlichen Auswirkungen weniger klar. Zwei Studien von Poulin et al. (2021) untersuchten, ob sich die Auswirkungen von Achtsamkeit auf prosoziales Verhalten je nach Selbst-Konstrukt unterscheiden. Dafür wurde zunächst einmal untersucht, wie unabhängig oder abhängig sich die Probanden und Probandinnen von anderen Menschen fühlen, und anschließend wurde eine Achtsamkeitsübung vorgegeben, wonach sie am Ende des Experiments an eine Wohltätigkeitsorganisation spenden sollten. Dabei zeigte sich, dass Menschen, die als unabhängig eingestuft wurden, sich weniger prosozial verhielten als die abhängigen Teilnehmer. Diese kurze Achtsamkeitsinduktion führte also zu vermindertem prosozialen Verhalten.
Bei der zweiten Studie wurden die Probanden und Probandinnen gebeten, sich für eine kurze und effektive Achtsamkeitsübung zu entscheiden, die ihnen helfen sollte sich entweder als unabhängiger oder abhängiger zu betrachten. Dabei waren das Achtsamkeitstraining und das Kontrollverfahren gleich wie in der ersten Studie, doch wurden die Probanden und Probandinnen diesmal gefragt, ob sie sich für einen Online-Chat mit potenziellen Spendern anmelden würden, um Geld für eine wohltätige Organisation zu sammeln. Bei denen, die sich unabhängig fühlen, war die Bereitschaft freiwillig zu helfen um ein Drittel gesunken, während diese bei den als abhängig geltenden Teilnehmern um 40 Prozent stieg. Die Auswirkungen von Achtsamkeit auf prosoziales Verhalten scheinen demnach von den weiter gefassten sozialen Zielen der Individuen abzuhängen.
Achtsamkeitspraktiken können Menschen daher auch egoistischer machen, und zwar steigert Achtsamkeit prosoziale Handlungen bei Menschen, die sich selbst eher als abhängig betrachten. Bei Menschen, die sich eher als unabhängig betrachten, verringert Achtsamkeit jedoch tatsächlich prosoziales Verhalten.
Kulturabhängige Unterschiede in der sozialen Achtsamkeit
Bei der sozialen Achtsamkeit, geht es darum, dass man bei einer eigenen Entscheidung immer mit bedenkt, was das für andere Menschen bedeuten kann. Während eine Kooperation irgendeine Art von gemeinsamem Ziel beinhaltet, setzt diese Form der Achtsamkeit unterschwelliger an und steht stark im Zusammenhang mit einer sozialen Wertorientierung, die darauf abzielt, dass einem selbst, aber auch anderen etwas bleibt. Van Doesum et al. (2021) haben weltweit über 8300 Menschen (StudentInnen verschiedenster Fachrichtungen, online oder unter Laborbedingungen) untersucht und fanden erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern, in denen die Studie durchgeführt wurde. Die StudentInnen aus Österreich präsentierten sich demnach besonders bedacht, auch anderen noch alle Optionen offen zu lassen, nachdem sie selbst zu Zug gekommen waren. Auch beim Ausmaß an sozialer Wertorientierungen wies der österreichische Teil der Studie den zweithöchsten Wert aus, wobei sich über die 31 Länder hinweg ein Zusammenhang zwischen der Wertorientierung und der Achtsamkeit gefunden wurde. Erklärt haben das die Autorinnen mit einer doch vorhandenen gewissen Höflichkeitskultur in Österreich, was auch dadurch bestätigt werden dürfte, dass mit Japan nur ein Land vor Österreich liegt, in dem dies traditionell ebenfalls sehr hoch gehalten wird. Die vier hintersten Plätze belegen übrigens Südafrika, Indien, die Türkei und Indonesien. Der stärkste untersuchte Zusammenhang zwischen der sozialen Achtsamkeit und einem anderen Faktor ergab sich überraschenderweise mit dem Umweltschutz, wobei dieser bei Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Ländern, in denen letzterer mehr Stellenwert hat und die auch wirtschaftlich besser dastehen, sich tendenziell umsichtigerpräsentierten. Offenbar hat eine Einstellung, die sich mitunter in kleinen Gesten zeigt, auch gewisse Auswirkungen auf größere gesellschaftliche Strömungen, wobei es letztlich um eine grundlegende Haltung gegenüber dem guten Auskommen miteinander geht, d. h., wenn das in stärkerer Weise etabliert ist, ist das auch günstig für das Zusammenleben.
Literatur
Van Doesum, N.J., Murphy,R.O., Gallucci,M., Aharonov-Majar,E.,Athenstaedt,U., Au,W.T., Bai,L.,Böhm,R.,Bovina,I.,Buchan,N.R., Chen,X.-P., Dumont,K.B., Engelmann,J.B., Eriksson,K., Euh,H., Fiedler,S., Friesen,J., Gächter,S., Garcia,C., González,R., Graf,S., Growiec,K., Guimond,S., Hebicková,M., Immer-Bernold, E., Joireman,J., Karagonlar,G., Kawakami,K., Kiyonari,T., Kou,Y., Kuhlman,D.M., Kyrtsis,A.-A., Lay,S., Leonardelli,G.J., Li,N.P., Li,Y., Maciejovsky,B., Manesi,Z., Mashuri,A., Mok,A., Moser,K.S., Moták,L., Netedu,A., Pammi,C., Platow,M.J., Raczka,K., Reinders Folmer,C.P., Reyna,C., Romano,A., Shalvi,S., Simão,C., Stivers,A.W., Strimling,P., Tsirbas,Y., Utz,S., van der Meij,L., Waldzus,S., Wang,Y., Weber,B., Weisel,O., Wildschut,T., Winter,F., Wu,J., Yong,J.C., Van Lange,P.A.M. (2021). Social mindfulness across the globe. Proceedings of the National Academy of Sciences.
Poulin, M., Ministero, L., Gabriel, S., Morrison, C. & Naidu, E. (2021). Minding your own business? Mindfulness decreases prosocial behavior for those with independent self-construals. Psychological Science, doi:10.31234/osf.io/xhyua.
Schindler, Simon, Pfattheicher, Stefan & Reinhard, Marc‐André (2019). Potential negative consequences of mindfulness in the moral domain. European Journal of Social Psychology, doi:10.1002/ejsp.2570.
Psychologie heute 7/04
http://www.fr-online.de/wissenschaft/-forschen-in-eigener-sache-/-/1472788/4844684/-/index.html (10-11-18)http://www.institut-fuer-achtsamkeit.de/achtsamkeit.html (10-11-11)
http://psychologie-news.stangl.eu/73/achtsamkeit-ein-neues-psychologisches-phaenomen (10-07-18)
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/TEST/SAT/Test.shtml (11-02-21)
http://schule-neu-denken.de/achtsamkeit-und-entspannungsuebungen-im-unterricht-warum-mich-dieser-trend-wuetend-macht/ (19-09-24)
https://www.stern.de/gesundheit/achtsamkeit–die-gefahren-des-hypes–ueber-die-niemand-spricht-30675850.html (21-08-27)
Achtsamkeit ist eine einfache und zugleich hochwirksame Methode, um wieder mit Weisheit und Vitalität die alltäglichen Herausforderungen zu meistern. Aktuelle Studien belegen, dass die regelmäßige Anwendung und Übung in Achtsamkeit wirksam bei Stress und Depressionen sind, sich positiv auf Blutdruck, Herzrhythmus, Gedächtnis, Konzentration und andere Denkfunktionen auswirken und außerdem das Immunsystem stärken, die Lebenszeit der Gene verlängert und vieles mehr.
Um auch im Alltag die Achtsamkeit auf den Körper zu richten und diesen zu spüren gibt es einige Alltagstätigkeiten, die man nutzen kann, um die eigentliche sinnliche Wahrnehmung zu stärken, hier einige Beispiele:
Beim Duschen das warme Wasser auf der Haut spüren und den Duft des Duschgels genießen.
Beim Zähneputzen auf einem Bein stehen oder die Wadenmuskulatur dehnen.
Beim Gehen von einem Ort zum andern bewusst auf die Fußsohlen achten und diese spüren.
Beim Kochen das Gemüse in der Hand fühlen, wahrnehmen, wie es aus der Hand in den Topf fällt, daran riechen, wenn es vor sich hin schmort.
Beim Essen kein Mobiltelefon, keinen Fernseher oder keine Zeitung, sondern bewusst essen. Stattdessen reflektieren: Woher kommt das Essen, wer hat dazu beigetragen, dass hier eine Scheibe Brot liegt, was war der Weg vom Korn bis auf den Teller? Am Brot riechen, ein Stück abbeißen, schmecken. Wie fühlt es sich im Mund an? Bewusst kauen, wahrnehmen: Wann schlucke ich? Zwischendurch die Gabel weglegen, das Essen verlangsamen.
In die Natur gehen, Luft und Sonne auf der Haut spüren, die verschiedenen Untergründe testen, vielleicht barfuß gehen. Die Gerüche wahrnehmen, Pflanzen berühren und so sinnliche Erfahrungen machen.
Sich Massagen gönnen, in den Whirlpool setzen, überhaupt Körpererfahrungen machen, die guttun.
Musik anschalten und dazu tanzen, dabei spüren, wie die Bewegungen fließen und der Körper sich entspannt.