Die „soziale Angststörung“ – umgangssprachlich häufig als Schüchternheit bezeichnet – ist die dritthäufigste psychische Erkrankung nach Alkoholabhängigkeit und Depression, wobei Studien zeigen, dass in westlichen Kulturen etwa jede siebente Person im Lauf ihres Lebens an einer sozialen Angststörung leidet. Unter das Krankheitsbild einer sozialen Angststörung fallen nicht das Lampenfieber vor einer Rede oder die Nervosität während einer Prüfung, denn diese haben wohl jeden Menschen schon einmal ergriffen, sondern es geht um die überwältigende, auf Schritt und Tritt vorhandene lähmende Angst vor dem Kontakt mit anderen Personen.
Unterschieden kann man dabei zwischen Personen, die sich immer wieder vor einer bestimmten Situation fürchten und jenen, die fast jede soziale Situation scheuen, wobei diese extreme Ausprägung eher selten auftritt. Für beide Gruppen gilt aber, dass sie in ihrem Privat- und Berufsleben und auch Wohlbefinden stark eingeschränkt sind. Schon harmlose alltägliche Situationen werden für sie häufig zur Qual: das Einkaufen, wenn es darum geht, nach dem Regal zu fragen, in dem die Milch steht. Anrufe bei Behörden stellen Betroffene häufig vor ein unüberwindbares Hindernis. Einladungen zu Parties werden abgesagt, Freundschaften schlafen ein. Zwanghafte Schüchternheit kann sogar Lebensläufe beeinflussen, wenn Betroffene ihren Traumberuf nur deshalb nicht ergriffen, weil sie dann mit vielen Menschen zu tun hätten, oder sich Aufstiegschancen dadurch verbauten, dass sie Gespräche mit Vorgesetzten scheuen oder weil sie Fortbildungen in Gruppen um jeden Preis vermieden. Zwar hilft das Vermeiden solcher Situationen kurzfristig, die Ängste zu reduzieren, doch langfristig bleiben die Betroffenen in ihren Ängsten gefangen.
Die soziale Angststörung ist bei Frauen etwa eineinhalb Mal häufiger als bei Männern. Soziale Angststörungen beginnen in ca. 75% der Fälle vor dem 16. Lebensjahr, wobei der Verlauf meist chronisch ist, d.h., ohne Behandlung bleibt diese soziale Phobie meist bestehen. Als Folge einer unbehandelten sozialen Angststörung entwickeln sich in vielen Fällen weitere psychische Erkrankungen wie andere Angststörungen oder Depressionen.
Mögliche Ursachen für die Entwicklung einer sozialen Angststörung sind vielfältig und von Person zu Person verschieden. Man geht davon aus, dass eine Kombination von biologischen bzw. vererbten Faktoren und Umweltfaktoren bzw. Lernerfahrungen zur Entwicklung einer sozialen Angststörung führt. So können die sozialen Ängste bei manchen Personen durch eine vererbte Schüchternheit in Kombination mit negativen Lernerfahrungen (z.B. in der Schule ausgelacht worden zu sein) erklärt werden.
Gemeinsam ist den Betroffenen, dass sie soziale Situationen als extrem ängstigend erleben. Dies liegt unter anderem auch daran, dass Personen mit einer sozialen Angststörung meist nur die negativen Aspekte einer sozialen Situation wahrnehmen. Muss ein Betroffener beispielsweise einen Vortrag halten, sieht er im Publikum nur die ablehnenden Gesichter; die wohlwollenden, interessierten Zuhörer entgehen ihm. Durch diese verzerrte Wahrnehmung wird es für Betroffene unmöglich, soziale Situationen als angenehm oder als Erfolg zu erleben. Soziale Situationen bleiben für sie bedrohlich.
Bei Experimenten mit Menschen, die an Sozialphobien leiden, hat man jüngst mittels funktioneller Magnetresonanztomografie die neuronalen Prozesse sichtbar gemacht, die möglicherweise dafür verantwortlich sind. Bekanntlich ist die Amygdala jenes Gehirnareal, das schnell auf mögliche Bedrohungen und andere wichtige Umgebungsreize reagiert, und im Dialog mit dem Frontalhirn in Form einer laufenden gegenseitigen Beeinflussung steht. Der präfrontalen Cortex ist unter anderem für exekutive Funktionen, Motivation, bewusste Handlungen, Sprache, aber auch Moral und das Abschätzen von Konsequenzen verantwortlich, wodurch er eine wichtige Gehirnstruktur für die bewusste Gefühlsregulation und das Erkennen von Zusammenhängen darstellt. Angstzustände entstehen im Gehirn im Wechselspiel der Amygdala mit dem Frontallappen des Großhirns, dem präfrontalen Cortex, wobei eine negative Rückkoppelung zwischen den beiden Bereichen zu einer Beruhigung führt. Ist dieses Kontrollsystem gestört, nimmt das Angstgefühl zu. Entscheidend für die Abläufe in diesem neuronalen System ist die Regulation: Bei gesunden Menschen ist ein hemmendes Netzwerk vorhanden, d. h., die Amygdala aktiviert den präfrontalen Cortex und dieser hemmt die Amygdala. Bei Menschen mit Angststörungen aktiviert zwar die Amygdala auch den präfrontalen Cortex, doch in diesen Fällen verstärkt der präfrontalen Cortex die Amygdala, wodurch sich diese Regionen gegenseitig aufschaukeln. Dieser Aufschaukelungsprozess ist eine neurobiologische Parallele zu den Symptomen des Kontrollverlusts, den Menschen bei Angst erleben: sie wollen zwar die Angst kontrollieren, doch infolge des Kontrollverlusts steigert sich diese aber, wodurch ein Teufelskreis der Angst entsteht.
Soziale Ängste lassen sich sehr gut mit Psychotherapie behandeln, wobei besonders wirksam die kognitive Verhaltenstherapie ist. Das Problem ist häufig, dass Betroffene selten den ersten Schritt hin zu einer Therapie wagen.
Literatur
https://www.online-therapy.ch/sa/de/home.php (10-10-16)
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/eingeschlossen-im-schneckenhaus/1957166.html (10-10-17)